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Surazo: Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien
Surazo: Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien
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eBook318 Seiten3 Stunden

Surazo: Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien

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Über dieses E-Book

Am 12. Mai 1973 wird Monika Ertl in La Paz im Verlauf eines Feuergefechts von Sicherheitskräften auf der Straße erschossen. Sie ist zum Zeitpunkt ihres Todes Mitte dreißig und Mitglied der bolivianischen Guerilla ELN. Ihr Vater, Hans Ertl, erfährt vom Tod seiner Tochter auf seiner Rinderfarm La Dolorida im bolivianischen Regenwald. Dorthin war der Kameramann Leni Riefenstahls und Rommels bevorzugter Frontfotograf in den 1950er-Jahren ausgewandert. In seinem Umfeld: rechtsnationale Diktatoren und SS-Obersturmführer, deutsche Missionare und jüdische Emigranten, Indigene und scheinbare Zauberkünstler, denen es gelingt, bei voller Sicht unsichtbar zu bleiben. Entlang ihrer Spuren folgt diese Recherche den Linien transatlantischer Verlängerungen nationalsozialistischer Karrieren, spürt dem Engagement der nächsten Generation in den internationalen Netzwerken der Achtundsechziger nach und verzweigt sich dabei bis in die Tiroler Alpen und nach Linz. Surazo, der Name des kalten Tropenwindes, sollte der Titel von Hans Ertls letztem Film sein; Surazo, das ist stattdessen eine Tiefenbohrung, die wie nebenbei von Geschichtsschreibung in einer verstrickten Welt erzählt; Surazo, das ist die Suche nach Antworten auf Fragen, die wir uns nach wie vor stellen müssen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. März 2022
ISBN9783751803700
Surazo: Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien

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    Buchvorschau

    Surazo - Karin Harrasser

    VORSPANN

    SCHNELLDURCHLAUF

    Am 12. Mai 1973 wurde Monika Ertl in La Paz im Verlauf eines Feuergefechts von Sicherheitskräften auf der Straße erschossen. Monika war zum Zeitpunkt ihres Todes fünfunddreißig Jahre alt und Mitglied der bolivianischen Guerilla Ejército de Liberación Nacional (ELN, deutsch: Nationale Befreiungsarmee). Obwohl es nie ein Gerichtsverfahren gab, ist man sich ziemlich sicher, dass sie 1971 in Hamburg den bolivianischen Konsularbeamten Roberto Quintanilla Pereira erschossen hat. Die Urne mit der Asche des getöteten Amtsträgers, der sechs Jahre zuvor in Bolivien als Polizeioberst im bolivianischen Innenministerium für den Befehl, Ernesto »Che« Guevara nach seinem Tod die Hände zu amputieren, verantwortlich gewesen war, wurde nach La Paz überführt. Monika Ertl, die Attentäterin, hatte in Hamburg einen Zettel mit der Losung der ELN zurückgelassen: Victoria o muerte!

    Monika Ertls Vater, Hans Ertl, überlebte seine Tochter um sechsundzwanzig Jahre. Er starb 2000 in der Chiquitanía, im östlichen Tiefland Boliviens. Er hatte als Kameramann für Leni Riefenstahl gearbeitet und war Generalfeldmarschall Rommels bevorzugter Frontfotograf gewesen. Der begnadete Bergsteiger und Abenteurer hatte sich in den 1960er-Jahren in den abgelegenen Regenwald zurückgezogen, um dort eine Hazienda mit Rinderzucht zu betreiben. Auch in der Abgelegenheit war er Teil der deutschen Kolonie in Bolivien, zu der einige treue Nationalsozialisten gehörten. Der prominenteste war ein Mann, den die Leute »Don Klaus« nannten, der international aber unter seinem richtigen Namen Klaus Barbie bekannt war. Dessen zweite Karriere im Zwischenraum von Diktatur, Paramilitarismus und Drogenhandel war Anfang der 1970er-Jahre gut in Schwung. Bis in die Achtzigerjahre arbeitete er rechten bolivianischen Diktatoren und Putschisten als Spezialist beim Kampf gegen »kommunistische Aufständische« zu. Als Geheimdienstberater des bolivianischen Diktators Hugo Banzer war Klaus Barbie, der sich in Bolivien Altmann nannte, wesentlich an Monika Ertls Exekution in La Paz beteiligt. Der Sohn des wegen NS-Kriegsverbrechen Gesuchten, Klaus Georg, übernahm wiederum die Ehrenwache bei Roberto Quintanillas Beisetzung.

    Ein wichtiger Schauplatz der folgenden Episoden ist diese abgelegene Region, in der sich vielerlei transatlantische Linien kreuzen: die Provinz Chiquitos im Department Santa Cruz, Bolivien. Trotz ihrer lange Zeit schwierigen Erreichbarkeit war hier im 17. Jahrhundert eines der Hauptmissionsgebiete der Jesuiten, besonders solcher aus dem Donauraum. Später, im 19. Jahrhundert, waren es vor allem Franziskaner, die in der Chiquitanía missionierten, außerdem kamen (wiederum häufig deutsche) Ethnologen mit ihrem Bestreben, die Kultur und das Leben der bedrohten indigenen Gruppen aufzuzeichnen, bevor sie verschwunden sein würden.

    Auch am Kautschukboom im 19. Jahrhundert, der der indigenen Bevölkerung Enteignungen und Unterdrückung brachte, waren zahlreiche deutschstämmige Akteure beteiligt. Großgrundbesitz ist bis heute nicht selten in den Händen deutscher Auswanderer, etwa der Familie Banzer, aus der jener Diktator Hugo Banzer stammte, der in den 1970er-Jahren autoritär regierte und dem Klaus Barbie-Altmann treu diente. Zwischen 2017 und 2020 war eine Wahrheitskommission eingesetzt, die in ihrem vorläufig letzten Bericht 130 erwiesene Fälle von politischem Mord, Folter und Verschwindenlassen dokumentierte. Die meisten dieser Fälle sind der ersten Regierung Banzer (1971–1978) zurechenbar. Es handelt sich bei den Opfern der Diktatur nicht nur um bewaffnete Aufständische und Mitglieder der bolivianischen Guerilla, sondern auch um Oppositionelle, Studierende, Lehrpersonal und linksgerichtete Geistliche. Hugo Banzer, der 1973 den Befehl für die Exekution Monika Ertls gab, war, wie es der Zufall will, Hans Ertls Nachbar in der Chiquitanía.

    Viele Deutsche suchten also im Laufe der Zeit ihr Heil in der Chiquitanía. Hans Ertl wollte auf seiner Hazienda, wie viele vor ihm, »neu anfangen«. Sie war sein privates Paradies, ein Ort, wo er unbehelligt von seiner eigenen Vergangenheit leben konnte. Vielleicht hätte das auch funktioniert, wäre die Vergangenheit nicht in Form von Monika Ertls revolutionären Leidenschaften, die sie Inti Peredo, den Führer der ELN, als Christus besingen ließen, in die Chiquitanía zurückgekehrt.

    Ein zweiter Schauplatz ist Kufstein in Tirol, auch er: Peripherie. Ich bin in der österreichischen Kleinstadt aufgewachsen, die malerisch zwischen dem hoch aufragenden Wilden Kaiser und dem einzeln dastehenden Pendling an der bayrisch-tirolerischen Grenze liegt. Es war eine Kindheit eingebettet in Natur: Wir gingen wandern, klettern, Ski fahren, spielten im Wald und badeten in den Seen, die rund um Kufstein liegen. Einer davon ist der Stimmersee, ein kleiner, künstlicher Stausee etwas außerhalb, an dem sich ein Gasthaus, ein kleines Hotel und eine Badeanlage befinden. Unmittelbar neben dieser charmanten Ferienanlage, die auch von uns »Einheimischen« genutzt wurde, lebte bis 1982 Hans-Ulrich Rudel. Der im Zweiten Weltkrieg höchstdekorierte Sturzflieger war eine Schlüsselfigur im internationalen Netzwerk alter und neuer Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur als Fluchthelfer von beispielsweise Josef Mengele war er viel auf Reisen, sondern er war auch deshalb so viel unterwegs, weil er als Vertreter österreichischer und deutscher Firmen reiste. Seit seiner Zeit in Juan Peróns Argentinien in den 1950er-Jahren, als er dort die Luftwaffe beriet, vertrat er Firmen wie Siemens oder Steyr-Daimler-Puch und sorgte so dafür, dass zuverlässig Waffen an die Diktatoren Augusto Pinochet (Chile), Alfredo Stroessner (Paraguay) oder Hugo Banzer (Bolivien) geliefert wurden. Die österreichischen Grünen lancierten in den frühen 1980er-Jahren eine parlamentarische Anfrage, wie es denn sein könne, dass Steyr Kürassier-Panzer beim Kokain-Putsch von Luis García Meza in Bolivien zum Einsatz gekommen waren. Die Antwort: Weil Rudel sie vermittelte.

    Und dann ist da noch Ute Messner (geb. Barbie), die Tochter von Klaus Barbie-Altmann, die in der Nachbarschaft der zweiten Frau meines Vaters in Kufstein-Eichelwang lebte und die über Hans-Ulrich Rudel nach Kufstein gekommen war. Warum, of all places, Kufstein? Vielleicht ist es ein Zufall, dass sich gerade hier, im Wald hinter dem Stimmersee, die transatlantischen Linien erneut treffen. Vielleicht hat es auch mit Kufsteins Lage als Grenzort und Verkehrsknotenpunkt zu tun, die es zu einem strategischen Punkt für die Nazifluchthelfer machte; oder damit, dass Zoll, Grenzpolizei und eine Kaserne ein gutes Milieu für nationale und konservative Parteien bildeten. Sicher ist, dass Kufstein nicht nur während der NS-Zeit deutlich weiter rechts orientiert war als die meisten umliegenden Ortschaften, sondern auch in den Nachkriegsjahren.

    Es mag sein, dass durch die Konzentration auf nur wenige Personen und Orte die Geschichte, die ich erzählen werde, durch ihre Unwucht den vertrauten Rahmen der Historie verunsichert. Aber so ist Geschichte, insbesondere wenn sie koloniale Verhältnisse und den Nationalsozialismus miteinschließt. Sie rundet sich nicht, sie soll sich nicht runden. Recherchen öffnen manchmal seltsame Wege. Eigentlich wollte ich die kulturelle Kolonisierung durch die jesuitische Mission in Bolivien erforschen. Die andere Spur kam unverhofft.

    EINE GESCHICHTE ÜBER DEN WIND

    Une histoire de vent (Eine Geschichte über den Wind), der letzte Film von Joris Ivens, wurde 1988 veröffentlicht. Im Jahr darauf starb der Filmemacher, der noch im 19. Jahrhundert geboren worden war und der in den 1920er-Jahren zwei ganze Jahre damit verbracht hatte, einen zwölfminütigen Film über den Regen zu machen. Joris Ivens war Teil des sozialistischen Projekts des 20. Jahrhunderts: Von Borinage (1934), dem Film über die schwierigen Lebensverhältnisse und Proteste in einer belgischen Bergarbeitersiedlung, über die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg bis hin zum gemeinsamen Filmprojekt mit Chris Marker, Agnès Varda und anderen Avantgardisten (Loin du Vietnam, Fern von Vietnam, 1967) sind Ivens’ politische Überzeugungen eingebettet in seine Filmarbeit.

    Eine Geschichte über den Wind widmet sich einer Suche, die fast ein Jahrhundert lang dauert. Der Film erzählt über den Wunsch nach Bildern für das Ungreifbare, das Veränderliche, das Prinzip der Geschichte, die Möglichkeit des sozialistischen Wandels: Bilder für den Wind. Schon die Eingangsbilder präsentieren das side-by-side-Prinzip, das Siegfried Kracauer als spezifische Erkenntnishaltung von Film und Geschichtsschreibung herausgearbeitet hat: ein Seite-an-Seite von Persönlichem und Kollektivem, Subjektivem und Objektivem, Bewusstem und Unbewusstem, Rationalem und Irrationalem, Fakt und Fiktion, dem Kleinen und dem Großen. Wir sehen, nein wir hören zuerst flappende Windradflügel. Die Flügel schneiden in das Bild, sie machen Lärm, den Lärm historischer Großereignisse. Dann: Eine Wäscheleine, auf der Frischgewaschenes flattert, Alltag, unauffälliges Wehen. Dann: Ein Junge in einem selbstgebauten Spielzeugflugzeug. Es wird noch abheben, obwohl das Flugzeug nicht fliegen kann. Im restlichen Film durchstreift Joris Ivens, der ein sehr alter Mann geworden ist, zumeist im Rollstuhl oder getragen, die politischen Landschaften des 20. Jahrhunderts. Der Film wird zu einer Revue. Die Form wird akzentuiert durch den Nachbau des Schwarz-Weiß-Szenarios von Méliès’ Animationsfilm Le voyage dans la lune (Die Reise zum Mond, 1902), allerdings im Stil der chinesischen Oper. Am Schluss steht ein leerer Sessel in der Wüste. Ivens ist weggegangen, der Wind weht weiter.

    Eine Geschichte über den Wind ist die Geschichte des grenzüberschreitenden Charakters der Idee des Sozialismus, der fantastischen Idee einer Welt mit mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, einer Idee, die freilich in ihrem Bestreben nach einer Welt ohne Zurichtung ihrerseits gewalttätig wurde. Der Toten eingedenk dieser grenzüberschreitenden und gestaltwandlerischen Idee die Treue zu halten, ist der Einsatz von Joris Ivens. Ein Jahr nach seinem Tod, 1990, wurde ein Lied über den Wind zur Hymne des Falls der Berliner Mauer. Wind of Change der Scorpions war auf allen Radiokanälen zu hören. Es war eine Wende zu neuen Freiheiten für die Menschen, die im Ostblock lebten. Dieser Wind des Wandels bescherte aber auch den zwischenzeitlichen Triumph jener ökonomischen und politischen Ordnung, gegen die Menschen wie Monika Ertl gekämpft haben. Surazo, ein kalter Winter aus dem Süden, sollte der Name von Hans Ertls letztem, dem verlorenen Film sein. Und Südwind heißt das entwicklungspolitische Magazin, das meine Eltern als ehemalige »Entwicklungshelfer« bezogen haben, um mit den österreichischen Ehemaligen in Kontakt zu bleiben. Ich muss eine weitere Geschichte über den Wind schreiben.

    NAHAUFNAHMEN

    CONCEPCIÓN, CHIQUITANÍA, BOLIVIEN (2018)

    Der Regen versetzt uns in einen rauschähnlichen Zustand. Tropenregen, der als dicker Vorhang den überdachten Teil des Patios abtrennt. Aman schaukelt in der Hängematte, ich sitze in einem zu großen Sessel und versuche, Christian zu erreichen. Wir sind für morgen verabredet. Vom Sohn des Architekten, der in der Chiquitanía ab den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Jesuitenmissionen wiederaufgebaut hat, möchte ich mehr über Motive und Kontexte der Revitalisierung des jesuitischen Erbes hier erfahren. Hier, das ist Concepción de Chiquitos während eines Festivals für Alte Musik, das alle zwei Jahre in den ehemaligen Missionskirchen stattfindet und in erster Linie ein weißes Publikum anzieht. Hier, das ist der Innenhof des kleinen Hotels. Hier, das ist die Reisegruppe, in die ich mich quasi inkognito eingeschlichen habe. Niemand kennt meine Forschungsinteressen, niemand weiß, dass mein Unternehmen darin besteht, den neokolonialen Charakter des Festivals zu dokumentieren. Die beiden Mitreisenden aus Salta in Argentinien, ein junger Architekt und seine sicher achtzigjährige, immer perfekt gekleidete und frisierte Mutter – sie kennen meine Interessen nicht. Die pensionierte Ärztin aus London, die schon einmal hier war und auf der Suche nach den subtilsten ästhetischen Kontrasten ist, ebenfalls nicht. Unsere lustige und äußerst engagierte Reiseführerin aus Santa Cruz, die uns davon erzählt, wie sie sich in einer Frauengruppe gegen die Veränderung der Wahlordnung, die eine Wiederwahl von Evo Morales erlaubt hätte, engagiert hat, ist ebenso ahnungslos wie Aman, der eigentlich mit seinem indischen Onkel zum Festival anreisen wollte und nun ohne ihn etwas verloren wirkt. Aman, mit dem ich über Science-Fiction, Ökofeminismus und Kolonialismus diskutiere und mit dem ich anfange, ein Kinderbuch herbeizufantasieren. Es soll ein Buch sein, das die Farben der Chiquitanía hat – erdrot, grün, blau – und den Titel trägt: Was der Tukan alles nicht essen kann. Die Dysfunktionalität des Schnabels des Tukans bringt uns auf immer neue Ideen: Nüsse, Fleisch, Insekten, das geht alles nicht. Wir haben uns schnell zusammengefunden, sitzen bei den Konzerten nebeneinander, tuscheln und witzeln wie Zwölfjährige auf Klassenfahrt. Aman hat Physik studiert und ist Programmierer. Er möchte aber nicht mehr für die Silicon-Valley-Firmen arbeiten, sondern entwickelt digitale Nachhaltigkeitsstrategien für NGOs. Seine Herkunft – seine Eltern sind aus Indien in die USA gekommen – beschäftigt ihn, gerade auch im Kontrast zu dem, was wir in Bolivien erleben. Und so lernt die Reisegruppe bei den gemeinsamen Abendessen die Zutaten nicht nur auf Spanisch, Englisch und Deutsch zu benennen, sondern auch auf Hindi.

    Es regnet also. Aman träumt in der Hängematte von Schildkröten. Ich warte auf Christians Nachricht. Hier, das ist auch der Ort, an dem in den 1970er-Jahren zwei deutsche Ethnologen gearbeitet haben: Jürgen Riester und Bernd Fischermann. Beide sind nach ihren Dissertationen aus der rein akademischen Ethnologie aus- und in den Kampf um Landrechte der Indigenen eingestiegen. Ich durchstöbere das Archiv der Organisation APCOB (Apoyo Para el Campesino-Indígena del Oriente Boliviano) auf Youtube. Jürgen Riester hat in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der Chiquitanía viele Videos gedreht. Es ging um die Dokumentation der Lebensweise der indigenen Gruppen aus dem bolivianischen Tiefland und um ihren Kampf um kulturelle und ökonomische Selbstbestimmung. Etwas abwesend überfliege ich die Miniaturen im APCOB-Kanal und mein Blick bleibt an einem weißhaarigen Kopf, an einem weißbärtigen Gesicht hängen. Ein Alm-Öhi schaut mich an. Der Titel des Videos ist Hans Ertel parte 3. Ich assoziiere vage etwas mit dem Namen und rufe den Film auf. Die Internetverbindung ist zu schwach. Auch der Regen wird schwächer. Aman ist aufgewacht und schaukelt nun. Die Reiseführerin verteilt die Tickets für das heutige Konzert, ein polnischer Chor, der in der Jesuitenkirche von Concepción auftritt. Christian hat sich gemeldet, ob ich ihn gleich morgen früh um sieben auf der plaza treffen kann. Ich kann natürlich. Dann kommt das Treffen auch nicht dem durchorganisierten Programm der Reisegruppe ins Gehege. Ich bin neugierig, was er mir als kindlicher Zeitzeuge über die abenteuerliche Wiederentdeckung des jesuitischen Erbes in den 1970er-Jahren erzählen kann. Die verdeckten Ermittlungen machen mir Spaß, nur langsam wird es kompliziert mit Aman. Wir verstehen uns zu gut und es fällt mir schwer, ihn nicht einzuweihen, mit ihm die Dinge zu besprechen, die mich beschäftigen, zumal wir immer wieder über die kulturelle Kolonisierung Indiens im Verhältnis zu derjenigen Südamerikas diskutieren. Es wäre nur ein kleiner Schritt zur longue durée der kulturellen Kolonisierung durch die jesuitische Mission, in deren Resonanzraum wir mit jedem Konzert in einer der Kirchen eintauchen.

    WOHER DER WIND WEHT

    – Welcher Wind wärst du, wenn du ein Wind wärst?

    – Nicht der Scirocco, der ruiniert die Weinpflanzen. Du bist jedenfalls ein Saharawind: ein trockener, warmer, gleichmäßig wehender Wind.

    – Und du? Ein Föhn?

    – Vielleicht, der Föhn kriegt ja selbst nicht Kopfweh von sich. Lieber Zephyros, ein milder Westwind, der vom Berg kommt.

    – Nur weil du Tirolerin bist?

    – Zumindest beanspruche ich nicht, ein ganzes Windsystem zu sein, kein Passat. Nur ein kleiner Westwind.

    EIN ROBINSON

    (Regie: Arnold Fanck, Kamera: Hans Ertl, 1940)

    Finanziert von Goebbels’ Ministerium reiste Hans Ertl Ende der 1930er-Jahre für die Dreharbeiten zum Spielfilm Ein Robinson als Teil der Filmcrew von Arnold Fanck zum ersten Mal nach Südamerika. An der chilenischen Pazifikküste sollte der vom Reichsministerium beauftragte Streifen gedreht werden, der das Schicksal des deutschen Matrosen Hugo Weber, im Film: Obermatrose Carl Ohlsen, zum Inhalt hat, der sich in den Wirren der Nachkriegsjahre des Ersten Weltkriegs auf die Juan-Fernández-Inseln vor Chile verirrt – jene Inselgruppe, auf der einst auch der reale Robinson Crusoe, Alexander Selkirk, gestrandet war.

    Die Ereignisse, die die Vorlage des Filmprojekts bildeten, lagen in der nicht allzu fernen Vergangenheit: Die Insel war die unfreiwillige Zuflucht deutscher Seeleute geworden, nachdem das deutsche Ostasiengeschwader von den Briten bei den Falklandinseln im Südatlantik vernichtend geschlagen worden war. Einem Schiff, der Dresden, gelang es, sich in sichere, da neutrale, chilenische Gewässer zu retten, akkurat vor der Robinson-Crusoe-Insel kam es zum Showdown: Die Briten missachteten die Neutralität Chiles und griffen an, der Kapitän der Dresden verordnete die Versenkung seines Schiffes. Die Besatzung wurde von chilenischer Seite auf Juan Fernandéz interniert. Fanck griff einige Momente dieser historischen Ereignisse auf und strickte daraus eine deutsche Schicksals-Robinsonade.

    Von Ertl stammen die spektakulären Naturaufnahmen von kalbenden Gletschern, scharfkantigem Zackeneis und hoch aufragenden Berggipfeln, aber auch die idyllischen Aufnahmen von der Robinson-Insel Juan Fernández. Die Motive finden sich in ihrer Polarisierung von oben und unten, kalt und heiß später in Ertls Fotoband Arriba Abajo (Mal oben mal unten, 1958) wieder. Auch Ertls Farm in der Chiquitanía kann man in diesem Film erstmals besichtigen. Der »deutsche Robinson«, gespielt von Herbert A. E. Böhme, schafft im Film durch harte Arbeit und Willenskraft sein künstliches Paradies. Wie Ertl später, rodet er eine Lichtung, auf der er sein Haus errichtet.

    Der Matrose, der über die unpatriotischen, revolutionären Ambitionen seiner Berufsgenossen nach dem Ersten Weltkrieg entsetzt ist, hat sich – so die Filmhandlung – ins Exil auf die Robinson-Insel begeben. Er züchtet Haustiere und Nutzpflanzen, strotzt vor Tatkraft, ist aber ein wenig einsam. Hugo Weber, das historische Vorbild für Ohlsen, hatte mit einer Annonce in deutschen Zeitungen eine Ehefrau gesucht, die dann in der Tat samt Dackel und Pfarrer auf Juan Fernández eingetroffen war und damit den Grundstock für die erfolgreichste chilenische Dackelzucht der damaligen Zeit legte. So erzählt es jedenfalls Ertl in seiner Autobiografie Meine wilden dreißiger Jahre (1982). Der Film-Ohlsen hingegen vereinsamt trotz tierischer Gesellschaft. Sein schmusendes Lama und sein plappernder Papagei sind irgendwann nicht mehr genug. Aus dem Radio erfährt er, dass seine ehemaligen Kameraden ihn suchen. Er verpasst aber die Neue Dresden, als sie an der Insel anlegt, und ist deshalb gezwungen, dem imposanten Kriegsschiff auf einer kleinen Jolle hinterherzusegeln und die Feuerlandgletscher zu Fuß zu überqueren, um sie einzuholen. Der Film endet mit Ohlsens Wiedereingliederung in die Schiffsmannschaft der selbstverständlich inzwischen unter nationalsozialistischer Flagge fahrenden Neuen Dresden, nicht ohne dass er davor seinem träumerischen Einzelgängertum und seiner egoistischen Selbstversorgerexistenz zugunsten des nationalen Kollektivs abgeschworen hätte.

    Eine Blaupause für Hans Ertls spätere Urwaldexistenz: Nicht nur ähnelt seine Farm La Dolorida visuell der Robinson-Farm. In Interviews inszeniert sich Ertl als durch das Radio mit der Heimat verbundener politisch Vertriebener, als von der Bonner Republik Enttäuschter; als einer, der unter den gegebenen Umständen nicht anders kann, als sich zurückzuziehen. Subtext: Ich bin ein aufrechter Patriot, aber Deutschland hat meine Dienste zurückgewiesen. Nichts hätte er sich wahrscheinlich mehr gewünscht, als dass eine Neue Dresden an La Dolorida angelegt und ihn heimgeholt hätte. Vielleicht auch nicht, vielleicht waren seine Ambitionen auch eher denen des realen und nicht des Film-Carl-Ohlsen ähnlich.

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