Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!
Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!
Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!
eBook390 Seiten5 Stunden

Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Fußball-Roman - Über die komplizierte Psyche eines gereiften Fußball-Helden und intime Einblicke in das Millionengeschäft - teils witzig und teils spannend.
-
- Deutschland nach dem Ende des "Sommermärchens": Henrik Ulrich, von allen liebevoll "Professor" genannt, ist Fußballprofi bei einem Bundesligaverein und hat mit 29 Jahren den Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Merkwürdigerweise nutzt der Nationalspieler und Ferrari-Fahrer für die Reise aus seinem spanischen Urlaubsdomizil zurück nach Berlin ab München die Deutsche Bahn, um auf dem Weg über Ulm seine ehemaligen Vereine in Stuttgart, Frankfurt und Köln zu besuchen.
-
- Was will der Protagonist bei der Konkurrenz?
-
- Als er nachts in Berlin ankommt, liegt ihm ein gigantisches 12-Millionen-Angebot vor. Nachdem er mit Prominenten vom Fach in einer mehr als absurden Fernseh-Talkshow über die Gründe des Fußballfiebers diskutiert hat, entschließt sich Ulrich "schweren Herzens", seinen wohl größten und letzten Vertrag zu unterschreiben - zum Entsetzen seines Trainers. Doch dann geschieht etwas für ihn völlig Unerwartetes...
-
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum5. Dez. 2014
ISBN9783869922287
Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!

Mehr von Ulrich Müller lesen

Ähnlich wie Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke!

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke! - Ulrich Müller

    Ulrich Müller

    Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke

    Roman einer Passion

    „Der Fußballheld ist ein gemischter Charakter, zusammengesetzt aus dem Hohen und dem Niedrigen, ein zweideutiger Held, eine Kippfigur."

    Gunter Gebauer (Philosoph)

    Ich habe nie die Verzweiflung verloren oder mich aufgegeben."

    Thomas Brdaric (Fußballprofi)

    „Doch stets gilt, dass der Weg das Ziel ist, weil nach dem Spiel schon vor dem Spiel ist."

    Robert Gernhardt (Schriftsteller)

    Ulrich Müller

    Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke

    Roman einer Passion

    Die Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten zwischen Personen dieses Romans und lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

    Für den Inhalt ist der Autor verantwortlich.

    Sollten Rechte dritter verletzt sein, bitten wir die Betroffenen, Autor und Verlag zu informieren.

    Inhaltsverzeichnis

    „Doch stets gilt, dass der Weg das Ziel ist, weil nach dem Spiel schon vor dem Spiel ist."

    Stirb nicht in der Schlacht auf Schalke

    Roman einer Passion

    Am Anfang war der Fußball

    Am Anfang war der Fußball

    1.

    Der Rasen der Arena sieht aus wie Holzwolle auf einer Opernbühne, aber wir Berliner merken es nicht: Ängstlich rücken unsere Abwehrreihen auf dem Pappboden zusammen, schützen das Tor mit tiefen Grätschen gegen den müden Millionensturm der Münchener, kriechen bestürzt durch das Luftkissenboot auf den Feldern von Fröttmaning, in dem uns als Rennpferde auftretende Jahrmarktponys in vorgebeugter Wildentenflughaltung heimlich auf dem Trainingsplatz einstudierte Ballstafetten aufdrängen, und stranden schließlich am späten Nachmittag in einem der aus dem Boden gestampften Fernsehstudios, wo uns in unsichtbaren Gläsern künstliche Getränke serviert werden, die auf der Zunge den faden Geschmack von Sektschorle hinterlassen, wie sie Filmschauspieler in ihren Drehpausen schlürfen. Hinter dem in der sterilen Einrichtung wie ein Papagei im Zoogehege sich gebärdenden Moderator geben mir die Scheinwerfer, die so aussehen, als hätten gewitzte Bengel einer Kindertagesstätte sie aus Plastikbausteinen zusammengesetzt, und die Torstangen, die mit der sanft fortschreitenden Nachmittagsdämmerung unmerklich verschmelzen, das Gefühl, eine dieser Spielzeugfiguren auf Weihnachtsmärkten zu sein, ein verirrter Besucher einer Welt aus Nussknackern und in Edelmarzipan gehüllten Mausekönigen, die Helden und Kaiser nachahmen, in einem als UFO gebauten Fußballstadion, das aus der Ferne einem riesigen Autoreifen ähnelt, der mal rot, mal blau leuchtet.

    Ich war einmal mit Diana in Barcelona gewesen und hatte größte Mühe gehabt, aus dem Mannschaftshotel herauszukommen, derart irritiert war ich über diesen mystischen Starkult gewesen, den die Spanier bibelernst zu nehmen schienen, während sie sich in der milchigen Sonne der Stadionscheinwerfer, die ein kaltes Zahnarzt-Licht aussandten, mit den Vereinsfarben einschmierten. Von einer Religiosität, die mich abstieß, ans Zimmer gefesselt, schaffte ich es gerade noch, in ein Badehandtuch eingewickelt, das die Risswunden an Knie und Oberschenkel der Besichtigung preisgab, den Balkon zu betreten, um der frenetisch feiernden Fan-Gemeinde dort unten den Kämpfertyp vorzuführen, den sie in einem Gewimmel von Fahnen und Schals mit gepfefferten Spruchsalven als Fußballgott feierte. Nachts hielt mich der Gedanke an den Giganten Nou Camp, an das in Stierkampfatmosphäre gebettete Trommelfeuer der Barca-Anhänger unter meiner Schädeldecke, von der Liebe ab, die ich eigentlich mit Diana machen wollte, die bereits an den Weichteilen meiner Unterwelt arbeitete, während ich dieselben gerade mit Bratpfannenhänden gegen Freistoßbomben der Einheimischen zu schützen wähnte.

    Jahre später landete ich mit dem Mannschaftsflieger in Madrid und verspürte genau in dem Augenblick, da wir die Flughafenhalle von Barajas betraten, den unerklärlichen, aber starken Wunsch, dich in einer Traube schwarzhaariger Madrileninnen ausmachen zu können, die verführerisch und stolz wie Venusstatuen dastanden, in deren prallen Arschbacken die unbefriedigte Geilheit hauste. Ich sah mich auf eine Bank zusteuern und den Platz zwischen dem Handyfetischismus unseres Managers, seiner Kommunikationswut, und dem Speichelsaft zweier zungen- und zahnspangenverzahnter Langzeitküsser, für die Ankommen und Abfliegen eins waren, zu besetzen und solange anzuwärmen, bis ich dich auf der anderen Seite des Gepäcklaufbandes sähe, einen Anna-Schal um das Apfelrund deiner Hüften geschwungen, das Haar zu einem Pferdeschwanz geflochten, auf mich zufliegend wie die Fee aus der Fernseh-Reklame, die ihren Namen dem Lewis-Carroll-Land entlehnt hat.

    Die triste Anonymität des Hotels erzeugte in mir das erregende Gefühl sexueller Unabhängigkeit. Die roten Teppiche der kilometerlangen Schachtelflure ließen mich von Traumgirls fantasieren, die in einer Endlosschleife an mir vorbeidefilierten und ihr Armani-Night-Parfüm auf einen Wink hin in mein Zimmer trugen. Dort, wünschte ich mir, ließen sie sich bereitwillig ihre Teeny-Tank-Tops und Känguru-Cocktailkleider ausziehen, bevor ich sie in der Pfirsichwanne mit Champagner aufgeilen, schussendlich mit einer Granate von Penis in Ekstase versetzen könnte. Die Hoteldiener bedienten mich wie Angestellte eines Luxusbordells, abwechselnd mit Rehfilets und den neuesten Fußball-Nachrichten, Austern und Musikvideos. Während ich über das Teppichrot zu meinem Zimmer schritt, fühlte ich mich wie ein Diktator, dem es ebenso leicht war, mit einer Schweizerin zu vögeln wie eine Villa in der Toskana zu besitzen. Doch nachdem ich die Zimmertür hinter mir geschlossen, mein Jackett mit aufgenähtem Vereinsabzeichen über die Stuhllehne bugsiert, meinen Körper aufs Bett geworfen hatte, sah ich mich in einem Meisterschaftsspiel über den rechten Flügel vorpreschend von einem dieser Mähdrescher, wahrscheinlich einem Gelsenkirchener, oder war es ein Bochumer, scheiß drauf, von einem dieser besonders gefährlichen, gefürchteten blau-weißen Abwehrrecken durch eine Blutgrätsche zu Boden gestreckt, einen Unterschenkelhalsbruch erleidend, für ein halbes Jahr außer Gefecht gesetzt.

    Gegen Abend bestrichst du meine Wunden mit Salbe, wie Raupen das herbstliche Blattwerk mit Speichel benetzen, ein silbriger Glibber, der in diversen Fasern stromlinienförmig über den Oberschenkel spurt, kreuz und quer gezogen bis zu den Hodensäckchen mit ihrem Haarwildwuchs. Der Holzwollrasen verfärbte sich mit der hereinbrechenden Mondnacht in ein Gespenster-Graugelb, das dem geschmacklosen Stadionbau die angsterfüllte Atmosphäre der Wolfsschluchtszene in Webers Freischütz verlieh. Eine letzte Gruppe eingefleischter Fans verließ unter Schlachtrufen, Polyesterfahnen und Billigalkohol die Tribüne, Augen und Hände zum Himmel gerichtet, innerlich aufgeräumt und mit sich im Reinen wie Gemeindemitglieder beim Erntedankfest. Die Flutlichtlampen entblößten Plastikmüllkonglomerate, welche die Leere der Zuschauerränge einem verlassenen Kriegsschauplatz anglich. Es gelang dir immer weniger, meine Blessuren zu verorten bei dem Schummerlicht, das mit Bier- und Schweißausdünstungen vermischt zum Fenster hereinströmte, uns umnebelte, dich nötigte, mich zu ertasten, als ob du nach der Nachttischlampe suchtest und sie nur deshalb nicht fandest, um deine zitternden Mikado-Glieder an die meinigen schmiegen zu können.

    Ich verließ den Flughafen von Barajas auf dem Weg ins Madrilenische Zentrum, Madrid, diese Königsstadt aus Palastfenstern und Pagodenparks, in der Baedeker-Touristen mit dem Baedeker-Überdruss Bildungsbeflissener Baedeker-Urlaub vor Weltgemälden machten, die Purpurmantelkrägen glichen und sich, gefiltert durch die Strahlen der honiggelben Märzsonne, im Vereinsblau der Springbrunnen spiegelten. Ich hatte mich in diesen Zuckergussbauten noch nie gelangweilt, zumal in ihnen die Lamellen der Jalousien ein Vermeer-Licht erzeugten, das sich sowohl auf das Bettlakengrau abfärbte als auch mit dem Terrakotta der Fußbodenfließen vermischte, außerdem immer Abenteuerlust verspürt bei der Suche nach Rotweinen, die schwerer waren als die Brüste der Frauen auf spanischen Renaissancegemälden, nach Fischgerichten, die auf der Zunge den paradoxen Doppelgeschmack von fauler Frische und frischer Fäulnis hinterließen. Auf den Tag, dessen Badewannenwärme die Menschen auf die geschichtsträchtigen Plätze trieb und Espresso trinken ließ, folgte eine Nacht, deren Eskimokälte an Torwartängste bei spielentscheidenden Elfmetern erinnerte. Auf dem Frühstückstisch lagen ungelesen übereinander gelegt zwei Morgenzeitungen und warfen die Schatten ihrer fetten Schlagzeilen über gedrechselte Honigcroissants, lackierte Kaffeetassen, andalusische Erdbeeren, ohne mit der Wimper ihrer unbeirrten Ergebnissucht zu zucken, auf abgezählte Gewinne und Verluste zeigend. Ich war schon öfter in der Lautlosigkeit einer dieser stummen Stadtvillen erwacht und hatte, staunend an die Decke blickend, deren Stuckelemente sich aus dem Morgengrauen herauszuschälen begannen, nicht glauben können, jemals zwischen Engelschören und Höllengesängen Fußball gespielt zu haben, so weit war ich in diesen Augenblicken von jeglichen Sportspektakeln entfernt, Autogrammjägern, Mannschafts-einheizern, Pressesprechern.

    Unmittelbar danach hatte ich die Einsamkeit aufgesucht, um den Frühlingswind einzusaugen wie das Aroma der nahen Geliebten, war in den Atem des lauen Südost getaucht, der die Haut so zart vibrieren ließ wie sonst nur Schubert-Lieder im Kammermusiksaal, berauscht vom Anblick überbordender Ginsterfluren, beruhigt wiederum durch leises Insekten-gesurre. Ich befinde mich unmittelbar vor einem Felsgestein, unter dem Wildhyazinthen hervorblühen, im zentralen Gebirge der Sierra de Gredos, zwischen Puerto del Pico und dem Tal von Bohoyo, wohin ich geflohen bin, um mich mit Höhenluft aufzutanken und hernach wieder verzehren zu können im Kampf um Bananenflanken, Präsidentenprämien und Millionenverträge. Ich bin aus der deutschen Metropole ins spanische Hochland, auf den Gutshof meines Schwagers geflohen, schaue in die Ebene und stelle mir dabei vor, ich sähe die Paläste der fußballköniglichen Stadt mit den alles überragenden Betonpfeilern des Bernabeu-Stadions im Zentrum statt an der zwölfspurigen Ausfallstraße nach Norden und könnte das ferne Meer in einem undurchschaubar geheimnisvollen Rhythmus dazu rauschen hören. Wenn ich nachts aufwache, drohen, wie immer, die fanatischen unter den fantastischen Anhängern von Anna BSC damit, beim geringsten Fehler, und einen Abspielfehler, Milan, macht doch jeder mal, ein so genannter Fehlpass ist in keinem Spiel zu vermeiden, Pfeifkonzerte gegen das Trommelfell ihrer Ballhelden zu veranstalten, unsere Nervenstränge zu strapazieren, und im selben Augenblick beginnen sie bereits, durch penetrantes Skandieren Kampfsprüche unter meiner Schädeldecke zu zementieren, immer und immer wieder einzuhämmern, bis ich sie schließlich nicht mehr loswerden kann, dazu ganze Kanonaden von Fäkalgesängen, die vor der deutschen Wiedervereinigung, zumindest in Berlin, noch an Eingeborenentänze mit Menschenopfern erinnerten, während die Stimmen der Gemarterten in Picassos Guernica der Sofia Reina entfliehen, um sich über sämtliche Straßen und Plätze der gigantischen Stadt auszubreiten.

    So sah ich Pablo Vandale, den katalanischen Dribbelkünstler, der das Idol meines Vaters gewesen war, den raketenschnellen Rechtsaußen Sergio Ademayor, dem ich, aus was für abgelegenen Gründen auch immer, die Picasso’sche Friedenstaube auf seinen Glatzkopf setzte, der dadurch selbstredend viel weniger furchteinflößend wirkte, als ich ihn aus diversen Champions League-Spielen in Erinnerung hatte, der auf einmal Salvador Dali Modell saß, statt Freistöße in den Barca-Dreiangel zu zirkeln, Pablo Vandale, der erstaunlicherweise an einem Roman mit dem Titel Klub der Herzen arbeitete statt an der Verwirrung einer englischen Innenverteidigung und, wann immer er gefragt wurde, ob er keine Familie habe, antwortete: Dummkopf, der Verein ist meine Familie!

    Ich sah die Verrückten unter den eigentlich fantastischen Fans von Anna, den vierfachen Familienvater, der vorm Stadiontor urplötzlich einen Totschläger aus dem Innenfutter seiner Lederjacke zaubert und mit der Selbstverständlichkeit eines Zirkusclowns in einen Regenschirm verwandelt, den im blau-weißen Wellensittichkostüm auftretenden Achtklässler, der in impulsiven Hasstiraden gegnerische Spieler als Ruhrpottkanacken, Hurensöhne, Motherficker, Pimmelkröten tituliert, die beiden volltrunkenen Krankenschwestern, welche die Warzen ihrer entblößten Brüste mit Fotos von „Zecke" Altenstedt und Andi Schulz beklebt haben, den Schulrat aus Brandenburg, der, mit Kaschmirmantel und blau-weißer Fliege geschmückt, eher einem abgehalfterten Showmaster als einem Stadionbesucher gleicht, Annas Heimspiele regelmäßig mit Auswärts-Sauftouren in Charlottenburg und Beutezügen durch das Rotlichtmilieu am „Stutti" (Stuttgarter Platz) verbindet, streng abwechselnd, einmal das eine vorher und das andere hinterher, das andere Mal das andere vorher und das eine hinterher, in der Mitte immer dasselbe, oder den Lehrling aus Kreuzberg, der einen selbst gebastelten Sarg mit sich herumschleppt, eingepackt in die Vereinsfarben des jeweiligen Gastvereins, zusammen mit seinen Kumpels Moritaten- und Begräbnislieder für des Gegners Leichenzug intonierend, scheinbar darum bemüht, aus dem prallvollen U-Bahn-Waggon eine durch Erschütterungen steppende Lärmgondel zu machen, die vom Stampfen und Wippen der Beerdigungsgäste im Rhythmus von D-Day-Rappern jedes Mal aus den Gleisen zu springen und an den Betonkanten des nächsten Bahnhofs, erst Kaiserdamm, dann Theodor-Heuss-Platz, dann Neu-Westend, zu zerschellen droht, gerade so, als ob die feierlich Eingesargten plötzlich den Aufstand proben und an den Totengräbern furchtbare Rache nehmen könnten, indem sie ihre Feinde durch Auswärtssiegparolen demoralisieren, niederbrüllen, bewusstlos machen, mit roten, gelben, grünen, schwarzen Vereinstüchern, Anhängerschals, Spruchtransparenten, Schwenkfahnen brutal ersticken, zusammen mit dem blau-weißen Vereinsmüll in rot-schwarze Plastiksärge legen, mit gelb-braunem U-Bahn-Müll zudecken und auf ewige Zeiten in der Unterwelt einbunkern.

    Ich ging am Vereinsheim vorbei, neben dem Trainingsplatz und der Allee mit den hoch aufgeschossenen Pappeln, deren Buschkronen langsam hin und her wogten wie am Expander trainierende Unterarme, wuchtig und erhaben vor den Schafswolken des märkischen Himmels, und ich erinnerte mich an den Frührentner auf der Parkbank des Charlottenburger Schlosses, der, eingerahmt von abgewetzten Krückstöcken, ein Buch über Chiromantie las, ein intelligent aussehender Mann mit Anzug und Brille, der unbeeinflusst von der Verwunderung und dem Gespött der Menge Bücher über Chiromantie studierte, der gerade wegen des von ihm bemerkten Gelächters der Leute und inmitten ihrer Verachtung beschlossen hatte, Experte für Chiromantie zu werden, um auf seine alten Tage, denn er war in seinem bürgerlichen Beruf ein leitender Bankkaufmann gewesen, die verschiedenen Arten des menschlichen Aberglaubens besser zu verstehen und, wie er glaubte, in ihren Auswirkungen auf das alltägliche Denken und Handeln der Menschen gründlich durchleuchten zu können.

    Und während ich mit meinem Sportwagen durch die nächtlichen Straßen des Bezirks Westend steuerte, im Hintergrund das hell erleuchtete Olympiastadion, dachte ich daran, wie ein schwarzhaariges Jüngelchen, die miteinander verknoteten Fußballschuhe über die rechte Schulter gehängt, sein Trikotbündel in einer Faust haltend, völlig unerwartet hinter meinem parkenden Ferrari aufgetaucht war, aus mehr als zwei Zahnlücken serbische oder, ich wusste nicht so genau, serbokroatische Brocken ausstieß, auf die ich mir keinerlei Reim machen konnte, bis ich den Bollerwagen mit dem darin sitzenden behinderten Mädchen entdeckte, offenbar die jüngere Schwester des Kleinen, die dieser mit einer Hand hinter sich her zog, so als würde ein Obdachloser seinen einzigen Besitz durch die ganze Stadt karren, da übermannte mich das Mitleid mit dem fußballverrückten Kerlchen, das seine Leidenschaft auch gegen das Familienelend behauptete. In meiner spontanen Rührung schenkte ich dem Jüngelchen die Papierlappen aus meiner Geldbörse und dachte zum ersten Mal daran, nach der Profilaufbahn die Rätselseelen der Kinder zu studieren, sie in ihren Wachträumen aufzusuchen, mit ihren unausgesprochenen Hoffnungsbildern und Versagensängsten zu leben, ihre Playmobilsprachen und ihre Hasshirnhälften zu verstehen. Lieber Kinderpsychologe werden als Gelehrter des Aberglaubens, sagte ich mir, lieber Musiktherapeut als Vereinsmanager.

    Und da waren sie wieder, die groben Anna-Chaoten, Krawallmacher aus Hoyerswerda, die ihr Geschlechtsteil mit eingraviertem Vereinsemblem vor den angewiderten Ordnerfrauen auspackten, ihre Biertankfüllung in Hochbögen zwischen den gegnerischen Fans auspinkelten, daneben die zarten Anna-Chaoten, pure Nostalgiker, die Versatzstücke aus dem vergilbten Beatles-Album ihrer Jugend in Fangesänge umdichteten und dann zu unendlich vielen Strophen variierten, der Pfarrer, der die Hostien aus der eigenen Kirche entwendet hatte, um sie in der stadioneigenen Kapelle mit seinen Sportbrüdern zu teilen, in der aberwitzigen Hoffnung, die Körper der zuletzt sieglosen Elf möchten im nächsten Spiel von den Toten auferstehen, nicht zuletzt die glücklicherweise im Aussterben begriffenen Anna-Hooligans, die nachts in Rudeln herumstreunten wie hungrige Wölfe auf der Suche nach Hasenfrischfleisch, für das sie schon mal eine Dahlemer, Zehlendorfer oder Schmargendorfer Industriellenvilla ausräumten, um so ihrem instinktiven Protest gegen die Dauerarbeitslosigkeit in (Ost-)Deutschland freien Lauf zu lassen.

    Nie könnte ich, dachte ich, als die noch schneebedeckten Gipfel des Puerto del Pico vor mir auftauchten und ich mich ganz allmählich darauf zu bewegte, das Heim für geistig Behinderte im Madrider Vorort Alcaron vergessen, das ich mit einer Wohltätigkeitsdelegation meines Vereins besucht hatte, Zimmer um Zimmer, in denen sich erschreckende Schreie mit beunruhigenden Schritten mischten, starre Blicke von reglos im Rollstuhl sitzenden Frauen, unkontrolliert aufeinander einschlagende Kinder, die regelmäßig unregelmäßig epileptische Anfälle bekamen, dazwischen die Pfleger, welche meist vergeblich versuchten, ihren Schützlingen zivilisierte Laute, halbwegs verständliche Sätze zu entlocken, sie auf konzentrierte Minutenarbeiten vorzubereiten, ihnen das Vollsabbern und Nasspinkeln abzugewöhnen oder, je nachdem, zu erleichtern, mit Spastikern Freiluftspaziergänge zu unternehmen, missgestalteten Jugendlichen mit Hilfe eines verstimmten Klaviers Aufmerksamkeiten, gleich welche, zu entlocken, Erwachsenen das An- und Ausziehen beizubringen wie einem Tier Kunststücke. Auch als Fußballmillionär, und Millionäre waren wir in Annas Profi(t)truppe inzwischen alle, konnte ich dieses Elend nicht einfach ignorieren, das gut geführte Behindertenheim, in dem kein Kind jemals auf eigenen Füßen würde stehen, geschweige denn einen bürgerlichen Beruf ausüben können, dachte ich in meinem knapp bemessenen Fußballsommerurlaub, den ich, durchs Zentralmassiv ziehend, nur wenige Kilometer von den Kinderkrüppeln entfernt, verbrachte.

    Urlaub war für mich nicht die Auslüftung der Gedanken an Angstgegner, Tabellenstürze, Trainertiraden, nicht das Baumeln-Lassen der Seele angesichts alltäglichen Verletzungsrisikos, Stammplatzverlusts, Publikumshasses, nicht das dringend benötigte Vergessen von Kollegenkonkurrenz, Presseverleumdung, Leibesinquisition, auch nicht das zwischenzeitliche Abtauchen in Kindheitsschwerelosigkeit, Alltagsfreuden und Landschaftsneugier. Im Gegenteil, sagte ich mir, ich habe das Reisen übersatt, mehr als genug vom bloßen Überfliegen der Stadt-, Land-, Fluss-, Seen- und Gebirgslandschaften, was habe ich denn gesehen auf meinen Mammuttouren, Parforceritten durch Fußballeuropa, Fußballasien, Fußballamerika, außer Fußballstadien, Fußballspieler, Fußballfunktionäre und Fußballfanatiker, was habe ich wirklich kennen gelernt von all’ den Baedeker-Attraktionen, Prinzessinnenlandschaften, Großstadtlabyrinthen, Schlösserinseln, die ich bereist und nicht erlebt, gesichtet und nicht gesehen, benannt und nicht erkannt habe, dachte ich und musste im nächsten Augenblick bereits wieder an die verunstalteten Kinder von Alcaron mit ihren Glubschaugen, Stummelhänden, Sabbermündern und Scheißwindeln denken, Gedanken an die Madrider Peripherie und an eine außerplanmäßige Dienstreise, die mich daran hinderten, die Allgegenwart und Vielfalt der Zistrosen zu genießen, Gredos-Steinböcke zu beobachten, Pinienwälder zu durchstreifen, Steineichen wahrzunehmen, deren Früchte sowohl den iberischen Schweinen zum Fraß, als auch den Gourmets zur Herstellung des unbezahlbaren Pata Negra dienen. Nein, Urlaub war für mich der tragische Bilderspagat zwischen verblödeten Blicken kindlicher Hilflosigkeit und neronischen Verfolgungsjagden millionenschwerer Angestelltenbeine.

    Ich suchte auf dem Display meines um den Hals gehenkten MP3-Players nach der Raucherstimme Gianna Nanninis und ließ sie durch die Miniaturbrauseköpfe meines Ohrhörers rieseln, um auf dem Weg durch die Sierra den mal beleidigten und wehklagenden, dann wieder aufschreienden und anklagenden Ton jener Rockgöre in meine Gedärme einzuspeisen, der mein Lebensgefühl immer wieder auf merkwürdige Weise aufbrechen und in Frage stellen konnte, der mich spüren ließ, dass in den Tiefen meiner Seele Geheimnisse lagerten, die mir bislang völlig unbekannt waren, deren Existenz ich in seltenen Augenblicken nur ahnte und die mit jedem Wort der Sängerin, Ton für Ton, an die Öffentlichkeit meines Bewusstseins befördert wurden, für die ich mir Löcher in meine Unterhose schämte, weil diese Frau mir geradeheraus und ohne Vorbehalte meine geheimsten Ängste vor Augen führte, welche ich vergeblich in die Taghelle meiner Sportbegeisterung aufzulösen suchte, die mir in entscheidenden Momenten den Blick trübte. Keyboardakkorde berührten mein Herz bittersüß wie ein starker Latte Macchiato, setzten sich in die Poren meiner Haut wie das Salz des Mittelmeers beim Sommerbaden, wenn ein Federwind die Wellen an den Plüschstrand spült:

    Nace l’alba su di me

    Mi lascio andare al tuo respiro

    E mi accompagno con i ritmi tuoi

    Ti sento in giro ma dove sei

    Con tutte quelle essenze che ti dai

    Non so chi sei non sudi mai sei sempre piu lontano

    Volgio il tuo profumo ... .

    Ich bin mit diesem rotzfrechen Seniorenbackfisch verwandt, dachte ich, warum rieche ich ihr Parfüm noch nicht in meinen Sportklamotten, warum duftet meine Stimme nicht wie ihre nach Räucherlachs und Sambuca-Feuer, warum verfolgen mich ihre Lieder nur auf Erholungsreisen und nicht in meiner Smogdomäne Berlin, wo ich bereits zum Frühstück das Forellenquintett verspeise, zusammen mit dem Kaffee die Vierte von Brahms in mich hineinschütte, zum Dessert nichts Besseres in den Regalschlitzen meiner CD-Sammlung finde als Mozartscheibchen, Mozartbildchen, Mozart-Sonätchen, immer wieder Wolfgang Amadeus, den ich in der Musikwelt über alles liebe, mal das Jeunehomme-Konzert, mal die Jagd-Sonate und hin und wieder auch die Krönungsmesse, aber eben nie Bello et impossibile, L’abbandono oder Terra straniera, Lieder, die des Urlaubs Morgenröte sind, aber keinen Fußballalltag in ein Lichterfest verwandeln können.

    Wie in Berlin, bemerkte ich, während ich mir die Schnürsenkel meiner brandneuen, erst vor einer Woche im KadeWe gekauften Trekkingschuhe band, existiert auch in der Sierra kein Tag ohne Nachtleben, kein Vormittag ohne Touristenbus, keine Mittagsrast ohne den Geruch internationaler Biere um mich herum, kein Nachmittag ohne anonyme Smalltalk-Begegnungen, kein Sonnenuntergang ohne Tagträume, in denen ich grübelte und fantasierte, fantasierte und grübelte: vom Strafraumgerangel, in dem nur derjenige den Ball finden und treten kann, der ihn zuvor mit Roter Bete eingerieben hat, um seinen Ariadne-Weg durch das Spielerlabyrinth zurückverfolgen zu können; von als Schornsteinfeger getarnten Schiedsrichtern, die den Matadoren für jedes begangene Foul Ofenruß aufs Trikot schütten, bis diese, kohlrabenschwarz, nicht mehr als Mannschaftsmitglieder erkennbar sind und laut Regelbuch im anschließenden Schlachtfest, wie bei den Azteken im alten Mexiko, auf dem Altar des Fußballgottes geopfert werden müssen; von fanatischen Zuschauern, die nach jedem erlittenen Gegentor eine handfeste Prügelei beginnen, bei Fehlpässen ihrer Matadoren Küchenmesser aufs Spielfeld werfen; von Pressepromis, Spielerverkäufern, Bestechungsgeldüberbringern, von Wettspielbetrügern, die nach Zigarettensorten stinken, welche Rhinozerosexkrementen alle Ehre gemacht hätten.

    In Gelsenkirchen, der Stadt von Hassel, habe ich erfahren, dass es in Berlin, außer zu WM-Zeiten, keine Fan-Meile gibt. Das Fangebiet der Hassler bezieht sich keineswegs nur auf die Enge des berühmten, Kreisel genannten Kurzpassspiels, erstreckt sich vielmehr vom südlichen Rheinland über ganz Ostwestfalen hinweg bis ins niedersächsische Heideland und sogar Schleswig-Holstein hinein, an Hassler Heimspieltagen sind die Züge bereits in Hannover, und erst recht ab Bielefeld – trotz der wieder erstarkten Borussia! – , vollgestopft mit Hassel-Freaks, denen der Hass bereits im Gesicht geschrieben steht, die keine ICE-Trasse, keine Bahnhofsvorhalle, keine Fußgängerzone mit ihren Aufputschparolen verschonen: Wer nicht singt, der ist kein Hassler, wer nicht wippt, der ist kein Hassler, wer nicht trinkt, der ist kein Hassler, wer nicht fickt, der ist kein Hassler! Das nahezu konkurrenzlose Land der Hassler ist ein Reich der Idioten und Narren, die jedes Wochenende einen blau-weißen Karnevalsumzug veranstalten, ein Gebiet krakeelender Jugendlicher, randalierender Volkstrompeter, die in die Hassel-Arena, ihren Fußballdom, pilgern, alkoholisiert und aufgeputscht in ihr ovalrundes Heiligtum wanken, um sich in Hassgesängen auf die Zerstörung des Gegners einzuschwören. In diesem Land nehmen die als Götter verehrten Ballzauberer sitzend an den Trommelritualen und archaischen Sprechmanövern ihres Fanblocks teil, von der sichtbaren Anwesenheit ihrer Fans berauscht, machen sie sich zu deren Affen wie Grundschullehrer vor ihren Kids, nur vor Rührung mit einer Gänsehaut. Es ist ein von Begeisterung vernebeltes Land, dem es an Gebirgsquellklarheit und Pumpernickel-Gesundheit mangelt, das von den Gespenstern der Champagnerseligkeit und des Austernüberschusses regiert wird. Es ist das Europa des Aberglaubens und derjenigen Schamanen, die den Weg aus dem afrikanischen Urwald in die Betonwälder der Metropolen gefunden haben. Es ist das Land der Großstadtindianer und Kleinstadtabenteurer, dachte ich, London und Gelsenkirchen zugleich vor Augen habend.

    Naturgemäß nicht in diesem Hassel-, wohl aber im benachbarten Anna-Land habe ich Freunde ausgerechnet unter den verachteten Schwarzen aus Berlin-Neukölln gefunden, Musa Menanga, Baran Bolang, Chahim Rachian, deren Eltern einem Bürgerkrieg entflohen sind, sich sowohl geweigert haben, gegen, als auch für die Guerillas zu kämpfen, und die nun zum Glück nicht beim Erzfeind Hassel, sondern bei Anna, meiner, unserer Anna, um Geld und Anerkennung fighten, schnell und elegant wie Antilopen. Es sind flinke, furchtlose, selbstbewusste Jungs, von den Politikern getäuscht, von der Schule betrogen, von den Urberlinern geächtet, die, noch nicht einmal zwanzig, mit ihren Beinen auf einmal ein Vermögen verdienen und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Erschöpft vom gemeinsamen Ausdauertraining rede ich stundenlang mit ihnen, nachmittags zwischen den Sozialwohnungen ihrer Eltern, bei denen sie nach wie vor hausen, neben den Drahtkäfigen, in denen sie mit ihren arbeitslosen Kumpels kicken, just for fun, an eine stinkende Dönerbude gelehnt, von der aus sie den ständig im Fenster liegenden Nazirentner beobachten, die mit schwangerem Bauch vorbeiwackelnde Türkin, das Dreck um sich schleudernde Mischlingskind, den schnauzbärtigen Fünfzigjährigen, der im eleganten Ausstatter-Anzug einen Mercedes besteigt, den Kampfhund, der seine Exkremente auf die Steinquader des U-Bahn-Eingangs fallen lässt, ohne dass ihn irgendein Stadtreinigungsbediensteter daran hindert.

    Baran setzte sich neben mich auf eine Mauer und sagte: Anna tut alles für uns, mein Freund, und schwieg eine halbe Ewigkeit. In dieser Zeit, wusste ich, dachte er an den Platzierungskampf in der Bundesliga, auch an den neu entflammten Stammplatzkrieg in der Mannschaft, den Kampf der Alten gegen die Jungen, der Deutschsprechenden gegen die Fremdredenden, der Neulinge gegen die Veteranen, der Brasilianer gegen die Europäer, an das regelmäßig wiederkehrende Abstiegsgespenst nach Niederlagenserien, an die Luxuswohnungen, Tigerautos, Verschwendungssüchte seiner Mannschaftskameraden, an die er sich einfach nicht gewöhnen konnte.

    Oft kam Carlos Maria Manuro zu uns hinzu, der einstige Mittelfeldstar seines brasilianischen Heimatvereins Palmeiras, Spielmacher der Spielmacher in Annas Fremdenlegion, der das Fußballspielen in den Favelas von Sao Paulo, zwischen den Elendshütten des Quartiers seiner zugewanderten Eltern, gelernt hatte. Er sah fast so aus wie Roberto Carlos, der legendäre Verteidiger von Real Madrid, nur viel schmächtiger und mit einem Zöpfchen im Nacken, stets in einer vornehm-aufrechten, fast etwas zurückgelehnten Körperhaltung, der seine Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit auf den ersten Blick anzusehen waren, während sein wenig athletischer, eher schmaler Oberkörper nichts von seiner außergewöhnlichen Spielkunst, Antilopenschnelligkeit und Katzenwendigkeit verriet, sein sanftes Viertelmondlächeln mehr an einen Bahnkundenberater als an einen Superstar denken ließ. Als wir wieder einmal im Weddinger Kiez herumhingen, inmitten eines Straßenparks und in der Nähe des Metallspielkäfigs, der von Weitem aussah wie ein zu hoch geratenes Affengehege im Zoo, sagte er mir in einer selbst erfundenen Mischung aus Portugiesisch und Neuköllnisch, die so originell und ideenreich war wie ein surreales Gedicht, es gebe in Berlin keine Begeisterung, er sei verblüfft darüber, dass ich als eingefleischter Berliner, Wahlberliner sozusagen, noch nicht bemerkt hätte, dass es in meiner Stadt keine echte Freude gebe. Immer nur offiziell verordnetes Jubeln, so wie auf der anderen Seite auch nur von der Vereinsleitung angeordnete oder von der Lokalpresse verhängte Depression.

    Bevor er bei Anna unterschrieb, hatte die brasilianische Regierung ihm die Fußballplakette der Nation verliehen und eine Reise nach Europa geschenkt. Sie kutschierten Manuro nach Congonhas, setzten ihn in ein Flugzeug nach Frankfurt, nicht ohne ihm eingeschärft zu haben, bei welchem Herrenausstatter er sich europagemäß einkleiden solle – in seiner Heimat hatte er nur selten einen Anzug und nie eine Krawatte getragen –, mieteten ihn in einem Durchschnittshotel des scheußlichen Bahnhofsviertels ein und überließen ihn seinem Schicksal. Das schlecht oder überhaupt nicht geschulte Hotelpersonal behandelte ihn wie einen Aussätzigen, damit der trottelige Halbneger, wie sie ihn nannten, erst gar nicht an einen längeren Aufenthalt dächte, der unweigerlich das Einschleusen von Alkohol, Weibern, Drogen und anderen Seuchen zur Folge hätte, „Gell, se wisse scho, deß is e ehrwet hesisch Haus!", und Manuro blieb verängstigt und gekränkt in seinen vier Wänden, auf der Tagesdecke seines Bettes liegend sah er an die vergammelte, fleckige Zimmerdecke, horchte auf Stimmen und Geräusche im Flur, zählte das Geld in seinem Portmonee, indem er jeden Schein einzeln zwischen seinen Fingern knistern ließ wie jemand, der auf Nummer sicher gehen will, keine Blüten angedreht bekommen zu haben. Er wollte etwas essen, aber er wagte nicht, das Hotel zu verlassen, weil es bereits zu dämmern begann und in Sao Paulo kein Fremder in der Dämmerung allein auf die Straße ging. Auf den Tag der Demütigung folgte die Nacht der Angst und nach der Nacht der Angst würde wieder der Tag der Demütigung kommen. Manuro ging eingeschüchtert ans Fenster, um sich mit der fremden Nacht bekannt zu machen, die frische Dunkelheit im honiggelben Licht der gegenüberliegenden Fenster zu erspähen, die Schatten der Straßenbäume zu erahnen, die für ihn das Zeichen waren, sich auszuziehen und seinen völlig ermüdeten, überdies vom Jetlag gebeutelten Körper unter die Betttücher zu schieben. Autolärm drang nach wie vor von der Straße zu ihm herauf, das Stimmengewirr auf den Bürgersteigen ließ nicht nach, Leuchtreklamen schickten ihr Flatterlicht durch die Ritzen der Vorhänge, ihr Rot mit deren Blau vermischend, auf dem dunklen Teppichboden violett schimmernde Streifen hinterlassend, die ihm den ersehnten Schlaf immer wieder aus den Augen stahlen. Auf einmal starrten ihn auch die Portraitierten an der Wand mit ihren Truthahnaugen grimmig an, und er fühlte sich von seinen toten Vorfahren beobachtet, die als Sänger verkleidet aus ihren Gräbern gekrochen kamen, um ihn am Einschlafen zu hindern. Manuro hat drei Tage lang gehungert, sich zwischen Bett und Schrank verbarrikadiert, seine Nase an der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1