Die Tochter der Domina: Münster-Thriller 2
Von Hendrik Davids
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Über dieses E-Book
Ein Hauch von "Pretty Woman" durchweht seinen packenden neuen Münster-Thriller Die Tochter der Domina, in dem sich Davids, wie schon in seinem Roman-Debüt "Der Fluch der Madonna ", als brillanter und phantasiereicher Erzähler erweist.
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Buchvorschau
Die Tochter der Domina - Hendrik Davids
978-3-936536-93-5
Teil I
Erstes Kapitel
»Du bist die beste Mama der Welt!« sagte Sonja und hauchte Gloria einen Kuß auf die Wange. Zwei traumhaft schöne Wochen auf Teneriffa lagen hinter ihnen. Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren hatten Mutter und Tochter wieder richtig Zeit füreinander gehabt, und verstanden hatten sie sich besser als je zuvor.
Mit einer Spur von Wehmut dachte Sonja an den Urlaub zurück, der nun Vergangenheit war, die Tage am Swimmingpool unter der heißen Sonne des Südens, die langen Abende, an denen man auf der Strandpromenade von Musiklokal zu Musiklokal zog, Nächte, deren heiße Flamencorhythmen sie noch in sich spürte, und herrlich unbeschwerte Tagesausflüge. Zum berühmten Loro-Tierpark etwa, oben im Norden, zu einer einsamen Bucht, in der auf einem Piratenschiff ein fröhliches Gelage stattfand, oder zum Teide, dem riesigen Vulkan, der sich unheimlich und drohend über der Insel erhob, die ihm ihr Dasein verdankte. Und da waren auch Erinnerungen an Tage, an denen das Aufstehen schwerfiel, an denen man das Frühstück im Bett einnahm mit frisch gepreßtem Orangensaft, Toast mit Rührei und gebratenem Speck, Waffeln mit Honig und einer Auswahl tropischer Früchte.
Und schließlich waren da die vielen lustigen und anregenden Gespräche an der Hotelbar gewesen, in einem Kreis interessanter und geistreicher Leute. Da war zum Beispiel Frank, ein Geschäftsmann aus Greven, der Sonja anhimmelte, weil sie mit ihren langen blonden Haaren und der atemberaubend schlanken Figur in dem enganliegenden, glänzendweißen Hosenanzug seinen Vorstellungen von einer Traumfrau entsprach. »Du siehst wie ein Filmstar aus! Dich haben und dann sterben, das wär’s!« hatte er einmal zu vorgerückter Stunde in Champagnerlaune geschwärmt. Und grinsend hinzugefügt: »Mal im Ernst, ich würde glatt zehntausend Kröten opfern, um mit einer solchen Klassefrau wie dir die Liebesnacht meines Lebens zu verbringen …« Sonja hatte ihn ausgelacht, und Gloria hatte später mit vielsagendem Lächeln bemerkt: »Ja, ja, so sind die Männer.«
Und einmal, an einem der letzten Tage der Reise, war da ein Moment gewesen, wo Gloria sehr ernst wurde. »Wenn du mit dem Studium fertig bist, mein Engel, werde ich dir eine Arztpraxis einrichten, mit allem, was dazugehört«, hatte sie ihrer Tochter eröffnet. »Du bist ein gutes Mädchen und sollst es einmal besser haben als ich. Und für den Fall, daß mir vorher etwas zustößt, habe ich bei unserem Rechtsanwalt – du weißt, Dr. Adamcek – einen Umschlag für dich deponiert. Er enthält Unterlagen, die sehr wertvoll sind – so wertvoll, daß es für mehrere Praxiseinrichtungen reichen würde.« Als Sonja das hörte, war sie ihrer Mutter um den Hals gefallen und hatte ihr einen liebevollen Kuß auf die Wange gedrückt.
Und nun waren sie wieder in Greven gelandet, und es hieß Abschied nehmen. »Ich habe wieder Nachtdienst«, sagte Gloria noch, bevor sich ihre Wege trennten. Sonja wußte nicht viel über die berufliche Tätigkeit ihrer Mutter seit der Scheidung vor etwa fünf Jahren. Das wenige, was Gloria ihr erzählt hatte, lief darauf hinaus, daß sie im südöstlichen Münsterland, eine halbe Autostunde entfernt, als Fachpflegekraft in einer exklusiven Privatklinik für Suchtkranke arbeitete, ein Job, der gut bezahlt wurde, dafür aber mit häufigem Nachtdienst verbunden war sowie mit der Verpflichtung zu strengster Diskretion, denn die Patienten kamen durchweg aus den besseren Kreisen. Sonja war nie dort gewesen, wo ihre Mutter arbeitete. »Laut Klinikleitung sind Besuche am Arbeitsplatz unerwünscht«, hatte Gloria erklärt.
An der großen Drehtür der Eingangshalle sah Sonja ihren Freund Oliver stehen, der gekommen war, um sie vom Flughafen abzuholen. Gloria fuhr mit dem Vorortbus in eine andere Richtung. »Macht’s gut, Kinder«, sagte sie zum Abschied, umarmte ihre Tochter, drückte Oliver mit einem freundlichen Lächeln die Hand und stieg in den Bus. Es waren die letzten Worte, die Sonja von ihrer Mutter hörte.
Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe, als sie in Richtung Münster fuhren. Sonja und Oliver wohnten zusammen auf einer Studentenetage im Hansaviertel. Die Wohnung wirkte jetzt kalt und ungemütlich.
Eine halbe Stunde später, als Sonja bereits ihren Koffer ausgepackt hatte und sich in der spärlich eingerichteten Küche einen Kaffee gönnte, war ein Signalton ihres Handys zu hören. »Eine SMS von meiner Mutter!« rief Sonja. »Sie ist in ihrem Appartement eingetroffen, und heute abend geht’s wieder zum Nachtdienst in die Klinik.«
Oliver grinste. »Deine Mutter arbeitet nicht in einer Privatklinik für Suchtkranke. Weiß der Teufel, wo sie arbeitet, die Geschichte von der vornehmen Suchtklinik stimmt jedenfalls nicht. Ich hab’ einen Kumpel, der sich auf dem Gebiet auskennt. Es gibt keine Privatklinik dieser Art im Münsterland.«
Aus finsterer Nacht kehrte mein Bewußtsein zurück. Ich stellte fest, daß ich tief, sehr tief geschlafen hatte. Noch ziemlich benommen, schlug ich die Augen auf.
Eine junge Frau, die mit ihren langen blonden, unter dem grünen Häubchen zu einem Pferdeschwanz zusammengerafften Haaren, ihrem vollen, fraulichen Gesicht, den großen türkisblauen Augen und den weichen sinnlichen, jetzt zu einem mütterlichen Lächeln geöffneten Lippen wie eine gute Fee auf mich wirkte, beugte sich über mich und drückte mir eine Sauerstoffmaske auf die Nase.
»Hallo, Herr Blocksdorf, nun haben Sie ja alles glücklich überstanden«, sagte die gute Fee mit einer angenehmen, beruhigend klingenden Stimme. »Mein Name ist übrigens Sonja Freudenberg. Ich bin Medizinstudentin und arbeite zur Zeit als Praktikantin hier in der Chirurgie.«
»Was ist passiert?« fragte ich verwirrt.
»Das wissen Sie nicht mehr? Sie sind doch so etwas wie der Held des Tages, die Zeitungen haben ganz groß darüber berichtet.«
Langsam kam die Erinnerung wieder. Eine belebte Passage in Bahnhofsnähe. Ich war zufällig vorbeigekommen, als ein gutgekleideter junger Mann mit gepflegtem Äußerem, auf den ersten Blick ein völlig unauffälliger, scheinbar harmloser Passant, einer alten Dame gewaltsam die Handtasche entriß. Kurzerhand hatte ich mich entschlossen, dem Täter nachzusetzen, und es war mir schließlich gelungen, den mit einem Messer bewaffneten Handtaschenräuber, Mitglied einer seit langem von der Polizei gesuchten Bande, im Bahnhofstunnel zu stellen und nach zähem Widerstand zu überwältigen, wobei ich mir eine Stichverletzung an der Schulter einhandelte, die nach Ansicht der Ärzte operativ versorgt werden mußte. Und nun war ich also hier in der alten chirurgischen Klinik soeben aus der Narkose erwacht.
Auf einen Wink der guten Fee kam der Arzt herein und grinste. »Zu Ihrer robusten Natur kann man Ihnen wirklich nur gratulieren«, stellte er nach kurzer Untersuchung fest. »So, wie es aussieht, können wir Sie schon in zwei bis drei Tagen nach Hause schicken, vorausgesetzt, der Heilungsprozeß verläuft problemlos. Es ist auch keine weitere Intensivüberwachung angeordnet, Sie kommen gleich auf eine normale Station. Als erstes werde ich Ihnen mal die Arteriennadel herausziehen, sie diente nur der Blutdruckkontrolle, und wie man sieht, ist bei Ihnen alles stabil.«
Er preßte einen Tupfer auf die Einstichstelle am Handgelenk und zog mit einem Ruck die Nadel heraus. »So, Sonja, jetzt fünf Minuten lang die Arterie abdrücken, damit sich der Einstich soweit schließt, daß die Blutung gestillt ist«, sagte er noch und ließ uns allein. Die gute Fee verharrte regungslos neben meinem Bett, leicht über mich gebeugt, und sie hielt die schlanken Finger ihrer schmalen, gepflegten Hand fest auf den Tupfer gepreßt. »Nichts auf der Welt wird mich jetzt dazu bringen, von Ihnen wegzugehen«, versprach sie, »bei mir ist noch keiner verblutet.«
»Sieht ganz danach aus, daß jetzt mein Leben völlig in Ihrer Hand liegt«, stellte ich grinsend fest.
»Bei mir ist es ja auch in guten Händen«, versicherte sie mir, und da war wieder dieses liebevolle Lächeln.
»Schade, daß es nur fünf Minuten sind«, flachste ich. »Eigentlich könnte ich es fünfhundert Jahre so aushalten.«
»Geht nicht«, wehrte sie ab, »andere Patienten brauchen mich auch noch, und ich denke, Ihre Klienten brauchen Sie genauso. Was macht eigentlich so’n Privatdetektiv den ganzen Tag, wenn er nicht in der Klinik liegt?«
»Er beschattet zum Beispiel Ehepartner, um Beweise für ihre Untreue zu finden.«
Sie lachte. »Gut, daß ich solche Probleme nicht habe! Was meine privaten Lebensverhältnisse betrifft, so ist die Welt noch völlig in Ordnung. Mein Freund – naja, eigentlich schon mein Verlobter – würde es gar nicht wagen, mir untreu zu sein …« Sie sah auf die Uhr, nahm den Tupfer von meinem Handgelenk und drückte ein Pflaster auf die Einstichstelle. »Aber ich merke mir trotzdem mal Ihren Namen, man kann ja nie wissen, was kommt.«
Bildfetzen aus dem Hollywood-Klassiker ›Moulin Rouge‹, einem Streifen über das Leben und Sterben des Malers Henri de Toulouse-Lautrec, gingen Kommissar Altenburg durch den Kopf, als er seinen Einsatzort ansteuerte, eine Institution mit dem Namen ›Die Goldene Mühle‹.
Altenburg kannte die Gegend recht gut, es war eine Landschaft, die vor allem an Sommerwochenenden nicht wenige Münsteraner zu Spaziergängen und Familienausflügen anlockte oder zum Picknick mit Kind und Kegel. Die Straße führte in einer Kurve über eine sanfte Bodenerhebung hinweg und senkte sich leicht abwärts, man hatte einen herrlichen Blick über die Davert und das Venner Moor, über dem noch Frühnebel hing. Aber der Mann hinter dem Lenkrad hatte an diesem Samstagmorgen keinen Sinn für die Schönheit der Umgebung. »Warum muß sowas ausgerechnet während meiner Wochenendbereitschaft passieren!« fluchte der bärbeißige, etwa fünfzigjährige Kommissar und unterdrückte ein Gähnen.
Von seinem Mitarbeiter, der ihn durch einen Anruf aus dem Bett geholt hatte, war er mit einer genauen Anfahrtsbeschreibung versehen worden. Noch ca. zwei Kilometer, dann würde vor ihm die Kreuzung auftauchen, an der er abbiegen mußte. Richtig, da war sie. An der Kreuzung befand sich eine alte Landgaststätte, der ›Kreuzkrug‹. Vor dem Eingang stand eine Ritterrüstung in Lebensgröße. Das Schwert des Recken zeigte auf eine hölzerne Tafel, auf der sich die Speisekarte befand.
Nach etwa einem halben Kilometer führte die Seitenstraße an einer alten Fabrik vorbei. Weiß der Teufel, was dort einmal hergestellt wurde, dachte Altenburg. Blinde Fensterscheiben mit schwarzen Löchern grinsten ihn gespenstisch an. Neben dem Fabrikgelände zweigte ein asphaltierter Weg ab, der in den Wald hineinführte. Wie einem Hinweisschild zu entnehmen war, handelte es sich um die Zufahrt zur ›Goldenen Mühle‹.
Der Wagen holperte über eine Brücke und wich einem Reh aus, das verstört das Weite suchte. Nach einigen hundert Metern tauchten im diffusen Licht des wolkenverhangenen Morgens die roten Fachwerkgiebel eines alten ländlichen Anwesens auf – wie es schien, eine liebevoll restaurierte ehemalige Wassermühle mit riesigem Dach, einem Mühlteich und einigen Nebengebäuden, idyllisch in einer kleinen Senke gelegen. Aber Altenburg wußte, daß der friedliche Eindruck täuschte. Auf dem Parkplatz etwa fünfzig Meter vom Eingang entfernt stand der Streifenwagen der beiden Kollegen, die als erste am Tatort gewesen waren. Daneben der Kastenwagen der Experten von der Spurensicherung.
Am Eingang des niedrigen Gebäudes empfing ihn neben dem Klingelknopf ein Schild mit einem vergoldeten Mühlrad, dem Wahrzeichen des Unternehmens, mit den Worten: »Willkommen in der Goldenen Mühle«. Das Innere des Domizils, dessen Restaurierung und Umbau sicherlich mehr als eine Million gekostet hatte, war dezent mit Antiquitäten und Kunstgegenständen ausgestattet. Der geräumige Flur wurde von einer raffiniert angebrachten indirekten Beleuchtung schwach erhellt, es war ein angenehmes, orangefarbenes Licht. Altenburgs Blick fiel auf eine Art Empfangstresen, der, wie aus ein paar davorstehenden Barhockern zu schließen war, auch als Bartheke benutzt werden konnte. Er war jetzt unbesetzt. Weiter hinten, neben dem Durchgang zum Treppenhaus, stand in einer Ecke die lebensgroße Nachbildung einer römischen Venusstatue. Über den Türen zu den Räumen hingen Schilder mit den Namen antiker Kultstätten. Die gediegen eingerichteten Schlafzimmer und die luxuriösen Badezimmer verliehen dem Ganzen eine gewisse Ähnlichkeit mit einer vornehmen Pension, einer Fünf-Sterne-Herberge.
Altenburgs Assistent Kalli Klostermann war schon vor Ort. »Sie liegt im Studio«, sagte er anstatt einer Begrüßung.
»Wer hat sie gefunden?« fragte der Kommissar.
»Ihre Chefin Madame Claudine, die Geschäftsführerin des Unternehmens. Sie ist morgens immer als erste hier, und heute kam sie besonders früh, um mit der Abrechnung rechtzeitig fertig zu werden. Bei der üblichen Inspektion der Räume sah sie dann den ganzen Schlamassel. Die Frau hat einen Schock erlitten.«
Sie betraten das Studio. Es war der größte Raum der umgebauten Mühle, vermutlich war dort früher einmal das Mahlwerk gewesen und das Lager wohl auch. Der Architekt hatte daraus eine Räumlichkeit geschaffen, die in jeder Hinsicht die architektonischen Qualitäten eines ausgesprochen großzügig konzipierten Wohnzimmers besaß. Ein Hauch von Luxussuite, Arztpraxis und Folterkammer schlug ihnen entgegen.
Die Ermordete lag auf dem Bett, das die Ausmaße einer Tanzfläche hatte. Man sah noch jetzt, daß Gloria Freudenberg eine außergewöhnlich gutaussehende Frau gewesen war, trotz ihrer vierzig Jahre. Lange rötlichblonde Haare, ein voller, sinnlicher Mund und eine Figur, die keine Wünsche offen ließ.
»Blutspuren im Raum deuten darauf hin, daß ein Kampf stattgefunden hat, in dessen Verlauf sie dann vom Täter erstochen wurde«, informierte Klostermann den Kommissar. »Vermutlich wurde sie erst danach auf das Bett gelegt, vielleicht sollte es auf den ersten Blick so aussehen, als ob sie nur eingeschlafen wäre. Nach den Feststellungen des Arztes trat der Tod gegen Mitternacht ein, vielleicht eine Stunde früher, vielleicht eine Stunde später, mehr nicht. Zum Geschlechtsverkehr scheint es bei dem für sie tödlichen Treffen nicht gekommen zu sein,