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Nicolas schläft: Roman
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eBook145 Seiten2 Stunden

Nicolas schläft: Roman

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Über dieses E-Book

Nicolas ist neun Jahre alt und hat Angst. Immer. Seine ständige Angst macht ihn schüchtern und unzugänglich, sie verkleinert sein Leben auf das Wenige, vor dem er sich nicht fürchtet, sie macht ihn seltsam, introvertiert und allein. Keiner erkennt, dass Nicolas Hilfe braucht, weil er seine Angst nicht allein bewältigen kann. Eine berührende Geschichte über ein wichtiges Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient, ein schönes Buch mit ein wenig Hoffnung auf Hilfe und Verständnis.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum30. Mai 2014
ISBN9783990390399
Nicolas schläft: Roman

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    Buchvorschau

    Nicolas schläft - Carmen Bregy

    Carmen Bregy

    Nicolas schläft

    Roman

    Kein Himmel,

    keine Erde – aber immer noch

    fallen Schneeflocken.

    Hashin

    Auf dem Fußsteig liegt ein kleiner grüner Vogel. Die Beine zeigen im rechten Winkel in den Himmel. Am Oberschenkel verfranst das Federkleid, darunter dünnes Schienbeinweiß. – Fern vom Erwachen der Stadt liegt er in der Windstille des Morgens. Trotzig gespreizte Vogelfüße recken sich himmelwärts.

    Nicolas kniet sich neben den Vogel, berührt den zarten Kopf, legt sein Taschentuch über den Körper und greift nach ihm. Er fühlt sich sehr leicht an. Aber wer fliegen will, muss leicht sein. So leicht wie möglich. Selbst die Knochen müssen ganz leicht sein. Leichter als Wasser am besten. Am allerbesten ist es, wenn die Knochen mit Luft gefüllt sind. Pneumatisierte Knochen. Hohlräume, die das Knochengewicht verringern.

    Nicolas betrachtet die großen, seitlich angesetzten Augenhöhlen, in denen sich die letzten Bilder befinden. Ein Stück Himmel vielleicht, bevor der Vogel im Sturzflug auf den Boden schlug und andere Tiere schnüffelnd an seinen starren Blick heranschlichen. An den Lidrändern kann Nicolas feine Federn erkennen. Wie menschliche Wimpern. Die Augen sind geschlossen und halten Staub und laute Welten fern. Hinter den Lidern schläft alles, was der Vogel je gesehen hat.

    Ein bisschen versetzt von den Augenhöhlen liegen zwei kleine Gehöröffnungen. Vögel hören wie Menschen, weiß Nicolas. Wobei es Vogelarten gibt, die viel mehr Töne unterscheiden können als Menschen. Also konnte dieser Vogel womöglich mehr hören als er, überlegt Nicolas. Das Geräusch riesiger Vogelschwingen, die verborgen in der tiefen Nacht wie helle Schatten durch die Wolken fliegen, Geräusche ferner Länder im Gefieder mit sich tragend. Ein Echo aus Meeresblau und Wüstengelb. Oder das hell klingende Formen von Tropfen in Wolkentürmen, bevor sie sich fallen lassen. Vielstimmig wie ein wilder, fliegender Zirkus, der zur Erde stürmt. Oder das feinspinnige Zischen einer elektrischen Ladung kurz vor einem Gewitter. Oder Aschewolken, die als schwebende Teppiche über Kontinente ziehen und in deren Maschen sich Korn für Korn summend aneinanderschmiegen.

    Durch eine besondere Fließatmung und ausgereifte Sauerstoffversorgung können Vögel in großen Höhen Tausende von Kilometern zurücklegen. Das Herz schlägt wild dabei. 350 Schläge pro Minute. Mindestens. Trommelherzen, die durch den Himmel stürmen. Das hat er irgendwo gelesen.

    Nicolas sitzt am Tisch und streicht über den Vogelkopf. Das Zimmer im ersten Stock des Hauses ist so ordentlich, als wäre es im Mauerwerk aufgefaltet und mit spitzen Fingern eingerichtet worden. Es hat ein großes Fenster mit Blick auf morastige Ackerfelder. Zwischen der Treppe und seinem Zimmer liegen drei weitere Räume. Es ist still darin. Die Türen sind zu, dahinter wütet die Einsamkeit, die manchmal durch das Schlüsselloch zischt. Betrachtet man das Haus von oben, sieht man einen großen Kasten, der sich, eingenäht in der braunweißen Winterlandschaft, an einen Hang kauert, der Schattenorte macht – den ganzen Winter über. Das Haus ist groß und die Ecken und Kanten darin atmen leise ein und aus. Hält man sich länger in ihm auf, merkt man, dass nicht die Mauern atmen, sondern dass die Stille im Haus so gewalttätig ist, dass sie Geräusche im eigenen Kopf erzeugt.

    Sie sind wieder da. Die langen Winternachmittage. Alle sinnlichen Reize sind auf ein Minimum reduziert. Manchmal hofft Nicolas, seine Körperfunktionen würden sich der reizarmen Umgebung anpassen.

    Es ist keine beschauliche Stille. Sie ist merkwürdig. Die Stille dringt wie gläserne, mit Wachs überzogene Tropfen in seine Ohren. Drinnen im Kopf rauscht das Blut. Es ist dasselbe Geräusch wie das Rauschen im Hohlkörper von Schneckengehäusen, wenn man sie ans Ohr presst. Kein Meer, nur die Töne in der Luftsäule der Muschel sind zu hören.

    Wenn er nur lange genug dasitzt und nichts tut, hört alles um ihn herum auf zu sein. Das Filmposter, das über seinem Bett hängt, mit D’Artagnan, Athos, Porthos und Aramis. Die vier botanischen Illustrationen von Farngräsern und Regenwaldpflanzen, die in einer Reihe an der Wand links vom Bett angebracht sind. Das Kruzifix, das rechts von der Zimmertür hängt. Ein schlichtes Kreuz aus Ahornholz mit einem schön geschnitzten, hellen Leib. Wie elegant und schlank Jesus sein kann, dachte Nicolas erstaunt, als seine Mutter ihm das Kreuz überreichte.

    „Von Großmutter", sagte sie nur und drückte es ihm in die Hand.

    „Dort muss du es aufhängen", meinte sie noch beim Hinausgehen und klopfte mit dem Finger an die Stelle, die das Kreuz jetzt schmückt.

    Die zum Himmel hoch erhobenen Hände, die im Sterben nach Sternen greifen. Die feinen Gesichtszüge, die heimlich nachts zum Küssen da sind, und ein Lendenschurz, der manchmal leuchtet. Darunter hängt eine Schale aus Alabaster, die im Schoß der Mutter Maria liegt und trocken ist.

    Ein Foto von ihm mit einem Blick, der auf nichts zu treffen scheint, steht auf dem Regal. Die bunten Stifte in der holzgeschnitzten Schachtel auf dem Tisch, gleich neben dem Briefpapier mit eingeprägtem Namen. Und der grüne Vogel, eingewickelt in das große Taschentuch, in der Schachtel liegend. Der Deckel schließt nicht ganz, wegen den gespreizten Vogelfüßen.

    Wenn er also lange genug dasitzt und nichts tut, verschwindet vielleicht auch dieses Gefühl, dass die dünne Haut, die sein wild pochendes Herzen umspannt, jeden Moment aufplatzen könnte.

    Nicolas stellt sich diese Herzhaut weißadrig und sehr dünn vor. Er tastet nach seinem Mund, um zu prüfen, ob er geschlossen oder offen ist.

    Es ist stiller Winter. Ohne Sonne. Ohne Strümpfe an den Füßen. Ohne Mutter. – Nicolas zieht oft die Strümpfe aus, auch wenn ihm kalt ist. Er geht dann hinaus in den Schnee, in den Regen. Manchmal springt er mit der Abendsonne über die Schatten im Garten und im Sommer taucht er sich ganz in die großen, sonnenwarmen Luken, die zwischen den Bäumen wachsen.

    Er zählt die Schläge der nahen Kirchenuhr leise murmelnd mit.

    Vier Uhr. Nicolas schaut durch das Blau des nahenden Abends über das Basaltgrau der Äcker bis hin zum spitzen Kirchturm.

    Die Glockenschläge kommen aus der Tiefe der Erde und nicht vom Himmel her. Sie beruhigen sein wild pochendes Herz. Das Herz, das einzig auszumachende Leben in ihm, in diesem Zimmer, im ganzen Haus. Nicolas stellt sich den Herzschlag als elastische Blaupause im Schalldruck der großen Glocke vor. Als würde der Glockenklang in den Herzschlag dringen, sich mit ihm verbinden, sodass das Pochen in der Brust nicht mehr vom Schlagen der Glocken, das sich in den Luftsäulen türmt, zu unterscheiden ist.

    Zwei Stunden später hört er den Motor eines Autos, fern noch und wie eingesperrt in einer Welt aus Schnee und Dämmerung, woraus jeden Moment ein Scheinwerfer bricht. Das Licht kriecht hinauf, mitten hinein in seine Einsamkeit. Er löst sich vom Fenster, rennt durch den Flur und bleibt unten an der Treppe erst stehen. Hier wartet er, ein bisschen atemlos, bis sich der Schlüssel dreht und seine Mutter in die Halle tritt. Doch es ist Vater, was er eigentlich schon am ruckartigen Abwürgen des Motors gehört hat; er kommt müde und irgendwie scheu, als wäre er ein aufgescheuchtes Tier, ins Haus, hängt seinen Mantel auf, drückt Nicolas wortlose Küsse ins Haar und verschwindet dann in der Küche.

    Es gibt Abendessen. Ohne Worte. Ohne Mutter. Nur die warmen Hände seines Vaters, die Nicolas vor dem ersten Bissen kurz und unbeholfen im Gesicht berühren.

    Nicolas geht nach draußen in den Garten. Er hat das Gefühl, mitten im Zentrum des grauen Winterlichts zu sein. Als hätte der Winter ein Auge und als stünde er mitten darin. Die Luft um ihn herum ist als kalter Wind spürbar. Ihm ist, als wäre er umringt von einem ganzen System aus Winden, das ständig in Bewegung ist.

    Mit nackten Füßen steht Nicolas auf dem eisigkalten Balkongeländer. Aufrecht wie ein kleiner Pfau. Er schaut zum gegenüberliegenden Wald und durch ihn hindurch, so als würde ihn etwas Fernes, etwas, das mitten im Wald als weiß pulsierende Kugel versteckt liegt, daran erinnern, dass er gerade stehen soll. Wenn er seine Hände zu Fäusten ballt und dabei den Atem lange anhält, kann er einfach durch den Wald hindurchschauen. Ein bisschen weniger atmen. Gerade so, dass er nicht in Ohnmacht fällt. Gerade so, dass er ein bisschen vergisst, wo er ist.

    Er umrundet das Haus und sieht sich dabei in den Fußstapfen seines eigenen Schattens gehen. Die Sonne rollt über den Horizont und häutet sich in roten und violetten Streifen. Nicolas sieht, wie die Streifen auf der kalten Erde welk werden und sich der Garten und alle Dinge darin langsam in ein gefrorenes Schattenspiel verwandeln.

    Als er den Kasten ganz umrundet hat, steht er wieder vor der Haustür. Er nimmt den Besen, der immer in der linken Ecke des Eingangs steht, und wischt verschleppte Kieselsteine auf die harte Schneedecke. Er blickt auf und sieht, wie unordentlich alles geworden ist. Auf den weißen Schneerippen liegt dreckiger Splitt.

    Sachte tritt er auf den scharfkantigen Harsch und wischt die Steine gewissenhaft und mit harten Besenschlägen zurück auf den Weg. Er ist halb ohnmächtig von dieser immerwährenden Stille in, vor und rund um den Kasten. Auf dem Feld des Bauern sitzen schweigend viele Raben.

    Er scheuert das Grau weg, reinigt den Schnee und erinnert sich an einen Ort im Sommer am Meer.

    Der Flaum auf seinen Armen, in seinem Nacken und an seinen Schläfen nach Tagen voller Sonnenschein plötzlich golden schimmernd. Ein Duft von alten Rosenstöcken hing in der Luft und seine Mutter kam jeden Abend, und immer etwas früher als gewöhnlich, zurück. Nicht sehr viel früher, aber doch so, dass noch zwei Stunden im Tageslicht blieben. Mit wehendem Sommermantel, ein hellgrüner war’s, stieg sie aus dem Auto, verabschiedete ihren glatthaarigen Assistenten und lief durch den buntkelchigen Garten.

    Die Blumen, die direkt am Weg wuchsen, hoben ihre schweren Blütenköpfe und kamen kurz ins Wanken. Gladiolen, Rittersporn und Bartnelken. Die Margeriten, die mit offenen Mündern den ganzen Tag im Licht gestanden, es getrunken hatten, zitterten am längsten.

    Mit einem großem Lachen im Gesicht und dickem Bauch kam sie auf ihn zu, roch an seinem Haar und drückte ihn an ihr großes, ruhig schlagendes Herz. Dahin denkt er sich. Und er ist so froh, dass es wieder klappt.

    Wenn niemand wüsste, wer mir meinen Namen gegeben hat, denkt er manchmal. Wenn also niemand wüsste, wie ich heiße, wo ich wohne oder wie ich aussehe. Wenn niemand wüsste, dass es mich gibt. Wenn ich unsichtbar wäre und überall dorthin

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