Der Überläufer. Letztes Kapitel
Von Robert Allertz
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Buchvorschau
Der Überläufer. Letztes Kapitel - Robert Allertz
Das Buch
Tiedge schien vergessen. Doch als er 2011 hinter Moskau verstarb, waren die Zeitungen wieder voll. Der Spionageabwehrchef des Bundesamtes für Verfassungsschutz war 1985 in die DDR geflüchtet. Das hatte ihm die Bundesrepublik nicht verziehen. Und als gar 1998 in Berlin ein deutscher Verlag seine Erinnerungen »Der Überläufer« herausbrachte, war das Maß voll. Die Bücher wurden beschlagnahmt, die Verantwortlichen des Verlages vor Gericht gebracht. Einen solchen Skandal hatte es im letzten Jahrhundert in Deutschland nur dreimal gegeben: 1931 der Weltbühnen-Prozess, 1962 die Spiegel-Affäre und 1967 die Attacke auf der Frankfurter Buchmesse gegen das Braunbuch aus der DDR.
In diesem Buch wird sowohl Tiedge als auch der Umgang mit seiner Autobiografie behandelt. Vor allem aber richtet sich der Fokus auf die politischen Hintergründe dieses einzigartigen Angriffs.
Der Autor
Robert Allertz, Jahrgang 1951, Spezialglasfacharbeiter, Diplomjournalist, Oberleutnant zur See d. R., Autor verschiedener Publikationen. In der edition ost erschienen in mehreren Auflagen »Im Visier die DDR« und »Sänger und Souffleur«, bei spotless »Schlachtfeld Geschichte« und »Spuren des Unrechts« sowie »Macht euch von unserem Acker«.
Hansjoachim Tiedge, 73, a top West German
counterintelligence officer who defected to East Germany
in 1985, died April 6 at his home near Moscow.
Financial Magazin,
12. April 2011
Tiedge ist tot
Die Nachricht kam wie meist per Telefon. Verwandte oder Freunde rufen im Verlag an, wenn ein Buchautor – plötzlich oder nicht unerwartet – sich von der Welt verabschiedet hat. In diesem Falle erreichte uns die Nachricht aus Moskau. Am 6. April 2011, wenige Tage vor seinem 74. Geburtstag, sei er dort verstorben, hieß es.
Der Verlag, nicht ungeübt in derlei Verrichtung, setzt nach solchen Anrufen eine Meldung auf und an die Nachrichtenagenturen ab. In diesem Falle tauchten jedoch Fragen auf.
Nicht dass man die Richtigkeit der Mitteilung in Zweifel gezogen hätte: Die Quelle galt als verlässlich. Schließlich handelte es sich bei ihr nicht um Tiedges früheren Arbeitgeber, der auf Nachfrage noch in den 90er Jahren entrüstet auch nur den Anflug des Verdachtes zurückgewiesen hatte, seinen einstigen obersten Abwehrchef noch immer zu observieren. Doch 2005, also zwanzig Jahre nach dessen Flucht, hatte man Hansjoachim Tiedge in Moskau schriftlich wissen lassen, dass nunmehr die Überwachung seines Telefonanschlusses durch das Bundesamt für Verfassungsschutz eingestellt worden sei. Also hatte man ihn – entgegen der früheren Bekundung – doch unverändert »auf dem Zettel« gehabt. Die spannende Frage lautete damals: Wo, wie und vor allem warum hatte das BfV Tiedges Leitung über Jahrzehnte angezapft? Hörte man nur mit, wenn er mit seinen Kindern und anderen Personen in Deutschland telefonierte, war das BfV also im hiesigen Netz oder doch schon auswärts in dieser Angelegenheit unterwegs?
Der Zweifel, ob ein solcher Nachruf auch in diesem Falle angebracht sei, wurzelte auch nicht in jenem Ärger, den der Verlag mit Tiedges Erinnerungen erfahren hatte und welcher über Jahre andauerte. Die Memoiren waren 1998 unter dem Titel »Der Überläufer« erschienen und zogen viel Ärger nach sich. Die Bücher wurden auf der Messe in Frankfurt am Main beschlagnahmt und auch in Geschäften von der Staatsmacht aus den Regalen geräumt, was kein Buchhändler gern sah.
Es folgten staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Verlag und Verleger, weil diese angeblich Staatsgeheimnisse publik gemacht hatten.
Das juristische Nachspiel für Tiedges Werk war nicht angenehm: Es meldeten sich beispielsweise auch Personen, die sich durch den Autor nicht korrekt dargestellt sahen, weshalb sie klagten. Im Juristendeutsch wurde dies als »persönlichkeitsverletztender Vorwurf« bezeichnet, aus dem ein »Entschädigungsanspruch« abgeleitet wurde. So sollte per Vergleich ein Kläger einen fünfstelligen Betrag erhalten, weil der Autor Tiedge ihm zu nahe getreten war. Das Gericht begründete das damals mit dem Hinweis, Tiedge habe seinem ehemaligen Kollegen »vorgeworfen, im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit sexuelle Beziehungen außerehelicher Art unterhalten zu haben. Dies ist im Bereich des Geheimdienstes deshalb von besonderer Bedeutung weil sich daraus eine Erpressbarkeit ergeben kann.« Um den »Schmerz« zu lindern, schlug das Gericht vor, »den Rechtsstreit durch Bezahlung einer Vergleichssumme von DM […] gütlich zu erledigen, wobei der Beklagten eine Ratenzahlung eröffnet werden sollte«.
Die »Beklagte«, also der in Berlin ansässige Verlag und nicht der auswärtige Autor, sollte zahlen. Der Verlag meinte, was gewiss nicht unbillig war, auch der Autor solle sein Scherflein zur Tilgung dieser Forderung beitragen, schließlich trüge auch der Autor eine gewisse Mitverantwortung, zumal er im von ihm unterzeichneten Verlagsvertrag versichert hatte, dass sein Manuskript frei von Rechten Dritter sei. Das war es ganz offenkundig nicht, sonst hätte das Gericht nicht so geurteilt. Aus diesem Missverständnis entwickelte sich neuer Ärger, weshalb die Causa Tiedge im Verlag irgendwann mit nicht sehr freundlichen Bemerkungen geschlossen und abgelegt worden war. Das verständliche Interesse des Verlages, die immensen Gerichts- und anderen Kosten nicht allein tragen, sondern diese fair mit dem Autor teilen zu wollen, indem ein Teil des Honorares dafür genutzt würde, hatte nicht ungeteilte Zustimmung, wohl aber Widerspruch erfahren. Und darum wollte man an Tiedge und seine Rechtsanwälte nicht unbedingt erinnert werden.
Aber selbst dieser Umstand war nicht unmittelbarer Anlass, darüber nachzudenken, ob eine Meldung über das Hinscheiden des Hausautors Hansjoachim Tiedge gerechtfertigt sei oder nicht. Die Frage war ganz schlichter Natur: Wer kennt, nach so vielen Jahren, den Mann überhaupt noch? Warum sollte sich ein Mitarbeiter im Verlag die Mühe machen, eine Meldung zu formulieren, die dann in den elektronischen Papierkörben der Nachrichtenagenturen und Zeitungen landen würde?
Doch irgendwie fühlte man sich am Ende doch verpflichtet, eine entsprechende Mitteilung in die Welt zu senden.
Die Reaktionen offenbarten, dass die Lage im Hause völlig falsch eingeschätzt worden war.
Die »Tagesschau« der ARD meldete schon wenige Stunden nach Absetzen der Verlags-Meldung durch die Nachrichtenagentur dpa, erstmals 14.34 Uhr an jenem 12. April 2011: »Der frühere Kölner Verfassungsschützer und DDR-Überläufer Hansjoachim Tiedge ist tot. Er sei wenige Wochen vor seinem 74. Geburtstag am 6. April in seinem Wohnort in der Nähe Moskaus gestorben, teilte Tiedges Verlag Das Neue Berlin unter Berufung auf Familienkreise mit.
Der in der Kölner Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz jahrelang für die Abwehr der DDR-Spionage zuständige Regierungsdirektor hatte sich im August 1985 nach Ostberlin abgesetzt und in der DDR sein gesamtes Wissen offenbart. Der Frontenwechsel des hochrangigen Beamten galt als die bis dahin schwerste Panne in der Geschichte des Verfassungsschutzes. Der damalige Chef des Verfassungsschutzes, Heribert Hellenbroich, trat deshalb zurück.
Über seinen Seitenwechsel berichtete Tiedge detailliert in seinen Memoiren, die 1998 unter dem Titel ›Der Überläufer – eine Lebensbeichte‹ erschienen. In der Autobiografie schilderte er neben seiner Arbeit auch seine verfahrene private Situation, die ihn zur Flucht veranlasste. Dem Alkohol verfallen, mit einem Berg an Schulden und von einer Versetzung bedroht, fuhr er in einem Zug über die DDR-Grenze und offenbarte sein Wissen über die Systematik der Spionageabwehr.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lebte der ehemalige oberste Abwehrchef des westdeutschen Verfassungsschutzes bereits in Russland. Der sowjetische Geheimdienst KGB hatte ihn am 23. August 1990 aus der untergehenden DDR ausgeflogen. Tiedge zeigte sich bis zuletzt überzeugt davon, dass sein Handeln richtig sei. Seit 2005 war im Fall Tiedge der Tatbestand des Landesverrats in Deutschland verjährt. Eine Strafverfolgung war also nicht mehr möglich.«
Nachdem die deutsche TV-Hauptnachrichtensendung Tiedge derart umfänglich wieder ins Rampenlicht geholt hatte, ging die Nachricht um die Welt. Nicht nur fast alle wichtigen Tageszeitungen in Europa kolportierten sie, auch die Washington Post schrieb am 13. April: »Hansjoachim Tiedge, West German intelligence official who defected to east, dies at 73.«
Selbst das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel vermeldete in seiner Rubrik »Gestorben« am 18. April 2011 das Ereignis: »Hansjoachim Tiedge, 73. Der gebürtige Berliner galt in der hohen Zeit des Kalten Krieges als ideenreicher und effizienter Stratege im Spionagekampf gegen die DDR – bis er im August 1985, damals Regierungsdirektor beim Bundesamt für Verfassungsschutz, zum Feind überlief und damit den Bonner Politikbetrieb ordentlich durchrüttelte. Bis heute halten sich Gerüchte, dieser Frontenwechsel sei länger geplant gewesen, was bedeutete, der Agent habe zuvor als Maulwurf für Ost-Berlin gearbeitet.«
Die Reaktion auf Tiedges Tod war also keiner aktuellen Nachrichtenebbe geschuldet. Ganz offenkundig wurden der Mann und sein Schicksal in den Redaktionen auch nach Jahren des Schweigens als relevant erachtet. Eine solche Resonanz erfahren bisweilen nicht mal Ex-Politiker oder abgetretene Stars aus dem Showbiz. Lag’s in diesem Falle