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Mörderisches Zwingenberg: Anthologie
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eBook252 Seiten3 Stunden

Mörderisches Zwingenberg: Anthologie

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Über dieses E-Book

Tatort Zwingenberg

Heimtückische Morde, listige Verbrechen und außergewöhnliche Aufklärungsansätze - dieses Dutzend mörderischer Krimikurzgescheichten zeigt die ganze Palette des Verbrechens in der sonst so idyllisch erscheinenden ältesten Stadt der hessishen Bergstraße.

Die Sammlung ist das ergebnis des ersten Zwingenberger Krimiwettbewerbs, bei dem Laienautoren dazu aufgefordert waren, eine kriminalistische Kurzgeschichte mit Bezug auf Land und Leute der Region zu verfassen.

Im Anhang finden sich die Kurzbiografien der Autoren sowie eine Beschreibun g der regionalen tatorte und ihrer Besonderheiten.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Waldkirch
Erscheinungsdatum6. Feb. 2013
ISBN9783864766077
Mörderisches Zwingenberg: Anthologie

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    Buchvorschau

    Mörderisches Zwingenberg - Verlag Waldkirch

    Tatorte

    Driving home for Christmas

    Michael Thode

    Burkhart lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander und kreuzt die Arme vor seiner Brust. Seine Mimik ist ebenso ausdruckslos wie die eines Pokerspielers: Vielleicht hat er einen Royal Flush auf der Hand, vielleicht nicht.

    Burkhart ist immer noch hoch konzentriert, daran zweifele ich keine Sekunde, aber er wirkt ruhig. Nahezu entspannt. Was er gerade denkt? – Ich weiß es nicht!

    Obwohl ich jemand bin, der Momente der Stille als Geschenk betrachtet, bedeutet diese Form der Ruhe für mich mehr Stress, als das Feuerwerk, das er während der letzten Stunden abgebrannt hat: Sein Gebrüll und sein Geflüster, seine Drohungen und seine Versprechungen, das Ausdrücken seiner Abscheu und das Heucheln von Verständnis – das alles ist an mir abgeprallt wie ein Tennisball, der auf einen Steinboden fällt.

    Aber warum sagt er jetzt nichts mehr? Was soll das? Was zum Teufel hat er vor?

    Einen Moment lang verliere ich die Kontrolle. Mein Herz beschleunigt seinen Takt rasant und schießt plötzlich auf die Überholspur. Eine unerträgliche Hitze legt sich wie eine zweite Haut über meinen Körper. Der Sauerstoff wird knapp und ich habe das Bedürfnis, nach Luft zu schnappen.

    Ich bin sicher, dass Burkhart das bemerkt. Er muss es einfach bemerken! Auch bin ich sicher, dass er in wenigen Augenblicken wieder angreifen wird.

    Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie schwierig es ist, einfach nur dazusitzen und jemanden anzuschauen? Ohne Nasekräuseln, ohne Räuspern, ohne Mimik?

    Ich habe meine Hände zwar in meinem Schoss gefaltet, prompt ertappe ich meine Daumen jedoch dabei, wie sie sich unablässig umkreisen. Also kralle ich die Finger noch fester ineinander.

    Sie ahnen jetzt sicherlich, dass Burkhart und ich uns nicht an einem Pokertisch gegenübersitzen. Zwischen uns dreht es sich nicht um ein Glücksspiel. Auch dreht es sich nicht um Geld. Hier dreht es sich um mehr – um wesentlich mehr!

    Ich weiß nicht, wie lange Burkhart mich nun schon anstarrt. Ich konzentriere mich darauf, seinen Augen standzuhalten, doch immer wieder schweift mein Blick ab. Die tristen Wände des Raumes fallen mir auf. Aus den Augenwinkeln sehe ich das Mikrofon, das zwischen uns auf dem Tisch steht. Auch der Spiegel, der sich direkt hinter Burkhart an der Wand entlang streckt, fällt mir ins Auge. Ich bin sicher, dass der Spiegel halbdurchsichtig ist. Auf der anderen Seite steht wahrscheinlich ein Psychologe, der mich beobachtet und immer wieder sagt: „Gelogen!"

    Was in meinem Kopf vorgeht, bekommen die Menschen hinter der Glasscheibe nicht mit. Und Burkhart – Gott sei Dank! – auch nicht. Bisher habe ich keine Fehler gemacht. Ich habe mich nicht in Widersprüche verwickelt und ich bin sicher, dass ich übermorgen zu Hause sein werde. Übermorgen ist der Heilige Abend. Weihnachten, das Fest der Liebe.

    Als mein Herz sich endlich beruhigt hat und auch mein Atem wieder ganz sachte geht, dreht Burkhart sich plötzlich um, schaut in den Spiegel und nickt. Es dauert nicht einmal drei Atemzüge, dann kommt eine junge Frau in den Raum. Sie traut sich nicht, mir ins zu Gesicht sehen. Sie stellt eine kleine, rote Nylontasche zwischen Burkhart und mir auf den Tisch. Auf der Nylontasche ist ein weißes Kreuz aufgedruckt.

    Wieder habe ich für einen winzigen Moment das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Wieder schießt Adrenalin durch meinen Körper. Unsichtbar scheint Burkhart seine Hände mit einem süffisanten Grinsen um meinen Kehlkopf zu legen und langsam zuzudrücken.

    Ich strecke meinen Kopf ein wenig und schnappe nach Luft. Genau darauf hat Burkhart gewartet: „Die Nylontasche gehört … ähm … nein … die Nylontasche gehörte Charlotte Joost", sagt er und lächelt das Lächeln eines Siegers.

    Weihnachten werde ich zu Hause feiern, denke ich, und bemühe mich, sein Lächeln zu erwidern.

    Sie fragen sich jetzt sicherlich, wer Charlotte Joost ist. Ja? Dann werde ich sie Ihnen vorstellen.

    Charlotte Joost ist … oder besser: Charlotte Joost war eine Frau, die ein Leben wie in einem Rosamunde-Pilcher-Roman führte. Ihr Mann war Partner einer alt eingesessenen Darmstädter Rechtsanwaltskanzlei und trug seine Frau auf Händen. Zumindest in der Öffentlichkeit, wenn sie sich als „Frau an seiner Seite" präsentieren durfte.

    Charlotte selber stammte aus Zwingenberg. Nach dem Studium in Hamburg war sie nach Zwingenberg zurückgekehrt, hatte sich hier mit ihrer Familie niedergelassen und sich als Innenarchitektin selbständig gemacht.

    Charlotte fuhr einen Range Rover. Sie sagte, dass sie ein Auto mit viel Platz brauchte. Platz für die Pferdesättel und Platz für die Kinder, obwohl ihr Sohn und ihre beiden Töchter im Moment nicht zu Hause lebten.

    Ihr Sohn studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg, ihre älteste Tochter studierte Betriebswirtschaftslehre in Lausanne und ihre Jüngste war gerade für ein Schuljahr in den USA. Rosamunde Pilcher hätte es nicht schöner beschreiben können. Einfach nur widerlich, wenn Sie mich fragen.

    Burkhart lehnt sich nach vorne und schiebt die rote Nylontasche mit dem weißen Kreuz so weit zu mir herüber, dass sie um ein Haar von der Tischkante fällt.

    „Und?", säuselt er und zieht die Augenbrauen hoch.

    „Was und?", erwidere ich und bin selber überrascht, dass meine Stimme so klar und fest klingt.

    „Warum haben Sie die Tasche weggeschmissen?"

    „Ich kenne die Tasche nicht."

    „Aber Sie wissen, dass der Inhalt der Tasche für Charlotte Joost wichtig war – lebenswichtig sogar!"

    „Warum hätte ich das wissen sollen?"

    „Weil Sie und Charlotte Joost eine Affäre hatten, dann weiß man so etwas."

    „Quatsch!"

    „Was ist Quatsch? Die Affäre oder die Tasche?"

    „Die Affäre und die Tasche!"

    Burkhart lehnt sich wieder zurück und legt die Hände in den Nacken. „Es gibt Beweise!"

    „Beweise wofür?"

    Burkhart greift in sein braunes Cord-Jackett und wedelt einige Augenblicke später mit einem Stück Papier. Dann legt er es vor sich auf den Tisch, dreht es so, dass ich die Schrift lesen kann, und schiebt es zu mir herüber. Ich werfe nur einen kurzen Blick darauf und habe plötzlich das Gefühl, als müsste ich mich jeden Moment übergeben.

    Verdammt! Woher hat Burkhart eine Quittung des Ringhotels Siegfriedbrunnen? Charlotte hat die Quittungen doch immer vernichtet! Oder etwa nicht?

    Ich hatte mich vor ungefähr sechs Monaten – es waren die heißen Tage im Juni – bei Charlotte beworben, weil sie im Bergsträßer Anzeiger nach einer Bürokraft suchte. Sie lud mich zum Vorstellungsgespräch ein. Als wir uns gegenübersaßen, hatte ich zum ersten Mal dieses Gefühl, das andere als „Schmetterlinge im Bauch" bezeichnen. Der einzige Unterschied war, dass es sich bei mir nicht nach Schmetterlingen anfühlte, sondern nach einer ganzen Flotte von Düsenjägern.

    Ich hätte damals nicht gedacht, dass ich nicht nur den Job bekommen würde, sondern auch Charlotte selbst. Aber letztendlich passte auch das in das Rosamunde-Pilcher-Bild: Die Ehefrau ist von ihrem Mann gelangweilt und sucht nach einer Alternative. Plötzlich gefiel Rosamunde Pilcher mir immer besser – zumindest ein wenig.

    In meiner ersten Arbeitswoche fragte Charlotte mich, ob ich sie zu einem Geschäftsessen nach Grasellenbach in das Ringhotel Siegfriedbrunnen begleiten würde. Was meinen Sie, was ich wohl antwortete? – „Ja!", habe ich natürlich gesagt. Bestimmt sind Sie jetzt nicht sehr überrascht, wenn ich Ihnen erzähle, dass Charlotte und ich den Rest der Nacht gemeinsam verbrachten.

    Als ich am nächsten Morgen aufwachte und über ihre warme Haut streichelte, dachte ich mit einem Lächeln an den Film Pretty Woman – nur mit dem kleinen Unterschied, dass es in diesem Fall kein Mann war, der sich diesen Luxus leisten konnte, sondern eine Frau.

    Burkhart lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Ich bemühe mich, den Speichel, der sich in meinem Mund gesammelt hat, so leise und unauffällig wie möglich zu schlucken. Ich habe das Gefühl, dass das Geräusch durch ganz Südhessen zu hören ist. Dann setzte ich ein sanftes Lächeln auf, drehe die Quittung des Hotels Siegfriedbrunnen wieder auf den Kopf und schiebe das Stück Papier zurück.

    „Sie glauben doch nicht, dass ich mir so etwas hätte leisten können."

    „Sie nicht, aber Frau Joost."

    „Das ist ja lächerlich, antworte ich etwas zu empört. Ich komme mir selber schon verdächtig vor. „Sie ist … ähm … nein … sie war schließlich verheiratet.

    „Pah, prustet Burkhart über den Tisch, „als ob das ein Grund wäre, nicht miteinander ins Bett zu gehen.

    Während ich mich weiterhin bemühe, mein unschuldiges Lächeln aufrecht zu erhalten, schießt der Hauptkommissar mit seinem Oberkörper über den Tisch. Instinktiv weiche ich zurück.

    „Charlotte Joost hat Sie ausgenutzt. Schneller Sex, nichts weiter. Ein kleines Abenteuer, bis Sie zu langweilig wurden. Frau Joost hat Sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, weggeworfen, entsorgt. Weiter nichts. Einfach nur eine billige Affäre."

    Wieder recke ich meinen Kopf und konzentriere mich aufs Atmen. Ich weiß, dass er mich provozieren will. Ich muss mich zusammenreißen. Einatmen, ausatmen. Die Nummer mit der Quittung ist bestimmt nur ein Trick. Ich schließe meine Augen für einen kurzen Moment und denke nur an eins: Übermorgen ist Weihnachten. Weihnachten will ich zu Hause sein!

    Burkhart weicht ein Stück zurück und lächelt. „Kennen Sie den Film Pretty Woman?"

    Ich nicke.

    „Fast so wie bei Ihnen, nicht wahr? Mit dem Unterschied, dass es kein Happy End gibt. Im Film ist der reiche Sack mit der Nutte zusammengeblieben."

    Einatmen, ausatmen. Ich kralle die Finger meiner Hände so heftig ineinander, dass sich meine Fingernägel tief in das Fleisch meiner Haut bohren. Wut brennt in meinem Bauch und ich beiße mir auf die Lippen. Wenn ich jetzt die Kontrolle verliere, habe ich verloren. Nur noch zwei Tage bis Weihnachten.

    Im Juli und August verbrachten wir jede Woche mindestens eine Nacht im Hotel Siegfriedbrunnen. Charlottes Mann war häufig auf Geschäftsreisen und zu Hause in Zwingenberg wartete niemand auf sie. Charlotte musste gegenüber niemandem Rechenschaft ablegen, wo sie die Nacht verbrachte.

    An unsere letzte Nacht erinnere ich mich ganz genau: Sie hatte ihren Kopf auf meine Schulter gebettet und ich hatte meine Arme um ihren warmen Körper geschlungen. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen, hob meinen Kopf bis meine Lippen ihr Ohrläppchen fast berührten und stellte ihr die Frage, die mir seit Wochen auf der Seele brannte: „Könntest Du dir vorstellen, für immer mit mir zusammen zu bleiben?"

    Sie starrte mich an, als hätte sie nicht verstanden.

    Mir wurde unerträglich heiß und ich stammelte: „Ich meine … ich meine ohne Deinen Mann. Nur Du und ich. Irgendwo … irgendwo in einer schicken Wohnung in Zwingenberg."

    Charlotte sprang aus dem Bett und fuhr mich entgeistert an: „Das meinst Du doch wohl nicht Ernst, oder?"

    Können Sie sich vorstellen, wie weh diese Reaktion getan hat? Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich denke, dass mich bisher niemand so sehr verletzt hat, wie Charlotte in diesem Moment. Wahrscheinlich überrascht es Sie jetzt nicht besonders – aber diese Nacht war die letzte, die wir gemeinsam im Hotel Siegfriedbrunnen verbrachten.

    Burkhart setzt noch einmal nach: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Ihre Kollegen nichts bemerkt haben! Dieses offensichtliche Techtelmechtel! Ein heißer Blick hier, ein schnelle Berührung da. Dann und wann ein heimliches Küsschen auf die Wange und hier und da an fester Griff an den Hintern! Und Sie glauben allen Ernstes, das hätte niemand bemerkt?"

    Ich schüttele den Kopf und gebe mir Mühe, meiner Mimik einen verständnislosen Ausdruck zu geben.

    Burkhart wird lauter: „Und dann behandelt Charlotte Sie plötzlich wie Luft! Glauben Sie etwa, dass Ihren Kollegen das nicht aufgefallen ist? Wollten Sie etwa zu viel? Haben Sie Ihre Chefin unter Druck gesetzt? Hat Charlotte Joost Sie abblitzen lassen? Und Sie waren enttäuscht? Verletzt? Am Boden zerstört?"

    Burkhart macht eine kurze Pause und bemüht sich, die Dramatik zu steigern: „Und dann haben Sie Charlotte Joost getötet!"

    Während er demonstrativ nach dem roten Nylontäschchen mit dem weißen Kreuz greift und es mir förmlich unter die Nase hält, entkrampfen meine Hände sich wieder und ich bekomme deutlich besser Luft. Eben gerade dachte ich, er hätte mich erwischt. Jetzt glaube ich wieder, dass Burkhart blufft. Ich zucke einfach nur mit den Schultern und schaue ihm fest in die Augen. Weihnachten werde ich zu Hause feiern! Übermorgen!

    Nachdem Charlotte und ich unsere erste gemeinsame Nacht verbracht hatten, kramte Charlotte in ihrer Handtasche und hielt plötzlich diese Nylontasche mit dem weißen Kreuz in der Hand. Ich muss zugeben, dass ich neugierig war, also fragte ich sie nach dem Sinn dieser Tasche. Sie erklärte mir, dass sie seit ihrer Kindheit an einer Birkenpollen- und an einer Apfelallergie litt. Dafür gab es in der Medizin sogar einen Fachbegriff: Kreuzallergie.

    Sie erzählte mir mit ernster Miene, dass sie als Teenager nach einem herzhaften Biss in einen Apfel mit einem anaphylaktischen Schock in eine Klinik eingeliefert werden musste. Ich staunte und konnte es kaum glauben – aber tatsächlich hatte ein Apfel ihr beinahe das Leben gekostet.

    Seitdem hatte Charlotte ein Notfall-Set dabei: Diese kleine, rote Nylontasche mit dem weißen Kreuz. In der Tasche befanden sich ein Adrenalin-Autoinjektor, ein Kortison-Präparat und Antihistamin-Tabletten.

    Burkhart zupft einen Moment lang an der roten Nylontasche. Der Hauptkommissar bemüht sich zwar um einen neutralen Gesichtsausdruck, aber ich kann deutlich erkennen, dass er enttäuscht ist.

    Plötzlich stelle ich mir selber die Frage, welches Bild er wohl von mir hat? Das eines kleinen Mäuschens, das unter dem kleinsten Druck weinend zusammenbricht? Das einer schwachen Frau, die sich an der starken Schulter des Kommissars anlehnt, um endlich ein Geständnis ablegen zu dürfen? – Pah, nicht mit mir, Herr Kommissar!

    Wieder kramt Burkhart in seinem Tweed-Jackett. Dieses Mal zieht er Fotos hervor. Er schaut sie intensiv an, sortiert sie, nickt zufrieden und legt sie der Reihe nach vor mir ab. Ich schaue mir die Fotos an und bin ebenfalls zufrieden.

    Das erste Foto zeigt eine Übersichtsaufnahme. Charlotte liegt auf den feuchten Pflastersteinen des historischen Marktplatzes in Zwingenberg. Am oberen Rand des Fotos erkennt man die Weihnachtsmarktbuden, die sich wie Perlen an einer Schnur reihen. Auf den feuchten Pflastersteinen spiegeln sich tausende kleine Lichter wider – nur Charlotte stört die weihnachtliche Atmosphäre des Fotos.

    Das zweite Foto zeigt eine Aufnahme von Charlottes Körper. Sie liegt nicht mehr so da, wie ich sie direkt nach ihrem Zusammenbruch gesehen habe. Ich denke, dass das an den Wiederbelebungsversuchen der Passanten und des Notarztes liegt.

    Ein Schauer fährt durch meinen Körper, als ich an ihre warme Haut denke, die dort im eisigen Nieselregen auf den dunklen Pflastersteinen liegt.

    Das dritte Foto zeigt eine Detailaufnahme von Charlottes Gesicht. Ihre Augen geschlossen, ihre Geschichtszüge wirken entspannt. Kein Anzeichen von der wahnsinnigen Panik, die sie direkt vor ihrem Tod gehabt haben muss.

    Hauptkommissar Burkhart beobachtet mich genau. Mir liegt zwar ein Kommentar auf den Lippen, ich kann ihn aber nur zu Ihnen sagen, denn Burkhart würde ihn sicherlich falsch verstehen: „Die Schlampe hat bekommen, was sie verdient hat!"

    Schließlich lehne ich mich zurück und lächele Burkhart an. „Kein schöner Tod", sage ich zu ihm.

    Burkhart runzelt die Stirn und wirkt enttäuscht. Und ich werde immer sicherer. Zwei Tage noch bis zum Heiligen Abend.

    Wie jedes Jahr fand letzte Woche der traditionelle Glühwein-Nachmittag statt, zu dem Charlotte ihre besten Kunden auf den Weihnachtsmarkt nach Zwingenberg einlud. Charlotte schritt erhobenen Hauptes voraus und wir folgten ihr. Der Weg war recht einfach – er führte von Glühweinstand zu Glühweinstand. Die einzige, die keinen Tropfen Alkohol trank, war ich.

    Vielleicht war gerade das ein Fehler, denn es traf mich wie ein Stich ins Herz, als Charlotte der neuen Praktikantin in einem vermeintlich unbeobachteten Moment über die Wange strich. Ich sah Charlottes Verlangen wie Diamanten in ihren Augen funkeln.

    Ich hätte schreien können. Aber Sie können sich sicherlich vorstellen, dass ich mich in Charlottes Büro dann nicht mehr hätte sehen lassen können. Leider liegen die Jobs für Bürokräfte nicht auf der Straße. Also war ich weiterhin auf Charlottes Gunst angewiesen. In diesem Moment fühlte ich mich abhängig, benutzt und einsam. Unendlich einsam.

    Ich wollte eigentlich noch einmal mit Charlotte reden, aber sie war derart betrunken, dass dieses Gespräch für mich garantiert zu einem Desaster geworden wäre.

    Ja und dann … dann passierte es: Die betrunkene Mannschaft zog zur nächsten Glühweinbude und Charlotte lies ihre Handtasche liegen. Ich nahm das teure Krokodil-Leder an mich und trottete entnervt hinter der albern gackernden Gruppe her.

    Der Glühwein-Nachmittag dauerte noch einmal eine Stunde, dann löste Charlotte die Veranstaltung endlich auf. Sie lallte: „So meine Lieben! Ich bin so betrunken, dass es für mich jetzt höchste Zeit ist, nach Hause zu gehen."

    Glauben Sie ihr diesen Schwachsinn etwa? Ich jedenfalls nicht! Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie wohl lallen müssen: „So meine Lieben! Ich bin so heiß, dass es für mich jetzt höchste Zeit ist, die Praktikantin zu verführen."

    Die Gruppe zerstreute sich in alle Himmelsrichtungen und ich blieb alleine zurück. Der einzige Trost war die Weihnachtsbude, vor der ich stand. Auch wenn es jetzt lächerlich klingt oder irgendwie verrückt: Ich kaufte mir einen Liebesapfel und musste zum ersten Mal an diesem Abend lächeln.

    Was dann kam, hätte ich im Leben nicht erwartet. Vielleicht in einem schlechten Kurzkrimi, aber nicht im wirklichen Leben: Die Praktikantin kam zurück und lallte: „Die Handtasche! Du hast Charlottes Handtasche!"

    Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. „Upps", antwortete ich und drückte sie ihr in die Hand. Sie lächelte und ich schaute sie an. Ich erwiderte ihr Lächeln, öffnete meine Lippen leicht und fuhr mit meiner Zungenspitze über die braunrote Zuckerglasur meines Liebesapfels. Sie hob die Augenbrauen und schaute mich mit einem Blick an, der die Düsenjäger in meinem Bauch noch einmal starten ließ.

    Ich weiß heute nicht mehr, warum, aber ich drehte den Liebesapfel in der Hand und hielt ihr die feuchte Zuckerglasur entgegen. Sie blinzelte und biss ab. Dann drehte sie sich um und verschwand in der Menschenmenge.

    Einen Moment lang dachte ich, was wohl

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