Lesereise Finnland: Das letzte Postamt diesseits des Polarsterns
Von Helge Sobik
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Über dieses E-Book
ihre Schamanen zwischen den Welten wandern. Und für manche Menschen ist es in den dünn besiedelten Weiten Nordfinnlands noch heute so. Maarit Paadar ist Samin und erinnert sich an die Zeit, als Mensch und Natur noch eine Einheit bildeten. Diesseits des Polarsterns gab es keine Minuten und Stunden, nur Jahreszeiten - lange dunkle Winter und kurze, dafür lebensfrohe Sommer, wenn die Sonne sogar im Süden des Landes für zwanzig Stunden am Himmel steht.
Helge Sobik hat Maarit Paadar in Inari, 350 Kilometer nördlich des Polarkreises, besucht und ihre Geschichte
aufgeschrieben. Er berichtet von den letzten Schamanen des Nordens, ist mit Rentierzüchtern in Lapplands Winter unterwegs. Und er besucht den echten Weihnachtsmann in Rovaniemi, wo der alte Herr täglich Sprechstunde abhält und Autogrammkarten signiert. Hightech und größter Wohlstand neben einsamer Wildnis, Weltkultur in der Hauptstadt Helsinki neben Geisterglauben im Norden, rund zweihunderttausend Seen, endlose Wälder und viel Platz bis zum nächsten Nachbarn, aber versorgt von einem flächendeckenden Handynetz - Finnland ist ein großes Abenteuer mit geringem Risiko.
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Buchvorschau
Lesereise Finnland - Helge Sobik
Diesseits des Polarsterns
Ein Leben im Geheimen: die letzten Schamanen des Nordens
Ihr Haus gibt es hundertmal. Tausendmal. Es ist wie alle in Nordfinnland. Aus Holz, im Wald, hat CD-Spieler, Mikrowelle und keine Gardinen an den Fenstern. Das Haus ist fest in der Gegenwart fundamentiert. Die Vergangenheit ist zweihundert Meter entfernt und steht im Hof: die Jurte der Samen. In diesem Zelt hat das Jetzt keinen Platz, denn hier reist Maarit Paadar im Licht des Lagerfeuers weit zurück ins Dunkel der Zeiten, als Mensch und Wind noch miteinander reden konnten. Hier schlägt sie die Trommel der Schamanen und singt die joiks, die samischen Lieder vergangener Jahrhunderte. Hier erzählt sie die Geschichten ihrer Vorfahren aus den Zeiten, als die Kinder in Lappland noch mit den Geistern spielen und die Erwachsenen mit den Tieren sprechen konnten. Für manche ist es in den dünn besiedelten Weiten Nordfinnlands noch heute so. Maarit Paadar gehört dazu.
Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Aus der Jurte steigt Rauch in den Himmel und in ihrer Mitte knistert das Feuer, auf dem Maarit Lachssuppe für ihre Gäste kocht. Die zurückhaltende, vielleicht sechzigjährige Frau mit dem dünnen, dunklen Haar hockt auf einem Baumstumpf, lächelt und wippt mit ihren Schuhen aus Rentierfell. Ihre Augen blicken in die Flammen, als lüden sie sich auf und saugten dort Energie. »Manchmal«, erzählt sie, »treffen wir uns hier mit den samischen Familien der Umgebung, singen, lachen. Und reisen in Gedanken in die Vergangenheit.«
Maarits Muttersprache ist Nord-, die ihres Mannes Intoo ist Inarisamisch, und als sich die beiden kennenlernten, konnten sie sich nicht in ihren Sprachen miteinander unterhalten. Zu unterschiedlich sind die insgesamt vier verschiedenen Idiome der Ureinwohner Lapplands. Maarit und Intoo mussten auf Finnisch flirten. Heute haben sie drei Kinder, die die Sprachen ihrer Eltern verstehen, aber nicht mehr sprechen – und sechs Enkel, die ihre Großeltern lieben, doch mit Samisch nichts mehr anfangen können.
Wenn die Enkel in Inari fast vierhundert Kilometer nördlich des Polarkreises zu Besuch sind, erzählt Maarit Geschichten. Sie muss sie nicht vorlesen. Sie braucht kein Märchenbuch. Sie hat die Geschichten selbst erlebt, denn als Maarit jung war, zeigten sich die Geister häufiger als heute. Früher, wenn sie mit ihrer Mutter Schafe zum Tenojoki-Fluss in Nordlappland brachte, kamen ihnen Herden bunt gescheckter Schafe entgegen, die von menschlichen Wesen in roter Tracht begleitet wurden. Die Samen tragen traditionell blaue Kluft – die Farbe Rot ist Göttern und Geistern vorbehalten, und gescheckte Tiere besitzen ebenfalls nur die Götter: »Die Fremden kamen uns bis auf fünfzig Meter nahe, ehe sie plötzlich verschwanden. Diese Wesen kannst du nur sehen, wenn du ihnen direkt entgegenschaust. Von der Seite sind sie unsichtbar. Sie verschwinden durch Ritzen zwischen den Felsen in die Unterwelt, wo alles spiegelbildlich zu unserer Welt existiert. Die Wesen leben nicht und sie sind nicht tot. Sie sind. Und manche Menschen können mit ihnen kommunizieren.« Sie deutet ein Kopfnicken an, als wollte sie ihre Worte unterstreichen.
Früher brauchte man dazu die Hilfe der Schamanen, der Religionsführer, die sich mit Fliegenpilzgift in tranceartige Rauschzustände versetzt haben. Noaidi wurden sie genannt. Heute gibt es die samische Religion nicht mehr. Christliche Missionare haben sie ausgerottet, die Weltenwanderer ermordet, ihre Kultgegenstände verbrannt. Heute existiert keine einzige der alten, mit Symbolen verzierten Schamanentrommeln mehr in Lappland. Die wenigen, die das Feuerinferno der christlichen Mordbrenner überstanden haben, befinden sich in Museen im Ausland.
Nur etwa fünftausend Samen sind noch heute in Nordfinnland zu Hause, die meisten zwischen Inari und Utsjoki im äußersten Norden des Landes. Sie bilden eine eher verschlossene Gemeinschaft. Viele samische Familien gehen wie früher überwiegend ihren traditionellen Berufen als Rentierzüchter oder Fischer nach. Ihre Vorfahren waren Nomaden und zogen mit ihren Rentieren jahrhundertelang über Staatsgrenzen hinweg durch die kargen Weiten im äußersten Norden Skandinaviens. Heute leben sie in Häusern, die sich von denen ihrer nicht-samischen Nachbarn nicht mehr unterscheiden, und lediglich die Männer begleiten im Hochsommer ihre Herden – ohne die Grenze nach Russland zu verletzen, die den Osten Lapplands vom Rest des samischen Gebiets abgeschnitten hat und heute so unüberwindbar ist wie vor fünfzig Jahren. Viele junge Samen bekennen sich nicht mehr zur Kultur ihrer Väter, haben die Trachten abgelegt, wollen die Herden der Familie nicht übernehmen, sondern suchen ihr Glück im Süden, wo die Wintertage ein bisschen heller und ein bisschen wärmer sind. Und wo das Leben weniger hart ist.
Schon lange gibt sich in Finnisch-Lappland niemand mehr als Schamane aus. Zu lebendig ist die Erinnerung an die Gräueltaten, die den Weisen widerfuhren. Doch der samische Glaube lebt im Verborgenen hinter einer Mauer des Schweigens fort – und in den Seelen der Menschen, die ihren Naturgöttern nie völlig abgeschworen haben.
Noch heute opfern die Samen ihren Geistern, die offiziell Geschichte sind und insgeheim den Alltag bestimmen. Maarit kennt über ein Dutzend solcher Opferplätze in der Umgebung, und ihre hochbetagte Mutter reibt jedes Frühjahr einen heiligen Stein am Ufer des Inari-Sees mit dem Fett des ersten gefangenen Lachses der neuen Saison ein, um das Wohlwollen von Geistern und Göttern zu erbitten.
In vielen Details hat der alte Glaube überlebt: Nie würde ein Same einen Wacholder verletzen, nie einen Ast davon abbrechen, nie mit diesen Zweigen Fisch räuchern. Wacholder ist die heilige Pflanze der Spiegelwelt und gehört den Geistern. Nur ihre reifen Beeren darf man ernten – die unreifen sind tabu. Ihre Mutter war aufgebracht, als die kleine Maarit im Alter von vier, fünf Jahren einmal mit einem Wacholderzweig in der Hand nach Hause kam. Sie musste zu der Stelle zurückgehen, wo sie ihn abgebrochen hatte und ihn dort in die Erde stecken, damit die Geister ihn selber mitnehmen konnten. Noch heute werden samische Kinder erzogen, Wacholder nicht anzurühren. Die neue Welt hat sich dem Glauben von einst angepasst: In Lappland steht dieser Strauch inzwischen offiziell unter Naturschutz.
»Für uns gibt es Vögel, die Glück, und solche, die Unglück bringen«, erzählt Maarit. »Specht und Kuckuck bringen Unglück, und kommt ein Schneehuhn auf den Hof und bleibt, dann bringt es den Tod mit. Glück bringt der Kuovso-Vogel.« Auf Deutsch heißt er Unglückshäher. Sein finnischer Name ist schöner. Er bedeutet »Morgenröte«.
»Heute fehlt den meisten Menschen die Begabung, auf die innere Stimme und die Natur zu hören. Ihnen fehlt die Zeit und die Ruhe, zu fühlen, was um sie herum, unter und über ihnen geschieht«, sinniert Maarit. »Die Älteren haben Ahnungen. Wissen noch manchmal im Voraus, was geschehen wird. Spüren zum Beispiel, wenn sie Besuch bekommen werden. Das sind Reste des viel größeren Wissens von einst.«
Zwei Frauen oben in der Gegend von Utsjoki gibt es noch, die zwischen den Welten wandern können und es nur im Verborgenen tun. Fragte man sie, ob sie Schamaninnen seien – sie würden es bestreiten. Und milde lächeln. Von zwei, drei anderen bei Sevettijärvi weiter im Osten hört man vage. Die Flammen der geistlosen Missionare haben das Vertrauen für Jahrhunderte zerstört. Das Tor zur Welt der Götter und Geister existiert im Geheimen weiter, und manchmal spiegelt es sich in Maarit Paadars Augen. Sie erzählt viel. Und sie weiß mehr: Dinge, die sie niemals einem Fremden sagen würde.
Die Namen lebender Weltenwanderer sind tabu, die der Toten darf man preisgeben. Antti Helander war einer von ihnen – einer der letzten Schamanen Lapplands. Er hatte die Kraft der Jahrtausende. Vor einigen Jahren ist er neunzigjährig in Karasjoki gestorben. »Er hatte die Gabe, mehr zu hören und zu wissen als andere«, sagt Maarit, die ihn viermal besucht hat, um von Helander etwas über das