Die Kunst des Zwitscherns
Von Helwig Brunner, Kathrin Passig und Franz Schuh
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Über dieses E-Book
Die ganze Welt zwitschert, so oder so: Franz Schuh widmet sich als meisterlicher Essayist dem Zwitschern von Schluckspechten, ihrem Schwanken an der Kippe zwischen Souveränitätsutopie und Abhängigkeitsrealität, das zeigt, dass Leid und Verworfenheit ein gewichtiges Wort dabei mitzureden haben, wer oder was Menschen sind. Twitter hat dem arabischen Frühling zum Durchbruch verholfen, sagt man; ist Twittern also doch mehr als leeres Gezwitscher? fragt Kathrin Passig. Zur Frage, was Poesie und Vogelgezwitscher verbindet, ist wiederum Helwig Brunner zweifacher Experte, nicht nur als einer der wichtigsten jungen Lyriker im deutschsprachigen Raum, sondern auch als Ornithologe.
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Buchvorschau
Die Kunst des Zwitscherns - Helwig Brunner
Macho
Die Kunst des Zwitscherns
Zur Einleitung
Viele Tätigkeiten verbinden sich durch Gewohnheit. Wir stehen auf, ziehen uns an, duschen, putzen die Zähne und trinken Kaffee. Duschgel, Zahnpasta und Espressomarke assoziieren sich wohl nur durch Routine. Andere Tätigkeiten verbinden sich in der Sprache, durch Wortspiele und Analogien. Manche Verben haben vergnüglich abweichende Bedeutungen, erst recht in verschiedenen Sprachen und Dialekten. So ähnlich ist es mit dem Zwitschern. Eigentlich zwitschern nur die Vögel; inzwischen können aber auch Smartphone- und Internetbenutzer »zwitschern«, genauer gesagt: »twittern«. Und schließlich können wir – zumindest in Süddeutschland oder Österreich – »einen zwitschern«, vielleicht nur ausnahmsweise am Morgen. Immerhin fällt es nicht allzu schwer, sich eine Person vorzustellen, die den Tag mit einem »Tweet« über den vergangenen Abend beginnt, dabei einen Schluck Alkohol – gegen die Auswirkungen des am vergangenen Abend erworbenen Katers – »zwitschert«, während vor dem Fenster die Vögel – in heiliger Dreifaltigkeit des Zwitscherns – ihren Morgengesang anstimmen.
Lohnt diese Fantasie schon ein Buch? Gibt das Zwitschern so viele Druckseiten her? Die Antwort lautet unbedingt: Ja, wenn so großartige Autoren das Thema traktieren. In alphabetischer Reihenfolge haben sie die Frühjahrsvorlesungen 2012 an der Akademie Graz (vom 12. bis 14. März) bestritten: Helwig Brunner, Grazer Autor und Lyriker, der Biologie und Musik studiert hat, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Lichtungen; Kathrin Passig, Journalistin und Schriftstellerin aus Berlin, Expertin für Fragen des Internets und der sozialen Medien, Mitverfasserin der Lexika des Unwissens und Anleitungen zur Prokrastination und zum Verirren; Franz Schuh, Dichterphilosoph und Essayist aus Wien, zuletzt mit Der Krückenkaktus, Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod. Alle drei wurden mehrfach ausgezeichnet: Helwig Brunner mit dem Ernst-Meister-Förderpreis für Lyrik und dem Literaturstipendium des Landes Steiermark, Kathrin Passig mit dem Grimme-Preis und dem Ingeborg-Bachmann-Preis, Franz Schuh u. a. mit dem Tractatus des Philosophicums Lech, mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien und dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur. Alle drei sind herausragende Kenner der neuerdings viel gelobten Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften: im »Zwitscherchaos der Disziplinen«.
Zurück zum Zwitschern. Worauf könnte eine allgemeine Theorie des Zwitscherns abzielen, zu der Helwig Brunner, Kathrin Passig und Franz Schuh gleichermaßen beitragen? Zwitschern, so sieht es aus, ist eine Art von Operation, mit deren Hilfe öffentliche Räume strukturiert werden. Ein akustisches Signal zeigt irgendeine Anwesenheit an. Ein Vogel sagt: Hier bin ich. Ein Handy meldet einen Anruf. Ein Sender teilt einem Empfänger mit, dass er ihm eine Nachricht geschickt hat oder zu schicken beabsichtigt; er übermittelt ein metakommunikatives Signal, dessen Funktion einzig und allein darin besteht, die eigentliche Kommunikation anzukündigen. Eine SMS zwitschert. Der Zwang zur Metakommunikation kann sogar Rundfunk und Fernsehen erfassen: Im Katastrophenfall fahren Polizeistreifen mit Sirenen und Megafonen durch die Straßen, um die Bürger aufzufordern, ihre Radio- und Fernsehgeräte einzuschalten. Wir kennen viele Beispiele solcher Strategien; sie kommunizieren schlicht und einfach, dass kommuniziert werden soll. Im intimen Bereich sind es häufig Blicke, verliebte oder zornige Gesten, die ein Gegenüber einladen oder sogar zwingen können, sich auf ein Liebes- oder Streitgespräch einzulassen. Doch überall, wo nicht klar ist, an welchem Ort sich die potenziellen Kommunikationspartner aufhalten, sind laute akustische Zeichen effektiver.
Metakommunikative Signale sind darum so wichtig, weil sie dazu beitragen, direkte durch indirekte Kommunikation zu ersetzen. Auch in der direkten Kommunikation face-to-face sind die Signale, dass wir einander hören und wahrnehmen, dass wir auch etwas zum Gespräch beitragen wollen, dass wir einverstanden oder nicht einverstanden sind mit dem Gesagten, unverzichtbar; doch werden diese Signale durch kurze Interjektionen (mhm, ja, nicht wahr), Gesten der Zustimmung oder des Widerspruchs – fast unmerklich – ausgetauscht. Erst die Etablierung indirekter Kommunikationsordnungen, die Abwesenheit der Autoritäten, das Fehlen der Befehlenden, zwingt zur Ausarbeitung komplexer metakommunikativer Codes. Im Spätmittelalter waren die Stadtbewohner daran gewöhnt, diverse Glockensignale zu beachten: Während die Kirchenglocken den Beginn, den Höhepunkt oder das Ende der Kommunikation mit Gott markierten, riefen Gemeindeglocken zu gemeinsamer Beratung, die Werkglocken verkündeten den Arbeitsbeginn oder Feierabend, und die Schmiedeglocken priesen das Ende der Lärmbelästigung durch Handwerker. Wein- oder Bierglocken läuteten die Sperrstunde ein; Zinsglocken mahnten die säumigen Steuerzahler, und Marktglocken erklangen bei der Öffnung und Schließung des Marktes.
Wie könnte eine Geschichte der akustischen Signale geschrieben werden, die als metakommunikative Codes fungieren? Ein leises Klingeln ruft die Kinder zur Bescherung unter den Weihnachtsbaum; ein Gongschlag eröffnet die nächste Runde im Boxring. Pausenzeiten in der Schule oder in der Oper werden ebenso akustisch markiert wie der – mit drei Hammerschlägen – vollzogene Abschluss einer Auktion. Und nicht umsonst operierten die Konditionierungsexperimente des russischen Physiologen (und Nobelpreisträgers für Medizin) Ivan Petrovic Pawlow mit Klingelzeichen; auch die Hunde ließen sich bald daran gewöhnen, dass ein bestimmtes Geräusch die Fütterung ankündigte und ihren Speichelfluss vermehrte. Heute brauchen wir fast keine Glocken oder Klingeln mehr. Doch zunehmend leben wir in akustischen Signalräumen, in denen alle Akteure ihre Jingles brauchen und einsetzen. Nicht alles fließt, aber alles zwitschert. Wer zwitschert, nimmt Stellung: auf dem Baum, im Netz, in der Kneipe – oder in einem Buch. Wer zwitschert, besetzt einen Platz, mit Gesängen, mit Zitaten, mit Botschaften im Umfang von maximal hundertvierzig Zeichen, mit der Bestellung des nächsten Doppelten. Nicht einmal der einsamste Trinker ist übrigens von dieser Regel ausgenommen; im traurigsten Fall spricht er nur mehr mit sich selbst, vielleicht dennoch voller Zorn: ein Machttrinker, der – wie Franz Schuh treffend und einfühlsam bemerkt – »zum Zerstören am Ende nur sich selber hat«.
Helwig Brunner
»Das Zwitscherchaos eines ganzen Jahres«
Undisziplinierte und interdisziplinäre
Annäherungen an ein bioakustisches Phänomen
Verfügt das Tier nicht nur über Zeichen,
sondern auch über eine Sprache,