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Du weißt es nur noch nicht
Du weißt es nur noch nicht
Du weißt es nur noch nicht
eBook369 Seiten4 Stunden

Du weißt es nur noch nicht

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Über dieses E-Book

Als Schüler wurde Jesper von Unbekannten entführt und erst Wochen später gegen ein horrendes Lösegeld wieder freigelassen. Zehn Jahre später ist er immer noch ein Gefangener: Wegen einer Angststörung verlässt er seine Wohnung kaum, er hat keine Ausbildung, keine Arbeit und keine Freunde.
Seine neuen Nachbarn nehmen sich seiner an, unterstützen ihn und beziehen ihn in ihr Leben ein. Jesper genießt ihre Zuwendung und fühlt sich zu ihnen hingezogen. Doch dann macht er eine Entdeckung, die ihn aus der Bahn wirft - und es geschehen unerklärliche Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen.
SpracheDeutsch
Herausgeberdead soft verlag
Erscheinungsdatum11. Nov. 2014
ISBN9783944737829
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    Buchvorschau

    Du weißt es nur noch nicht - T.A. Wegberg

    T. A. Wegberg

    Du weißt es nur noch nicht

    Impressum

    © dead soft verlag, Mettingen 2014

    http://www.deadsoft.de

    © the author

    Cover: Irene Repp

    http://www.daylinart.webnode.com/

    Bildrechte:

    © Raisa Kanareva – shutterstock.com

    © yossarian – fotolia.com

    1 .Auflage

    ISBN 978-3-944737-81-2

    ISBN 978-3-944737-82-9 (epub)

    Roman

    Der Tag, an dem ich meine Familie zu zerstören begann, war ein Mittwoch. Mein letzter Schultag vor den Sommerferien. Ich hatte mein Zeugnis bekommen, es war ganz gut und würde meine Eltern zufriedenstellen. Und jetzt hatte ich frei und freute mich auf den Urlaub. Am Sonntag würden wir für vier Wochen nach Australien fliegen. Landung in Sydney, und dann mit einem Mietwagen die Ostküste hoch bis Darwin.

    Das erste Stück meines Heimwegs legte ich wie immer mit Anton zurück, der dann links abbiegen musste. Die letzten sieben Minuten ging ich allein durch ruhige Wohnstraßen. Ein dunkelblauer Van überholte mich langsam und parkte weiter vorne am Straßenrand. Auf der Beifahrerseite stieg eine Frau aus, hübsch und sehr gepflegt. Sie kam auf mich zu und sagte: „Jesper?"

    Ich blieb verblüfft vor ihr stehen.

    Mein erster großer, durch nichts zu entschuldigender Fehler.

    Obwohl ich die Frau noch nie gesehen hatte, ging ich spontan davon aus, dass sie eine Mitarbeiterin meines Vaters war. Sie sollte mir womöglich etwas von ihm ausrichten, oder er ließ mich von ihr abholen.

    Und so sagte ich ahnungslos: „Ja?"

    Mein zweiter großer Fehler.

    Die Hecktür des Vans öffnete sich, und zwei vollständig maskierte Personen sprangen heraus. Sie trugen schwarze Overalls und Sturmhauben und sogar Handschuhe. Sie packten mich an beiden Oberarmen. Noch ehe ich auch nur über Widerstand nachdenken konnte, war ich bereits auf die Ladefläche des Vans gestoßen worden. Ich konnte mich nicht abstützen, deshalb stürzte ich zuerst auf die Knie, dann prallte ich auf die Brust, dass mir die Luft aus der Lunge wich, und schließlich krachte mein Kinn gegen den harten Untergrund, wobei meine Zähne knackend aufeinanderschlugen.

    Die Türen flogen hinter mir zu. Einer der Maskierten bog mir wortlos die Arme hinter den Rücken und fesselte mich schmerzhaft mit einem Kabelbinder. Er wendete mich wie ein Stück Fleisch in der Pfanne und presste ein Stück silberfarbenes Klebeband auf meinen Mund. Und noch während ich verzweifelt in seinem Blick nach Gnade suchte, knotete er mir ein dunkles Tuch um die Augen.

    Ich wehrte mich nicht. Ich trat und schlug nicht nach ihm, ich schrie nicht, ich tat einfach nichts. In meinem Gehirn herrschte totaler Verarbeitungsnotstand: Es war mir unmöglich, diese Situation einzuschätzen, weil sie so grotesk von allem abwich, das ich je erlebt und mit dem ich je gerechnet hatte. Deshalb ließ ich meine Entführung praktisch widerstandslos zu.

    Mein dritter großer Fehler.

    Meine Wohnung ist sehr klein, sie hat nur ein einziges Zimmer, in dem ich schlafe, esse, fernsehe und am PC sitze. Dann gibt es noch eine winzige Küche und ein Bad. Die Fenster gehen zur Straße raus, und von der gegenüberliegenden Seite starren andere Fenster trotzig zurück. Abends sind die meisten davon erleuchtet.

    Ich kenne die Menschen, die dort leben, und ihre Gewohnheiten. Es gibt eine Familie mit zwei Kindern, eins davon ist noch ein Baby und sitzt bei den Mahlzeiten in einem Hochstuhl.

    Selbst auf diese Entfernung kann ich den Breirand erkennen, der seinen Mund umrahmt wie die Schminke eines Clowns. Die Mutter füttert das Baby geistesabwesend aus einem Plastikteller, ihre Aufmerksamkeit gehört dem Mann. Der sitzt ihr gegenüber und fuchtelt mit den Händen herum. Sein Kopf bewegt sich heftig, wenn er spricht. Ich vermute, dass er schreit. Wenn die Frau antwortet, wendet er sich ab und macht wegwerfende Gesten.

    Das Baby greift nach dem Plastikteller und stülpt ihn sich sorgfältig über den Kopf wie einen Hut. Langsam rinnt der Brei ihm über die Haare und über das lachende Gesicht. Die Frau dreht sich zu dem Baby um, reißt ihm den Teller aus den dicken Händen und greift sich hastig ein Stück Küchenkrepp, um das Baby damit abzuwischen. Ihr Mund bewegt sich zornig. Das Kind fängt an zu weinen. Sie zerrt es aus seinem Hochstuhl und eilt aus dem Raum, wobei sie das Baby mit ausgestreckten Armen von ihrem Körper weghält wie ein tropfendes Gefäß.

    Ich wende mich vom Fenster ab und schalte den Fernseher ein.

    Die Autofahrt dauerte nicht sehr lange. Ohne die Schmerzen hätte ich sie für einen bösen Traum gehalten. Womöglich war es auch ein übertriebener Scherz, und zum Abendbrot wäre ich wieder zu Hause.

    Das Auto hielt an, der Motor wurde abgestellt. Leute stiegen aus, auch der Mann, der mich gefesselt hatte, aber niemand sprach. Ich wartete vergeblich darauf, aus dem Wagen gezerrt zu werden. Stattdessen hörte ich das Geräusch der elektronischen Türverriegelung und sich entfernende Schritte.

    Es wurde still. Sehr, sehr still. Ich wagte lange Zeit nicht, mich zu bewegen.

    Kein Laut drang zu mir herein, weder Vogelgezwitscher noch Motorenlärm, ganz zu schweigen von menschlichen Stimmen. Schließlich trat ich ein paar Mal heftig gegen die Seitenwände, mehr aus Panik als hoffnungsvoll, denn ich war sicher, nicht gehört zu werden. Paradoxerweise stellte ich mir trotzdem die ganze Zeit vor, wie ich später – heute Abend, nahm ich an – von der Polizei befragt werden würde, und deshalb versuchte ich, mir Details einzuprägen. Das Dumme war nur: Es gab praktisch keine.

    Es roch, wie Autos von innen eben riechen, ein bisschen nach Öl oder Benzin, ein bisschen nach Plastik. Ich lag auf einer Gummimatte, es war warm im Fahrzeug, aber nicht unerträglich heiß, und wenn ich mich herumrollte, konnte ich die ungefähren Abmessungen meines Gefängnisses erahnen: wie die Ladefläche eines Lieferwagens eben. Alles war vollkommen nichtssagend und banal.

    Wegen der Stille, die mich umgab, stellte ich mir vor, dass der Wagen in einem Gebäude stand. In einem unterirdischen, komplett leeren Parkhaus vielleicht. Oder in einer Garage. Hier war niemand, den ich auf mich aufmerksam machen konnte, und die Entführer würden sich den Ort genau aus diesem Grund ausgesucht haben.

    Entführer. Erstmals ging ich dem Gedankengang nach, dass ich vielleicht wirklich von Wildfremden, von Gangstern verschleppt worden sein könnte. Wozu tun die so was normalerweise? Um Lösegeld zu erpressen. An diesem Punkt begannen meine Beine so stark zu zittern, dass ich aufhören musste, gegen die Innenwände des Autos zu treten.

    Meine Eltern hatten Geld, mein Vater war prominent, wir waren eine intakte und heile Familie. Jeder Gangster würde mit Recht erwarten, dass sie für das Leben ihres jüngsten Kindes eine ordentliche Summe hinblätterten. Wieso hatten wir nie an so was gedacht? Wieso hatte ich keine Leibwächter? Wieso musste ich zu Fuß von der Schule nach Hause gehen, wo jeder mich wie ein Blümchen vom Wegesrand pflücken konnte?

    Ich dachte an Entführungsfälle, von denen ich irgendwann mal gehört hatte. An Zeitungsmeldungen, Fernsehnachrichten, Aktenzeichen-XY-Sendungen und Tatort-Folgen. Ich erinnerte mich an Bilder von einem sargartigen Verschlag in einem Wald, wo ein entführtes Kind erstickt war. Überhaupt erinnerte ich mich ausschließlich an Entführungen, deren Opfer nicht überlebt hatten.

    Würde ich in diesem Auto sterben? Woran genau starb man, wenn man gefesselt, geknebelt und blind auf der Ladefläche eines Vans vergessen wurde? An Durst? An Hunger? Oder an der eigenen Angst? Und wie lange dauerte so ein Todeskampf?

    Beim Fernsehen bin ich weder wählerisch noch aufmerksam. Ich lasse mich einfach berieseln und konsumiere Bilder und Töne wie eine Familienpackung Vanilleeis. Wenn irgendetwas Bedrohliches und Unangenehmes gezeigt wird, schalte ich um. Ich vermeide Nachrichtensendungen, Krimis, Horrorfilme und politische Diskussionen. Alles andere findet meine Billigung.

    Die Werbeblocks liebe ich. Viele Spots kann ich auswendig mitsprechen oder -singen, und es fasziniert mich, dass sie in weniger als einer Minute so viel erzählen können: Geschichten von Familienglück, gesunder Ernährung, ewiger Liebe, sicherem Autofahren, Kochen im Freundeskreis, umjubelten sportlichen Leistungen und treuen Vierbeinern. Ein ganzes Leben in dreißig Sekunden, garniert mit einer unmissverständlichen Aufforderung zum Konsum.

    Die Teenie-Komödie, die jetzt im Fernsehen läuft, habe ich schon mal gesehen. Das stört mich nicht weiter – so weiß ich wenigstens, was mich erwartet –, aber ich stehe noch mal auf und stelle mich ans Fenster, um das Haus gegenüber zu betrachten. Stattdessen fällt mein Blick auf das Gesicht, das sich in meiner dunklen Scheibe spiegelt. Bin ich wirklich so blass, oder liegt das am blauen Licht des Fernsehers? Und meine Haare wirken etwas ungepflegt. Sie fallen mir glatt und glanzlos fast bis auf die Schultern. Ich werde sie morgen früh waschen, und ich weiß, ich sollte sie auch mal wieder schneiden lassen – aber das schaffe ich jetzt einfach noch nicht.

    Das letzte Mal war ich vor vier oder fünf Monaten beim Friseur, und ich bekam eine Panikattacke, noch ehe meine Haare trocken waren. Ich riss mir den Umhang von den Schultern, stotterte irgendwelche Entschuldigungen, schmiss einen Geldschein auf die Theke und rannte davon. Erst zu Hause merkte ich, dass ich meine Jacke hatte hängen lassen, aber ich hab mich nicht getraut, sie zu holen. Vielleicht hängt sie immer noch da an der Garderobe.

    Bis ich mit vierzehn meine Familie zerstörte, hatte ich das durchschnittlichste Leben, das man sich vorstellen kann. Ich lernte sprechen, laufen, lesen und schreiben, und das alles ohne große Mühe. Ich hielt meine Mutter für die schönste Frau der Welt. Ich zankte mit meiner älteren Schwester um das letzte Stück Kirschkuchen. Ich ging mit meinem Vater zum Fußball. Im Auto saß ich hinten rechts. Wenn ich nicht schlafen konnte, machte meine Mutter mir einen Becher Milch heiß und rührte Honig hinein.

    Angst hatte ich nur vor Verkehrsunfällen, vor dem Tod und vor meinem Erdkundelehrer.

    Hätte mich damals jemand gefragt, ob ich glücklich wäre, so hätte ich das bestimmt abgestritten. Glücklich? Vielleicht, wenn ich Klassenbester werde, wenn ich schneller rennen kann als Eilat, wenn Lisa-Marie mich zu ihrer Geburtstagsparty einlädt – möglichst nur mich –, wenn ich zehn Zentimeter größer bin und wenn dieser verdammte Pickel an meinem Kinn verschwunden ist. Und wenn ich die Xbox kriege.

    Vielleicht liegt es in der Natur des Glücks, dass man es im Nachhinein erkennt. Heute weiß ich, dass Glück von anderen Faktoren abhängt, als ich mit vierzehn glaubte. Ich war glücklich. Aber das ist zehn Jahre her.

    Ich wohne in einem großen, alten Mietshaus, das im Verlauf seiner Geschichte schon mehrfach umgebaut wurde. Der letzte Eigentümer hat ein paar der Wohnungen zu größeren Einheiten zusammengefasst und luxussaniert. Dann ging ihm das Geld aus. Deshalb befinden sich hinter der nach wie vor unrenovierten, dunkelgrauen und graffitibeschmierten Fassade sowohl großzügige Edelheime als auch trübselige Löcher wie meins.

    Auf meiner Etage, der vierten und obersten, gibt es zwei Wohnungen. Die andere ist eine der sanierten. Ich war noch nie drin, aber während der Umbauarbeiten stand die Eingangstür manchmal offen, und der Blick hinein war ungefähr vergleichbar mit dem ins Schloss Charlottenburg: spiegelnde Parkettböden, weiß lackierte doppelflügelige Türen mit Messingklinken, Stuckverzierungen und ein offener Kamin.

    Ich glaube, inzwischen sind da Leute eingezogen, jedenfalls habe ich letztes Wochenende ziemlich viel Gepolter und laute Stimmen gehört, und jetzt dringen abends ab und zu leise Geräusche an mein Ohr: das Rauschen von Wasser in den Leitungen, Musik oder Schritte.

    Ich weiß nicht, wer nebenan wohnt. Es interessiert mich auch nicht sonderlich. Ich hoffe einfach nur, dass ich den Leuten nie im Treppenhaus begegne, denn ich hasse es, grüßen oder sogar Smalltalk machen zu müssen. Im zweiten Stock wohnt eine alte Dame, die zum Glück selten rausgeht, weil sie schlecht laufen kann. Aber wenn ich ihr im Hausflur in die Arme laufe, textet sie mich sofort zu, und zwar bis zu fünfzehn Minuten lang. Sie ist wirklich freundlich und nett, sie erzählt von ihrer Enkelin und von ihrem Aquarellkurs und dass sie jetzt den Arzt wechseln will und so weiter.

    Trotzdem sind solche Unterhaltungen für mich eine Qual. Ich bin unvorbereitet, ich kann mir die Worte nicht sorgfältig zurechtlegen, mir fallen keine passenden Antworten ein, ich kriege Stress, ich fange an zu schwitzen, mein Herz rast – ich muss weg. Aber ich kann nicht, weil das grauenhaft unhöflich wäre.

    Neulich war ich gerade auf dem Weg nach unten, als ich hörte, wie sich in der zweiten Etage eine Tür öffnete, und ich hastete wieder zurück nach oben und verbarrikadierte mich in meiner Wohnung, bis es im Treppenhaus absolut ruhig war. Das hat allerdings gut zehn Minuten gedauert, denn die alte Dame hatte einen anderen Hausbewohner getroffen und machte mit ihm das, wovor ich feige geflüchtet war. Ich kam zu spät zu meinem Termin beim Jobcenter und kriegte Ärger.

    Bei uns zu Hause gab es nicht viel Streit, ehe ich meine Familie habe auseinanderbrechen lassen. Und wenn doch, dann zwischen mir und meiner Schwester Eva. Sie war vier Jahre älter als ich und genoss jeden einzelnen Tag davon, denn das bedeutete, dass sie mehr wusste, mehr konnte, mehr Ahnung hatte und natürlich auch mehr durfte. Zum Beispiel in ihrem Zimmer rauchen. Oder bei Manuel übernachten.

    Sie war seit zwei Monaten mit ihm zusammen, und von Anfang an beneidete ich sie um ihren Freund, weil er ein Abenteurer war, wild und furchtlos. Er hatte sich aus einem Lenkdrachen und einem Skateboard ein Sportgerät gebastelt, noch ehe es Kite-Landboards zu kaufen gab. Damit raste er über stillgelegte Flugplätze. Er war auch schon mal an einem Bungeeseil vom ParkInn-Hochhaus gesprungen und machte Freeclimbing. Wenn er bei uns übernachtete, sah ich ihn manchmal mit nacktem Oberkörper und konnte nicht aufhören, seine Bauchmuskeln anzustarren. Ich stellte mir vor, wie Eva ihn dort berührte und küsste, und dann schämte ich mich, weil dieser Gedanke mich so erregte.

    Ich kann das Einkaufen jetzt wirklich nicht mehr länger rauszögern, denn ich habe die letzte Rolle Klopapier angebrochen. Mutlos setze ich auch diesen Posten auf die ellenlange Liste an meinem Kühlschrank. Da ich solche Erledigungen immer aufschiebe bis zum Äußersten, muss ich am Ende so viel kaufen, dass ich es überhaupt nicht transportieren kann. Also lasse ich die Hälfte weg, und wenn ich nach Hause komme, muss ich direkt eine neue Liste schreiben mit allem, was ich diesmal nicht gekauft habe, weil ich es nicht tragen konnte. Jedes Mal nehme ich mir vor, in zwei oder drei Tagen wieder loszugehen. Mache ich natürlich dann doch nicht.

    Ich schlucke eine Aurorix, schiebe mir das Portemonnaie in die Gesäßtasche, nehme die beiden faltbaren und reißfesten Einkaufstaschen, stecke die Liste ein und atme vor meiner Wohnungstür tief durch, die Hand auf der Klinke. Komm schon, Jesper. Du gehst doch bloß einkaufen. Da ist nichts dabei. Millionen andere Menschen machen das jeden Tag. Manche machen es sogar gerne. Jetzt stell dich nicht so an.

    Bis zum Discounter laufe ich knapp zehn Minuten. Ich hebe den Kopf nur, wenn ich eine Straße überqueren muss, ansonsten konzentriere ich mich ausschließlich auf den Gehweg unmittelbar vor meinen Füßen. Ungefähr auf halbem Weg kommt mir eine Gruppe Teenies entgegen, lauter Mädchen um die sechzehn, die gackern und kichern und Handys ans Ohr pressen. Sie nehmen die gesamte Breite des Bürgersteigs ein.

    Ich kriege einen Schweißausbruch und breche nach rechts aus, dann merke ich, dass ich da nicht an ihnen vorbeikomme, weil ein Stromkasten im Weg ist, und ich scheue hektisch nach links, aber inzwischen sind die Mädchen ebenfalls in diese Richtung ausgewichen, und wir stehen jetzt unmittelbar voreinander.

    Eine ruft etwas, das ich nicht verstehe, alle brechen in Gelächter aus. Mir wird schwarz vor Augen. Endlich bildet sich eine Lücke zwischen ihnen, durch die ich mich quetsche wie durch ein Loch in der Gefängnismauer.

    „O mein Gott!", quiekt eins der Mädchen, das letzte Wort mit ganz hoher Stimme und in die Länge gezogen. Ihr Lachen brandet gegen meinen Rücken.

    Im Discounter stütze ich mich auf dem Griff des Einkaufswagens ab, denn meine Knie zittern immer noch. Genau wie meine Hand, mit der ich die Liste aus der Jackentasche krame. Ich muss mich jetzt konzentrieren. Jesper, verflucht noch mal! Konzentrier dich! Vergiss nicht wieder die wichtigsten Sachen, Mann!

    Das Schlimmste ist das Bezahlen. Ich gäbe was drum, wenn man einfach mit seinem Zeug rausgehen könnte und der Betrag direkt vom Konto abgebucht würde. Irgendwann wird es so was geben. Aber ich fürchte, für mich kommt das zu spät.

    Schon das Stehen in der Warteschlange ist ein Alptraum. Die Leute hinter mir haben nichts anderes zu tun, als mich anzustarren. Ich spüre ihre Blicke im Rücken. Sie registrieren den Schweißfilm auf meiner Haut, mein Zittern, meine unregelmäßige Atmung. Sie fragen sich, ob ich ein Drogenabhängiger auf Entzug bin, und recken den Hals, um in meinen Einkaufswagen zu gucken: Der kauft bestimmt massenhaft Alkohol. Missbilligend checken sie meine billigen Klamotten ab. Meine Turnschuhe haben Löcher, die Säume meiner Jeans sind ausgefranst, und verflucht noch mal, ich hab vergessen, mir die Haare zu waschen, dabei hatte ich mir das doch fest vorgenommen.

    Die Kassiererin guckt kaum hoch. Sie murmelt eine Begrüßung und fängt an, meine Waren über den Scanner zu ziehen, und ich kann mich damit beschäftigen, alles wieder in meinen Wagen zu befördern. „Dreiunddreißig vierundachtzig, sagt sie leidenschaftslos. Ich halte ihr meine EC-Karte hin, ohne sie anzuschauen. Sie schiebt sie in das Terminal. „Mit Grün bestätigen und die Geheimzahl eingeben. Gibt es irgendeinen Kunden, der nicht weiß, wie dieses Gerät funktioniert? Ich hoffe jedes Mal, dass die Kassiererin an dieser Stelle einfach mal den Mund hält.

    Das Schlimmste habe ich hinter mir. Jetzt noch den Rückweg meistern, und sobald ich meine Wohnung erreicht habe, kann ich ganz, ganz tief durchatmen. Ich hänge mir die prallvollen Taschen über die Schultern, eine links, eine rechts. Sie sind so schwer, dass ich nur kleine Schritte machen kann.

    Egal. Jeder davon bringt mich der Erlösung ein Stück näher. Weiter, weiter, weiter. Du hast es bald geschafft. Ein riesiger bärtiger Typ mit Lederweste und Jeansjacke kommt mir entgegen, und als ich mich mit angehaltenem Atem an ihm vorbeidrücken will, stolpere ich vor Panik über meine eigenen Füße. Er stößt einen komischen Laut aus, vermutlich ein verächtliches Lachen, aber in diesem Moment halte ich es für einen Kampfschrei und ducke mich seitlich weg, während ich versuche, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und dadurch gerate ich erst richtig ins Taumeln und pralle mitsamt meinen Taschen gegen eine Mauer. Aus den Augenwinkeln sehe ich zwei Jungs auf der anderen Straßenseite, zehn oder elf, die in meine Richtung grinsen.

    Ich setze die Taschen ab, lehne mich gegen die Mauer und schließe kurz die Augen. Der Bärtige ist weitergegangen. Meine Klamotten sind komplett durchgeschwitzt, und mir ist so schwindlig, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich bis nach Hause schaffe. Mit Mühe gelingt es mir, meine Atmung etwas zu verlangsamen. Ich wuchte die Taschen wieder hoch und taumele weiter.

    Als ich meine Wohnung erreiche, zittern meine Hände so stark, dass ich den Schlüssel erst nach mehreren Anläufen ins Schloss kriege. Ich lasse die Taschen zu Boden fallen, knalle die Tür hinter mir zu, schließe wie immer zweimal von innen ab und werfe mich dann bäuchlings auf meine Couch. Zehn oder zwanzig Minuten bleibe ich da liegen, mit geschlossenen Augen und hämmerndem Herzen, und warte, dass ich ruhiger werde.

    Schließlich packe ich die Einkaufstaschen aus und verstaue die Vorräte. Ich hab nicht mehr viel Kraft, deshalb komme ich nur langsam voran. Ist doch gut, Jesper. Es ist vorbei. Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit.

    Dann merke ich, dass ich das Klopapier vergessen habe.

    Heulend sacke ich neben dem Küchenschrank zu Boden.

    Mein Vater war Quizmaster. Als ich vierzehn war, moderierte er schon seit zwei Jahren eine Show, bei der die Kandidaten – drei Promis und drei Zuschauer, die sich für die Teilnahme beworben hatten – die verschiedensten Fragen beantworten mussten.

    Das Konzept der Sendung war nicht sonderlich originell. Ich glaube, ihr Reiz bestand hauptsächlich darin, dass ganz normale Menschen wie du und ich gegen Prominente antraten und oft genug bewiesen, dass sie mehr wussten, schlagfertiger waren und den Kopf besser aus der Schlinge ziehen konnten. Mein Vater blieb allerdings immer neutral, wofür er eine gute Presse bekam. Er hatte ein ausgleichendes, freundliches Wesen und behandelte alle seine Kandidaten mit derselben Liebenswürdigkeit. Ausgeschiedene Bankkauffrauen verabschiedete er ebenso herzlich wie gescheiterte Schlagersänger.

    Ja, es stimmt: Man verdient sehr gut beim Fernsehen, zumindest wenn man vor der Kamera steht. Wir hatten ein nagelneues Haus in grüner und ruhiger Stadtrandlage, das von einem bekannten Architekten entworfen worden war und fast ausschließlich aus Glasfronten bestand. Meine Eltern schliefen auf einem runden Wasserbett, und in unserer Garage standen drei blitzende neue Autos.

    In der Schule wurde ich zwar ab und zu auf meinen semiberühmten Vater angesprochen, aber insgesamt hielt sich die Aufmerksamkeit in Grenzen. Das lag sicher daran, dass diese Schule fast ausschließlich von den Kindern semiberühmter Eltern besucht wurde. Ich schrieb meine Englischhausaufgaben beim Sohn des neuseeländischen Konsuls ab, saß in der Mensa neben der Tochter des größten deutschen Tiernahrungsproduzenten und prügelte mich auf dem Schulhof mit Enrico, dessen Vater eine Privatbank führte.

    Mein bester Freund war Anton. Wenn ich bei ihm zu Besuch war, ernährten wir uns nur von belegten Broten und kalten Ravioli aus der Dose, denn seine Mutter führte ein total angesagtes Vier-Sterne-Restaurant und war regelmäßig in TV-Kochsendungen zu Gast, weshalb sie ihre heimische Küche höchstens betrat, um sich eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank zu holen.

    Und Lisa-Marie, um deren Gunst Anton und ich verbissen konkurrierten, hatte neben ihrem Zimmer ein eigenes, marmorgefliestes Bad mit einem in den Boden eingelassenen, beleuchteten Whirlpool, in dem wir alle drei mal eine unvergessliche Stunde verbrachten, während ihre Mutter im Erdgeschoss an ihrem neuesten Frauenromanbestseller schrieb und gar nicht ahnte, dass Gäste da waren.

    Es klingelt an meiner Tür.

    Es klingelt!

    An meiner Tür!

    Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, wie meine Türglocke sich anhört. Sofort bricht mir wieder der Schweiß aus allen Poren, und mein Herz setzt zu einem Gabba-Beat an. Ich rappele mich hoch und stehe schwankend vor Panik in der Küche, aus der ich mich nicht raustraue.

    Dann sage ich mir, dass das bestimmt Kinder waren. Ein Klingelstreich. Na klar, was denn sonst? Ich meine, ich brauche ja wohl nicht anzunehmen, dass irgendjemand tatsächlich zu mir will. Was für ein Quatsch. Erleichtert falte ich die leeren Einkaufsbeutel zusammen.

    Es klingelt erneut.

    Jetzt jagt mir so viel Adrenalin durch die Adern, dass ich fast einen Atemstillstand kriege. Und es wird noch schlimmer, als ich zusätzlich ein leises Klopfen höre. Scheiße! Da will tatsächlich jemand zu mir, und er steht bereits direkt vor meiner Wohnung!

    Ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Meine

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