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Auszeit: Kriminalroman aus der Eifel
Auszeit: Kriminalroman aus der Eifel
Auszeit: Kriminalroman aus der Eifel
eBook265 Seiten3 Stunden

Auszeit: Kriminalroman aus der Eifel

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Über dieses E-Book

Am Waldrand stehen im fahlen Licht der Nacht die nackten Fichtenstämme des Kermeters wie Skelette... Auf einem düsteren Wanderparkplatz bei Heimbach zerrt eine dunkle Gestalt eine Frauenleiche aus dem Kofferraum ihres Wagens und legt sie auf einer Holzbank ab. Wie eine müde Wanderin scheint sie schließlich dazusitzen und die Aussicht in das nächtliche Tal zu genießen. Sonja Senger hat im Trierer Polizeipräsidium das Handtuch geworfen, um Rückversetzung nach Köln gebeten und sich vor dem Dienstantritt eine Auszeit erstritten. Der Eifel ganz den Rücken zu kehren fällt ihr schwer. So macht sie sich auf die Suche nach einem kleinen Wochenendhaus im Nationalpark Eifel. Doch die tote Frau vom Wanderparkplatz bringt plötzlich Unruhe in ihre Bemühungen. Und bei dieser einen Toten bleibt es nicht ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Apr. 2012
ISBN9783954410217
Auszeit: Kriminalroman aus der Eifel

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    Buchvorschau

    Auszeit - Carola Clasen

    Regen.

    1. Kapitel

    Verloren hatte Hauptkommissarin Sonja Senger sich gefühlt, als sie vor fast sechs Wochen die Haustüre hinter sich ins Schloss fallen ließ, ihre Aktentasche auf die Kommode stellte und ihre Jacke an den Haken warf, ohne den Spiegel eines Blickes zu würdigen.

    »Warum haben wir nie geheiratet?«, fragte sie leise und fast beiläufig, als sie das Wohnzimmer betrat. Jérôme, ihr Lebensabschnittsgefährte, kauerte an seinem viel zu kleinen Schreibtisch vor dem Fenster zur Straße, Bücher und Hefte türmten sich um ihn herum. Voltaire, der stumme Hund, und Balzac, der dunkelgraue Kater, liefen auf Sonja zu. »Ab jetzt habe ich viel Zeit für euch«, flüsterte sie.

    »Was hast du gesagt?«

    »Nichts.« Sie legte sich mit Katz’ und Hund aufs Sofa und schloss die Augen. Als die Sitzfläche nachgab, nahm ihre Nase ihn wahr, ein bisschen nach Ingwer roch er immer.

    »Du bist früh heute.«

    »Ja.«

    »Warum?«

    »Ich hatte keine Lust mehr.«

    »Wir leben doch seit vielen Jahren glücklich zusammen ohne diesen, diesen ...«

    »Trauschein«, half sie aus und öffnete ein Auge.

    »Wenn du unbedingt willst, können wir das machen.«

    So, wie er das sagte, verlor sie augenblicklich die Lust dazu. »Ich verzichte.«

    Erlöst atmete er auf.

    »Ich geh’ da nie wieder hin.«

    »Alors!«

    Alle Tragik ihres Daseins konnte von einem einzigen unpassenden, demütigenden, gefühllosen, ungerechten Bartmann-Satz herrühren, der seine Stellung als ihr direkter Vorgesetzter im Trierer Polizeipräsidium schamlos ausnutzte.

    »Was hat er dieses Mal gesagt?«

    »Darüber möchte ich nicht sprechen.«

    »Es wäre ... stupide, deine Zukunft von einem Mann wie Bartmann abhängig zu machen«, ließ er sie wissen.

    »Fass!«, murmelte sie in Voltaires Ohr. Aber der dachte nicht daran, sondern leckte Jérômes Hand. Wenigstens der Kater fauchte leise.

    »Ich wäre froh, eine feste Anstellung zu haben. Mon dieu! Wasser in der Wüste.«

    »Ich gehe zurück nach Köln.«

    Ende, Schluss, Aus. Stille in der Drei-Zimmer-Wohnung in der Lindenstraße zu Trier, deren Miete bis jetzt von Sonja bezahlt wurde. Natürlich war es unvernünftig gewesen, nach einem Tobsuchtsanfall die Brocken hinzuwerfen und um Versetzung nach Köln zu bitten. Hatte sie vergessen, dass es dort nicht besser war?

    Bis 1998 in Köln ansässig und bedienstet, davon fast zehn Jahre als Hauptkommissarin, hatte man sie aufgrund von Personalverschiebungen nach Trier entsandt. Sie hatte versucht, es als eine Chance zu sehen. Aber das war es nicht gewesen. In einem immer noch von Männern dominierten Beruf war sie vom Regen in die Traufe gekommen. Fünf Jahre ihres Lebens hatte sie ein Dasein gefristet. Es hatte ein paar nette Kollegen gegeben, hier wie da, ein paar von ihnen waren Freunde geworden, einer sogar mehr als das, Roman Zorn. Mit ihm hatte sie den zweiten großen Fall gehabt. Das war auch schon drei Jahre her. Aus diesem Fall stammte Voltaire, der stumme Jack-Russel-Mix.

    Seit 1998 saß auch noch Balzac, der dunkelgraue Kater, in ihrem Wohnzimmer und sein Frauchen im Vollzug.

    Zwei spektakuläre Fälle in fünf Jahren, das war nicht gerade überwältigend. Danach war sie mit Lappalien abgespeist worden.

    Bartmann hatte sie heute Mittag nicht angefleht, ihre Entscheidung zu überdenken. Im Gegenteil. »Reisende soll man nicht aufhalten«, hatte er gesagt, im mitleidig säuselnden Ton, sofort zum Hörer gegriffen und in Köln nachgefragt, ob man Verwendung für sie hätte. Hatte man nicht.

    »Wann?«, hörte sie Jérôme jetzt fragen.

    »Im Moment ist dort keine Planstelle frei.«

    »Ah! Daher weht der Wind.«

    »Welcher Wind?«

    »Der Hochzeitswind.«

    Sonja kehrte ihm den Rücken zu und starrte die abgewetzte, dunkelrote Chenille der Sofalehne an. In Wahrheit hatte sie um eine Auszeit gebeten, um unbezahlten Urlaub, eine Bedenkzeit, um Verzug, um ... Sie konnte unmöglich nahtlos von einer Dienststelle in die andere gehen. Da warteten noch genug alte Kollegen in Köln, um ihr mit dem nötigen Spott zu begegnen.

    »Diese Eifel hier wird dir fehlen.«

    »Nicht, wenn ich meinen Traum verwirkliche.«

    »Welchen meinst du?« Als hätte sie Hunderte!

    »Das Eifelhäuschen.«

    »Mon dieu!« Er hielt nicht viel von einem Wochenendhaus, in seinen Augen Spießersache, wie Schrebergärten, Dauercampingplätze und Sandburgen.

    »Ein Bein in der Eifel, eines in Köln«, verteidigte Sonja ihren Traum. »Wenn ich bloß wüsste, wovon ich das bezahlen soll.«

    Jérôme stand auf und schlurfte zurück an seinen Schreibtisch. Sie wusste, wenn sie lange genug schwieg und ihn nachdenken ließ, würde er eine Lösung finden. So war es immer. Sie seufzte hörbar, damit er sie nicht unterwegs vergesse. Danach erhob sie sich, streifte dicht hinter ihm vorbei in die Küche, nicht ohne eine Hand über seine Schulter laufen zu lassen, und setzte Wasser auf. Sie füllte Kaffeepulver auf den Grund der Kanne und arrangierte Tassen und Teller auf einem runden Tablett. Als sie die Keksschachtel öffnete, kam Voltaire zu ihr und bettelte. »Es gibt nichts«, flüsterte sie und legte den Finger auf den Mund.

    Noch ehe das Wasser kochte, räusperte sich Jérôme. Und als Sonja es sprudelnd in die Kanne füllte, erklärte er: »Wenn wir meiner Erbtante Marie-Joe in der Provence ...«

    »Was!« Der Wasserkocher fiel ihr fast aus den Händen. »Du hast eine reiche Tante? Wieso weiß ich davon nichts?«

    Jérôme pflegte den Mantel des Schweigens über seine Vergangenheit zu legen. Er hatte Frankreich während des Studiums verlassen, er hatte keine Geschwister, seine Eltern waren schon vor langer Zeit gestorben, von einer Tante hatte er nie gesprochen. Schon gar nicht von einer reichen. Kein einziges Mal waren sie zusammen in seiner Heimat gewesen.

    Jetzt rollte er mit dem Drehstuhl herbei, stoppte in der Küchentür und hielt sich mit beiden Händen am Rahmen fest. »Ich wollte nicht, dass du mich meines Geldes wegen liebst.«

    »Ich liebe dich auch nicht, Quatsch, ich meine, das würde ich auch nie tun. Wann besuchen wir sie?«

    »Immer langsam. Ma chère tante ...«

    »Oh, das hört sich aber ziemlich reich an«, unterbrach sie ihn.

    »Als während der Eiszeit die Mammuts starben und der Mensch nichts mehr zu jagen fand, begann er Besitztümer anzuhäufen, Land, Werkzeuge, Vorräte. Zu jener Zeit wurden Gier, Habsucht und ...«

    Sonja winkte ab. Sie kannte seine Vorträge auswendig. »Wo wohnt sie?«

    »In Draguignan, im Département Var, im Hinterland der Côte d’Azur.«

    »Dort, wo die Schönen und Reichen wohnen?«

    »Im Hinterland haben noch nie die Schönen und Reichen gewohnt.«

    »Was nun?«

    »Hab ich gesagt, sie sei reich?«

    »Irgendwie schon.«

    »Hab ich dir gesagt, sie hasst Tiere?«

    »Tun das nicht alle Franzosen?«

    Jérôme mochte keine Haustiere. Hunde ebenso wenig wie Katzen. Es handelte sich um eine Art mühsame Duldung, zu der er sich herabließ, die aber jeden Moment in Aggression umschlagen konnte. Voltaire und Balzac lebten – ohne es zu ahnen – auf dünnem Eis in der Lindenstraße zu Trier.

    Aber Sonja ließ sich nicht beirren. Sie wollte diese herrlichen Aussichten! Nie wieder Bartmann! Vielleicht blieb ihr sogar Köln erspart. Nie mehr Kripo! Statt eines Eifelhäuschens ein Herrensitz? Alles kam jetzt auf das Bankkonto von ma chère tante an. Am Ende gar eine französische Landhochzeit? Eine neue Identität? Sonja Monteux! Klang das nicht nach Glück?

    »Was ist mit dem Kaffee?«, unterbrach er ihre Visionen.

    »Kommt.« Sie trug das Tablett zu seinem Schreibtisch, während er hinter ihr her rollte und dabei ein dünnes Hundebeinchen überfuhr. Voltaire jaulte auf. Aber Sonja überging die verabscheuungswürdige Tat, zu viel stand gerade auf dem Spiel. Stattdessen goss sie liebevoll Kaffee ein, gab die vorschriftsmäßige Menge Zucker und Milch dazu und rührte um.

    »Ich kann ihr mal schreiben.«

    Sie zog ein Blatt Papier aus der Schublade und legte einen Stift quer darüber.

    »Hast du ein Foto von dir?«

    »Ma chère tante wird von ihrem provenzalischen Hocker fallen, wenn sie sieht, wen du zu ehelichen gedenkst.«

    Während der nächsten Stunden verfasste er einen dreiseitigen, reichlich schwülstigen Liebesbrief. Auf einer Seite erzählte er, wie sehr er seine geliebte und einzige Tante Marie-Jo seit Jahren vermisse, auf der zweiten erwähnte er sein aufregendes, aber völlig verarmtes Dasein als missverstandener Außenseiter-Archäologe, der unermüdlich nach seinem großen Fund unterwegs sei. Auf Seite drei wurde der Name Sonja Senger erstmalig urkundlich erwähnt.

    Nach langem Suchen trieb er ein Foto auf, das sie und ihn zeigte, vor der Porta Nigra, geknipst von einem Passanten oder Kollegen. Dieser Mensch hatte Sonja auf dem falschen Fuß erwischt. Anstatt zu lächeln, hatte sie verkniffen in die Sonne geblinzelt.

    Jérômes letzter Satz lautete: »Ich kann es nicht abwarten, dich wiederzusehen.«

    Entweder hatte ma chère tante bereits das Zeitliche gesegnet, das Augenlicht verloren oder sie war des Lesens und Schreibens unkundig, jedenfalls geruhte sie während der folgenden sechs Wochen kein Lebenszeichen von sich zu geben.

    Am Samstag, dem 1. November, sah Sonja ihn in aller Frühe seinen alten Lederkoffer packen. »Ich muss sehen, was da unten los ist.«

    »Ah, ich verstehe, du willst in der Vergangenheit schwelgen. Ohne mich.«

    »Ich kann nicht mit der Tür ins Haus fallen.«

    »Bin ich eine Tür?« Sie beobachtete ihn, wie er sich auf der Suche nach Ausreden quälte.

    »Es könnte lange dauern.«

    »All die Frauen deines Lebens wieder aufzuspüren? Ich habe Zeit, wie du weißt. Warum rufst du nicht an? Gibt’s dort kein Telefon?«

    »Über Geld redet man nicht am Telefon.«

    Wenn er nicht wollte, wollte er nicht. »Hast du schon eine Fahrkarte?«, fragte Sonja.

    »Habe ich.« Er klopfte auf die Brusttasche seines Hemdes.

    »Hast du dein Diplom?«

    Er nickte.

    »Wann geht dein Zug?«

    »Gleich.«

    »Salut!«, schickte sie ihn weg und begleitete ihn nicht auf den Bahnsteig; sie beide hassten Abschiedsszenen.

    Als er sie ein letztes Mal küsste, war er in Gedanken schon weit weg. Sie sah ihm nach, Balzac und Voltaire kauerten neben ihr auf der Fensterbank, und alle drei hatten gemischte Gefühle. Wie schnell er sich bereit erklärt hatte, nach Frankreich zu fahren, trotz seiner Abneigung gegen ein Wochenendhäuschen. Ob ihn das Heimweh plagte? Vielleicht würde er nicht zurückkehren, sich mit dem Scheck von ma chère tante absetzen, unauffindbar zwischen den Lavendelfeldern der Provence untertauchen. Bald eine junge, zarte Französin an seiner Seite, ein Haufen zerzauster, schmutziger Kinder zu seinen Füßen. Sonja, würde er sich fragen, wer ist Sonja? Und dabei eine seiner schwarzen Locken zurückwerfen und unrasiert zum Horizont blinzeln.

    Die ersten Stunden verbrachte sie rast- und ratlos zwischen Sofa und Bett. Für die Bücher, die sie schon immer lesen wollte, fand sie nicht die Ausdauer, blätterte in einem, danach im nächsten und schlug auch das wieder zu. Versuchsweise tippte sie ihre alte Büro-Durchwahl ins Telefon. Am anderen Ende bellte eine unbekannte Männerstimme, jung war sie auf jeden Fall, jung und forsch. Sonja keuchte und simulierte einen Meuchelmord.

    »Hallo! Hören Sie, wenn Sie mir Ihren Namen nicht sagen, kann ich nichts für Sie tun. Hallo! Wer sind Sie?«

    Er würde sich mit Bartmann verstehen.

    Im Schutz der frühen Dunkelheit schlich sie – unter Vortäuschung eines Hundespaziergangs – ein paarmal um das Trierer PP und versuchte, mit einem Opernglas unauffällig ihr Büro auszuspionieren, weil es ihr keine Ruhe ließ, nicht zu wissen, wer in Gottes Namen nun an ihrer Stelle verschlissen wurde. Umsonst lauerte sie am Straßenrand, in der Hoffnung die ehemaligen Kollegen mit dem Neuen herauskommen zu sehen. Das Licht in ihrem Büro brannte bis in die späte Nacht.

    Jérôme meldete sich nicht. Ein gutes Zeichen?

    Sie setzte sich an seinen PC, Balzac kroch zu ihr auf den Schoß. Sie meldete sich im Internet an und sah sich in den Angebotslisten verschiedener Immobilienmakler in der Region um. Mit wachsender Begeisterung blätterte sie durch die Objekte: Villen aus Jugendstil- und Gründerzeit, imposante Herrensitze, Guts- und Reiterhöfe, ländliche Anwesen aller Art. Ausgeklügelte Programme erlaubten es ihr, die Objekte virtuell zu begehen, einen Blick aus den Fenstern zu werfen und die Dicke der Mauern zu überprüfen. Damit vergingen die Stunden wie im Nu.

    Gegen drei Uhr in der Frühe schickte sie eine Mail los. An eine gewisse Alice Bornheim, Immobilienmaklerin in Trier. Jetzt oder nie – ein Motto, das Sonja gefiel. Sie unterschrieb, um Alice Bornheim nicht zu verwirren, mit dem Namen des Absenders, Jérôme Monteux.

    Bevor sich ihr Hirn endgültig in den Schlaf verflüchtigte, machte sie vor ihrem geistigen Auge eine Bestandsaufnahme der Dinge, die sie unbedingt auf einen Herrensitz mitnehmen wollte. Dazu gehörten das riesige, durchgesessene Sofa aus dunkelroter Chenille, mit den geschwungenen Holzfüßen, Ohrensessel und Fußbänkchen, ihr Schreibtisch mitsamt Drehstuhl, beides ausgemusterte Dienstmöbel aus dem PP, der staubige Kronleuchter über dem Esstisch, das wackelige hohe Eisenbett und die vielen, lieb gewonnenen Kleinigkeiten, ohne die sie niemals im Leben mehr auskommen würde, so wie Balzac, Voltaire und ... Jérôme.

    2. Kapitel

    Auch Vera Rumberg war Immobilienmaklerin. Am Montagmorgen begrüßte sie, wie jeden anderen Morgen, ihre Sekretärin Rebecca. Wieder nahm sie sich vor, ihr bei nächster Gelegenheit etwas Vernünftiges zum Anziehen zu kaufen, ihre abgetragenen Sachen störten sie. Die Pullover waren ausgeleiert und die Ärmel immer zu lang und hingen bis auf die Fingerspitzen herunter. Das sah nach geerbten Kleidungsstücken aus. Ein Parfüm hatte sie ihr schon geschenkt, aber sie schien es nicht zu benutzen. Und jeden Tag unter die Dusche schien sie auch nicht zu gehen. Hatte sie denn niemanden, der sie mal beiseitenahm und ihr das zusteckte?

    »Hallo Rebecca! Schon zurück?«

    »Ja. Miriam hat sich nicht mehr nach mir umgedreht.«

    Rebecca brachte Miriam morgens zum Kindergarten und holte sie dort mittags auch wieder ab. Zwei- oder dreimal hatte Rebecca sich zu Beginn dieses Arrangements verspätet. Aufgelöst hatte Vera jedes Mal im Kindergarten angerufen. Aber Miriam und Rebecca hatten unterwegs jemanden getroffen und sich festgequatscht, am Ufer der Olef getrödelt oder etwas zu Hause vergessen. Es gab immer ganz einfache Erklärungen.

    Veras Verantwortungsgefühl für Miriam war größer geworden, seitdem sie alleinerziehend war. Einmal war sie den beiden sogar gefolgt, hatte sie beobachtet und war sich danach hinterlistig vorgekommen.

    Viel wusste sie nicht von Rebecca. Viel wollte sie von ihr auch nicht wissen. Sie hatte eine gute Menschenkenntnis. Der erste Eindruck ist immer der prägende. Und er hatte sich schließlich bestätigt.

    Über den kleinen Empfangsraum ging Vera hinüber zum Gäste-WC, wo sie sich sorgsam die Hände wusch. Danach war das Eincremen Pflicht, wenn sie nicht völlig ausgetrocknete Haut haben wollte; wie ihre Mutter, deren Hände von papierdünner Haut umspannt wurden, wie Drachenflügel. Als Geschäftsfrau konnte sie sich das nicht leisten.

    Außer Mutter und Robert gab es nicht mehr viele bekannte Gesichter. Eine Trennung – heutzutage alles andere als ungewöhnlich – war immer noch eine heikle Sache, die Unsicherheit und Ängste schürte. Auch im Falle Rumberg hatten sich danach Lager gebildet: Paare, die sich nicht entscheiden konnten, auf welche Seite sie sich stellen sollten, Frauen, die befürchteten, ihre Männer könnten auf die gleiche Idee kommen oder die Verlassene könne es nun gar auf ihre Männer abgesehen haben.

    Niemals hätte Vera geglaubt, dass ihr das widerfahren könnte. Robert und sie waren ein eingeschworenes Team gewesen. Miriam hatte ihr Glück vollkommen gemacht.

    Aber Anfang letzten Jahres hatte er aus heiterem Himmel plötzlich behauptet, sie betrüge ihn, er wisse alles, das sei für ihn das Ende. Trotz aller Beteuerungen konnte sie ihn nicht davon abbringen. Und ehe Vera sich versah, zog er aus und verlangte sogar die Scheidung. Manchmal dachte sie, er habe nur nach einem Vorwand gesucht, denn er brauchte nicht lange, um sich eine kleine Freundin zuzulegen, wie man ihr zutrug.

    Vera war nicht der Typ, der bettelte. Sie beschloss, allein zurechtzukommen, und die Beschäftigung mit ihrer Zukunft lenkte sie ab. Sie nahm sich einen guten Anwalt und erreichte, dass sie mit Miriam im gemeinsamen Haus in Schleiden wohnen bleiben durfte. Robert rückte das Anfangskapital für eine Selbstständigkeit heraus, das kleine Immobilienbüro im Erdgeschoss. Bis dahin hatte Vera bei Mierkheim & Co. auf Provisionsbasis gearbeitet. Es blieb bei der Trennung, die teure Scheidung schien überflüssig, solange sich nicht eine der beiden Parteien neu binden wollte. Und danach sah es zurzeit nicht aus. Vera zumindest hatte vorläufig die Nase voll von Männern.

    Für Miriam hatte sich kaum etwas geändert, es war fast besser geworden als zuvor. Robert war schon immer viel unterwegs gewesen, jetzt kam er wenigstens regelmäßig alle vierzehn Tage und nahm sie für ein Wochenende zu sich. Die Kleine konnte ansonsten in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben.

    Auch geschäftlich lief es ganz gut an, obwohl sie und ihr damaliger Chef eher das Gegenteil befürchtet hatten. Schließlich würde durch die strengen Auflagen des geplanten Nationalparks Eifel wertvolles Bauland unversehens verloren gehen und tabu sein. Im Gegenzug schien es aber unerwartet vielen Interessenten ein besonderes Privileg zu sein, innerhalb oder zumindest am Rande des ersten Nationalparks in Nordrhein-Westfalen wohnen zu dürfen.

    Vera versuchte Freundinnen von früher, aus ihrer Kindheit und Schulzeit, wieder ausfindig zu machen. Vor allem aber brauchte sie einen zuverlässigen Babysitter. Ihre Mutter hatte ihr angeboten, zu ihr zu ziehen und Miriam zu versorgen. Aber so gut verstanden sie sich nicht. Mutter hatte ein sehr einnehmendes Wesen. Vera hatte dankend abgelehnt und Rücksichtnahme vorgetäuscht. In Wahrheit fand sie die Vorstellung, mit ihrer Mutter in einem Haus zu leben, beklemmend.

    Im Mai dieses Jahres lernte sie dann glücklicherweise Rebecca im

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