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Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen: Mein Tor zur Freiheit
Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen: Mein Tor zur Freiheit
Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen: Mein Tor zur Freiheit
eBook310 Seiten4 Stunden

Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen: Mein Tor zur Freiheit

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Über dieses E-Book

Christina Didszun hat es geschafft. Sie ist frei. Nach 20 Jahren des Kummers, der Sorgen, der Verzweiflung und der immer wieder enttäuschten Hoffnung.

Nach 20 Jahren Heimlichkeiten, vor der Familie, den Freunden, dem Ehemann und ihren Kollegen.

Sie spielte ihre Rolle perfekt: die attraktive Geliebte, die erfolgreiche Geschäfts- und die sorgende Ehefrau. Jahrelang blieb sie auf der Suche, orientierte sich immer wieder neu, kämpfte, um sich zu befreien. Aber viele Jahre erfolglos.

Lange hat sie sich geschämt und von der Welt zurückgezogen. Jetzt aber ist sie überzeugt, dass es wichtig ist, ihre Erfahrungen weiterzugeben.

Lange hat sie mit sich gerungen, ihre Krankheit öffentlich zu machen, auch nachdem sie geheilt war.

Schonungslos beschreibt die Autorin die Ursachen ihrer Krankheit, erzählt von ihrer Kindheit, ihren Ängsten, dem schleichenden Beginn ihrer Sucht und von den Versuchen ihr zu entkommen.

Bulimie (Ess- und Brechsucht) haben über eine Million Mädchen und zunehmend auch Jungen in Deutschland. Und was meist verschwiegen wird: 20 Prozent der Betroffenen sterben an dieser Krankheit, auch wenn als Todesursache etwas Anderes bescheinigt wird.

Christina Didszun macht mit ihrem Buch Mut, auch in den bittersten Stunden der Krankheit nicht aufzugeben. Detailliert beschreibt sie ihre Suche nach sich selbst, erzählt von den unterschiedlichsten Methoden, sich von der Krankheit zu befreien, bis sie endlich ihren Weg zur Freiheit gefunden hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum8. Mai 2012
ISBN9783937717876
Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen: Mein Tor zur Freiheit

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    Buchvorschau

    Als der Schmerz aufhörte, die Seele zu essen - Christina Didszun

    Didszun

    1

    Die frühesten Erinnerungen aus meiner Kindheit haben sich fest in mein Gehirn und meine Seele eingebrannt. Noch heute schnürt mir das Bild, das vor meinem geistigen Auge aufsteigt, die Kehle zu und dieselben Gefühle wie damals machen sich in mir breit. Ich spüre die gleiche Ohnmacht und Hilflosigkeit, denselben tiefen Schmerz.

    Es ist immer die gleiche dramatische Abschiedsszene, die sich unter dem Dach aus dunkelroten Kletterrosen vor dem Haus meiner Großeltern abspielt. Meine Großmutter hält mich fest auf dem Arm und ich brülle wie am Spieß, während sich meine Eltern in Richtung Straße entfernen.

    Gleichzeitig mit diesem Bild höre ich die für mich so bedeutungsvollen Sätze: »Du kannst jetzt nicht mitfahren, Mama und Papa müssen arbeiten, Geld verdienen, damit du es später einmal besser hast.« Meine Großmutter, die diese Sätze noch oft wiederholen wird, steht mit mir, diesem in Tränen aufgelösten Häufchen Unglück, auf der obersten Treppenstufe vor ihrem kleinen Einfamilienhaus. Zwischen meinen Eltern und uns befindet sich mittlerweile die Treppe, dann ein mir endlos lang erscheinender Steinweg, der Gartenzaun und der Bürgersteig. Hilflos strample ich mit den Beinen und meine kleinen Ärmchen zeigen in Richtung meiner Eltern, die sich nach einem kurzen Besuch am Sonntag auf den Heimweg machen. Mit meinen anderthalb Jahren kann ich nicht begreifen, was hier vor sich geht. Kopfschüttelnd öffnet mein Vater die Wagentür, um gleich darauf im Auto zu verschwinden und den Motor anzulassen. Meine Mutter bleibt noch einen Augenblick stehen, dreht sich nach mir um und winkt mir lachend ein letztes Mal zu. Dann steigt auch sie in das schöne große Auto, das sie sich so mühevoll erarbeitet haben, wie man mir immer wieder sagt. Der Motor heult kurz auf und sanft setzt sich der Wagen in Bewegung. Eine Welt bricht für mich zusammen. Eine Welt, die eng mit meiner Mutter verbunden ist, die Nähe, Wärme und Geborgenheit für mich bedeutet.

    Mein Schreien, das mittlerweile einer Sirene gleicht, will nicht aufhören. Im Gegenteil, von Minute zu Minute schwillt es weiter an. Großvater, der inzwischen das Gartentor abgeschlossen hat, schlurft die Stufen hoch und beschwert sich bei Großmutter über mein Gebrüll und darüber, was die Nachbarn wohl denken mögen. Inzwischen versucht Großmutter mich weiter zu beruhigen. Sie zeigt auf die Rosen, die sich kunstvoll am Geländer entlangranken und an der grauen Hauswand festklammern. Als das nichts hilft, wird ein Schlüssel vor meinem Gesicht hin und her geschwenkt. Doch ich will von den Rosen und dem Schlüssel nichts wissen. Das Einzige, was zählt, ist, dass ich meine Eltern nicht mehr sehe. Und das ist für mich nicht auszuhalten. Voller Wut, Trauer und Verzweiflung schlage ich um mich. Ein brennender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus. Hilflos geht meine Großmutter mit mir auf dem Arm ins Haus, um weiter irgendwelche Gegenstände zu suchen, die mich ablenken könnten. Doch ich lasse mich nicht beruhigen. Unaufhörlich rufe ich nach meiner Mami. Sie soll kommen und mich trösten. Sie soll wieder da sein. Ich will ihre Wärme und Nähe spüren. Die Tränen hören nicht auf, über meine Wangen zu kullern und das Schluchzen schüttelt meinen kleinen Körper. In ihrer Not legt mich meine Großmutter irgendwann auf die Couch, auf der ich endlich vor Erschöpfung einschlafe.

    Die Welt, die Mami hieß und mich wirklich glücklich machte, eröffnete sich mir, wenn überhaupt, nur sonntags. Den größten Teil meiner Kindheit verbrachte ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits, die mit der jüngeren Schwester meiner Mutter im Westen von Berlin in einer kleinen Vorstadtsiedlung wohnten. Bis es dazu kam, wurden mein zwei Jahre älterer Bruder und ich von den einen Großeltern zu den anderen geschickt. Von West nach Ost und von Ost nach West. Als dies zu aufwändig und politisch zu problematisch wurde, entschied man sich für diese Lösung. Ende der fünfziger Jahre war die Zeit wirtschaftlich hart, doch clevere Unternehmer, die ihre Chance ergriffen, konnten gute Geschäfte machen. Mein Vater, der aus dem Ostteil der Stadt kam, war erst als angestellter Fahrlehrer tätig, machte sich aber nach wenigen Jahren mit seiner ersten Fahrschule selbstständig. Meine Mutter unterstützte ihn dabei und so bauten sie in wenigen Jahren fünf Fahrschulen in Berlin auf. Der Aufbau ihres Unternehmens und dass es uns Kindern einmal besser gehen sollte, war die Begründung für meine ständige Unterbringung bei den Großeltern. Mein Bruder durfte irgendwann bei meinen Eltern bleiben. Daneben gab es einen weiteren Grund, über den jahrelang geschwiegen wurde, der jedoch unbewusst von Geburt an mein Leben bestimmte. Fakt war, dass mein Vater überhaupt keine Kinder wollte. Er mochte sie nicht, empfand sie als Quelle ständigen Ärgers und als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Frei und ungebunden wollte er sein, damit er ein Leben nach seiner Fasson führen konnte, ohne Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse meiner Mutter oder von uns Kindern. In der Hauptsache bestand sein Freiheitsbegriff darin, die Nächte mit Freunden und Bekannten zu verbringen. Dabei wurden gewisse Etablissements aufgesucht und es wurde ausschweifend gefeiert. So war ich als zweites Kind ebenso unerwünscht und lästig wie mein Bruder. Zwei Kinder konnte meine Mutter von sieben Schwangerschaften behalten, die anderen fünf musste sie abtreiben lassen. Verhütung war Frauensache und wenn es mal wieder passiert war, dann musste eben ein entsprechender Eingriff vorgenommen werden. Mit einer Totaloperation endete das »Theater mit dem Kinderkriegen«, wie mein Vater es nannte.

    Über fünfundzwanzig Jahre lebte ich in dem Glauben, dass die Entscheidung meiner Eltern, mich bei meinen Großeltern aufwachsen zu lassen, ausschließlich damit zu tun hatte, dass ihnen ihre Arbeit keine Zeit ließ, für mich zu sorgen. Doch das stimmte nicht, sondern war nur eine gut verpackte Lüge. Ich war ein unerwünschtes Kind. Eine Tatsache, die mich tief im Innern nie zur Ruhe kommen ließ. Wie viele andere Töchter auch, kämpfte ich um die Liebe meines Vaters, ohne zu ahnen, dass es sie gar nicht gab. Ich wollte seine innere Ablehnung nicht wahrhaben. In meiner Scheinwelt, die ich mir erschuf, war ich tief von der Liebe meines Vaters überzeugt.

    Sobald ich laufen konnte, wartete ich sonntags am Gartenzaun auf meine Eltern. Jedes vorbeifahrende Auto wurde anhand seines Motorengeräuschs, der Farbe oder Größe einer sorgfältigen Prüfung unterzogen, nur um wieder und wieder festzustellen, dass es das sehnsüchtig erwartete nicht war. Unzählige Sonntage verbrachte ich mit endlosem Warten. Nach dem Mittagessen fing es an und endete mit Einbruch der Dunkelheit. Gutes Zureden von Seiten meiner Großeltern half nichts, ich war nicht vom Zaun wegzubekommen. Stundenlang starrte ich auf die Straße und harrte geduldig aus, bis ich abends enttäuscht und traurig ins Bett gehen musste, weil meine Eltern mich wieder einmal »vergessen« hatten. Dabei konnte ich überhaupt nicht begreifen, wie das geschehen konnte. Schließlich war ich doch ihr kleines Mädchen, dem sie versprochen hatten, zu kommen. Stets bekam ich von meinen Großeltern die gleichen Erklärungen zu hören: Dass meine Eltern sicherlich von der Arbeit nicht weg konnten oder sonst etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen war. Damals glaubte ich noch an die Unfehlbarkeit meiner Eltern und war fest davon überzeugt, dass, wenn sie etwas versprochen hatten, sie es auch einhalten würden. Es sei denn, etwas ganz, ganz, ganz Wichtiges hinderte sie daran. Versprochen war versprochen. Später erfuhr ich, dass meine Mutter mehrmals von meinem Vater daran gehindert worden war, mich zu besuchen. In dem Moment, in dem sie losfahren wollte, gab er ihr eine weitere Aufgabe, die angeblich dringend erledigt werden musste.

    Von früher Kindheit an hatten Versprechen für mich etwas Bindendes. Die Enttäuschungen, die damit einhergingen, wenn sie nicht erfüllt wurden, erschütterten mein Herz jedes Mal aufs Neue. Doch trotz der vielen gebrochenen Versprechen, habe ich mir den Glauben daran bis heute bewahrt.

    Während meiner gesamten Kindheit vermisste ich meine Eltern. Dieses Gefühl hörte nie auf. Anstatt mich irgendwann damit abzufinden, wurde meine Sehnsucht immer größer und der innere Schmerz tiefer. Beständig wuchs in mir das Gefühl, nicht liebenswert genug zu sein. Darüber hinaus fühlte ich mich schuldig, dass meine Eltern so hart arbeiten mussten. Ich war fest davon überzeugt, dass ihr Leben einfacher wäre ohne mich.

    Obwohl meine Großeltern alles Erdenkliche taten, um mir meine Eltern zu ersetzen, fehlte mir die mütterliche Liebe, Nähe und Fürsorge. Es waren jedes Mal qualvolle Momente, wenn meine Eltern mich sonntags schreiend und verzweifelt in den Armen meiner Großmutter zurückließen.

    Weil meiner Familie mein Gebrüll nicht nur auf die Nerven ging, sondern wegen der Nachbarn auch peinlich war, wurde eine bunte Palette von Strategien entwickelt, die mir den Abschied erleichtern sollten. Einmal versprach mir Großmutter einen besonders schönen Kuchen zu backen, ein andermal sagte man mir, dass man mich das nächste Mal bestimmt mitnehmen würde, in der Hoffnung, dass ich es bis dahin vergessen hätte. Eine besonders schmerzliche Variante des Abschieds war, wenn Großmutter mit mir in den Keller oder in den Garten ging, um irgendetwas zu holen, während meine Eltern heimlich abfuhren. Diese hilflosen Aktionen bewirkten das genaue Gegenteil von dem, was meine Großmutter sich erhoffte und hatten zudem einen weiteren Effekt. Mein Misstrauen gegenüber dem, was Erwachsene sagten, wuchs und ich entwickelte feine Antennen für das, was um mich herum geschah. Natürlich durchschaute ich dieses Spiel mit der Zeit und wusste ganz genau, was geschehen würde, wenn meine Großmutter mit mir in den Keller ging. Trotzdem ließ ich mich darauf ein, ich wollte ja brav sein. Außerdem hoffte ich jedes Mal, dass ich mich täuschte und meine Eltern noch da sein würden, wenn wir wieder nach oben kamen.

    Damit die Sehnsucht mich nicht zu sehr schmerzte, versuchte meine Großmutter, die fehlende Mutterliebe auf ihre Art zu ersetzen. Sie war eine gütige, stille Frau, die auf sich allein gestellt mit meiner Mutter die Kriegstage überstanden hatte. Ein Leben lang begleiteten sie die Schrecknisse des Krieges, von denen sie immer wieder erzählen musste.

    Ich bezweifle, dass Großvater je der Mann ihrer Träume gewesen ist. Nach der Hochzeit gab sie ihm zuliebe ihre Stelle als Kunstgewerblerin und damit ihre Selbstständigkeit auf. Stolz verkündete er stets im Familienkreis, dass seine Frau es nicht nötig habe zu arbeiten, weil er sie allein versorgen könne. Wenn sie einmal »nicht richtig spurte«, was selten vorkam, wurde kurz die männliche Macht demonstriert, indem meinem Großvater »die Hand ausrutschte«. Mit der Hochzeit war Großmutter sein Eigentum geworden und musste sich ihm fügen. Gehorsam tat sie ihm diesen Gefallen, still, ohne zu klagen. Nie hörte ich aus ihrem Mund ein Wort der Unzufriedenheit oder des Aufbegehrens. Sie beschwerte sich weder darüber, dass sie bis zu ihrem Tode die wöchentliche Wäsche im Keller auf dem Waschbrett waschen musste noch, dass mit der Ofenheizung lediglich Wohn- und Esszimmer geheizt wurden und die restlichen Räume kalt blieben. Auch ihre schwere Nierenkrankheit, die sie seit dem dreißigsten Lebensjahr begleitete, ließ sie nie verzweifeln. Ich glaube, sie konnte alles ertragen, Hauptsache, es gab keinen Streit oder böse Worte. Sicherlich schützte sie sich so vor dem Jähzorn meines Großvaters, der, wenn erst einmal in Rage gebracht, nicht mehr zu bremsen war. Trotz alledem haderte sie nicht mit ihrem Schicksal. Nur manchmal, wenn sie von ihren heimlichen Verehrern aus vergangenen Tagen erzählte, blitzten ihre kleinen Äuglein verräterisch auf und zeugten von einer leisen Sehnsucht. Ich hörte Geschichten aus ihrem Leben, bevor es Großvater gab. Geschichten aus ihrer Jungmädchenzeit, bunt, schillernd und voll von Sehnsüchten und Wünschen an das Leben. Sie erzählte von ihrer Arbeit als Kunstgewerblerin, der Freude, die sie beim Entwerfen neuer Modellkleider empfand, von den vielen Verehrern, die sie abwechselnd ausführten und den vielen Chancen, die sie ausgeschlagen hatte, bis Großvater in ihr Leben trat. Bei diesen Erzählungen veränderte sich jedes Mal ihre Stimme. In einer anderen Tonlage sprach sie dann von Großvater und davon, dass sie der festen Überzeugung sei, mit ihm den besten Mann bekommen zu haben. Zum Schluss betonte sie immer, wie ehrlich, treu und bescheiden er wäre. Darüber hinaus würde er stets pünktlich nach Hause kommen, nie in Kneipen gehen und später eine gute Rente erhalten. Das waren ihre Werte, an die sie glaubte und die allein zählten. Dafür nahm sie in Kauf, dass er über sie bestimmte, nur das angeschafft wurde, was er wollte, nie verreist wurde und auch sonst alles nach seinem Willen geschah.

    Großmutter und ich lachten, sangen und scherzten den Tag über so lange, bis es vier Uhr wurde und Großvater von der Arbeit nach Hause kam. Von da an wurde den Rest des Tages fast nur noch geschwiegen und lediglich das Nötigste gesprochen. Freundinnen oder Bekannte, mit denen Großmutter sich hätte austauschen können, gab es nicht. Die hatte Großvater ihr, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, kurzerhand verboten. Aus dem Haus ging sie, auch wegen ihrer Krankheiten, nur zum Einkaufen oder zu Familienfeiern.

    Am glücklichsten war sie, wenn sie in ihrem Garten wühlen konnte. Er war ihr Ein und Alles. Dort schöpfte sie Kraft und holte sich Anerkennung. All die Blumen, Pflanzen und Obstbäume, die sie eigenhändig in die Erde gebracht hatte, waren ihr ganzer Stolz. Gläserweise wurden Pflaumen, Kirschen, Beeren und Pfirsiche eingeweckt oder zu Marmelade verarbeitet. Dutzende von Gläsern stapelten sich im Keller und warteten nur darauf, an die Familie verschenkt zu werden.

    Abends, wenn die Gartenarbeit beendet war, saß ich neben ihr auf der Couch und sah ihr zu, wie sie mit ihren schwieligen Händen edle Handarbeiten mit Gold- und Silberfäden anfertigte. Nadelmalerei nannte sie das und wie eine Malerin fertigte sie aus bunten Garnen die schönsten Blumenmotive bis in die kleinsten Schattierungen hinein. Bis ihr irgendwann mit den Jahren die Augen den Dienst versagten, häkelte, stickte, strickte und klöppelte sie ohne Unterlass. Schon früh hatte sie mir das Sticken beigebracht und mit fünf Jahren konnte ich bereits meine eigenen kleinen, bunten Kunstwerke zaubern. Das Bildnis eines kleinen Hundes war mein erstes Geschenk an meine Mutter. Es hängt noch heute eingerahmt im Flur und erinnert mich an meine Kindheit.

    Keinen Wunsch schlug Großmutter mir damals ab. Schließlich sollte ich es gut haben und die Eltern sollten sehen, wie prächtig ich mich in ihrer Obhut entwickelte.

    Meine nächste bewusste Erinnerung setzt erst im Alter von etwa vier bis fünf Jahren wieder ein. Mit einem Bild, in dem die Stille der Siedlung und der Gesang der Amsel durch mein Freudengeschrei unterbrochen wurde. Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief ich juchzend und voller Vorfreude am Gartenzaun auf und ab, dann mit fliegenden Zöpfen durch den Garten und ums Haus, damit alle von der Ankunft erfuhren, und wieder zurück in den Vorgarten. Es war endlich wieder Sonntag. Außer mir vor Freude und Ungeduld beobachtete ich atemlos, wie der Wagen meiner Eltern vor dem Haus einparkte. Mit dem Eintreffen meiner Familie verschwanden Ruhe und Beschaulichkeit im Krantorweg 26. Flink flogen meine kleinen Beinchen durch die Luft, fegten fast vor mir die Treppe nach oben, um den Schlüssel für das Gartentor zu holen. Gleich darauf sauste ich die Stufen wieder hinab, damit ich schnell das Schloss öffnen und meine Eltern umarmen konnte. Aufgeregt hüpfte ich am Tor, die sich öffnenden Wagentüren immer im Blick, von einem Bein auf das andere. Zappelnd hantierte ich am Schloss herum, sodass sich meist der Schlüssel verkantete. Dann schrie ich nach Großvaters Hilfe und hatte mir vor Aufregung, bis er endlich kam, schon fast in die Hose gemacht. Die Sekunden, die mich von meinen Eltern trennten, waren wie eine Ewigkeit. Aus der hinteren Wagentür stieg in der Regel mein Bruder, der mich verständnislos anschaute und pikiert die Augenbrauen hochzog. Er war jedes Mal peinlich berührt von meinem Gehabe. Schließlich passierte nichts weiter, als dass ein Familientreffen stattfand und es bei Großmutter den leckersten Kuchen der Welt gab.

    Ich hingegen sprang wie ein Gummiball unentwegt an meiner Mutter hoch. Dabei plapperte ich einfach drauflos, ohne darauf zu achten, ob das, was ich sagte, Sinn und Verstand hatte. Es gab so viel zu erzählen. In kürzester Zeit wurden alle großen und kleinen Vorkommnisse mitgeteilt, die sich seit unserem letzten Treffen ereignet hatten.

    Nach einer kurzen Runde durch den Garten, bei der Großmutter stolz ihre wunderschönen Blumenrabatten sowie ihr Obst und Gemüse präsentierte, versammelten wir uns um den sorgfältig gedeckten Kaffeetisch, an dem oftmals ein erster Streit zwischen meinem Bruder und mir ausbrach.

    Einmal hatte er mir einfach meinen Stuhl weggezogen und sich grinsend darauf gesetzt, was mich in höchste Aufregung versetzte, weil ich dadurch nicht mehr neben meiner Mutter sitzen konnte. Sofort begann ich jammernd an dem Stuhl zu zerren. Mein Bruder indes feixte weiter, hatte er doch genau den Knopf gedrückt, der mich sofort zum Schreien brachte. Meine Eltern, die von alledem nichts mitbekommen hatten, zuckten beim ersten Sirenenton zusammen und schwupp, schon hatte mein Bruder von meinem Großvater eine gewischt bekommen. Er verzog keine Miene, verließ meinen Stuhl und setzte sich, als wäre nichts gewesen, dorthin, wo er immer saß.

    Zwischen meinem Bruder und mir gab es jedes Mal Zank und Streit, wenn wir aufeinander trafen. Oft wurde ich dabei körperlich von ihm traktiert. Anschließend lief ich heulend in die Arme meiner Mutter, um mich über ihn zu beschweren. Wie sollten wir auch miteinander spielen können, wir waren uns so fremd. Mein Bruder beneidete mich vermutlich wegen des schönen Gartens und der vielen Köstlichkeiten, die Großmutter in der Küche zauberte und ich beneidete ihn, weil er bei meiner geliebten, so schmerzlich vermissten Mutter leben durfte.

    Dass die Bevorzugung, die wir uns jeweils unterstellten, nicht der Wahrheit entsprach, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen.

    Damit mich alle Welt lieb hatte, wurde ich zu einem mustergültigen Kind. Stets war ich darauf bedacht, freundlich zu sein und mich »anständig« zu benehmen. Denn, so hatte ich gelernt, folgsamen und artigen Kindern konnten Erwachsene keine Bitte abschlagen. Vermutlich hoffte ich auch, meine Eltern würden mich eines Tages mit zu sich nach Hause nehmen, wenn ich nur immer brav wäre.

    So verlernte ich nach und nach auf meine innere Stimme zu hören. Stattdessen richtete ich all meine Aufmerksamkeit nach außen, auf das, was andere Menschen von mir wollten und dachten.

    Wenn die Sehnsucht nach meiner Mutter ins Unermessliche stieg und mein Herz nach ihrer Liebe schrie, wurde ich wie von Zauberhand innerhalb weniger Stunden krank und bekam hohes Fieber. Dies geschah meist am Abend, so etwa gegen zehn Uhr. Da meine Großeltern kein Telefon hatten, musste mein Großvater sich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle machen und dann dauerte es noch etwa eine Stunde bis meine Eltern eintrafen. Der Anblick meiner Mutter und ihre Nähe reichten aus, um die Temperatur schlagartig zu senken. Mit leuchtenden Augen saß ich im Bett und freute mich über ihre Anwesenheit. Freudestrahlend erzählte ich ihr meinen letzten Traum oder was mich gerade bewegte. Darüber war mein Vater regelmäßig sehr verärgert und er schimpfte mit meinen Großeltern, weil ich wieder einmal nur »markiert« hätte. Das nächste Mal sollten sie sich doch vorher besser davon überzeugen, ob ich wirklich krank sei, schließlich wären sie weit über eine Stunde unterwegs. Trotzdem mussten sie oft in der Nacht kommen, um festzustellen, dass mein Fieber am Abklingen war, wenn sie eintrafen.

    Dass ich mir auf diese Art die mir fehlende Zuneigung und Liebe holte, war mir natürlich nicht bewusst. Doch die Worte meines Vaters, der mich als Simulantin bezeichnete, klangen in mir nach, ebenso die Tatsache, dass ich meine Großeltern und Eltern in Sorge versetzt hatte.

    So war meine Kindheit durch wiederkehrende lebensbedrohliche Fieberattacken geprägt und durch die andauernde Sorge der Großeltern um mein körperliches Wohlbefinden.

    Wie ein Damoklesschwert muss die Verantwortung über meinen Großeltern geschwebt haben. Sie ließen mich so gut wie nie aus den Augen. Sportliche Aktivitäten wurden von vornherein als gefährlich eingestuft und waren somit ausgeschlossen. Dass sie sich nur sorgten, wurde nie direkt ausgesprochen. Rad fahren, Rollschuh und Schlittschuh laufen durfte ich nur am Wochenende im Beisein meines Großvaters. Einem Verein beizutreten wurde zwar nie direkt verboten, mir aber geschickt ausgeredet. Man musste nur an mein schlechtes Gewissen appellieren. Ob ich Großvater wirklich zumuten möchte, mich so spät abzuholen? So ein Satz reichte aus, um jeden meiner Wünsche im Keim zu ersticken. Wie konnte ich so etwas nur erwarten? Tat man nicht schon genug für mich?

    Als mich mein Schulfreund Thomas im Alter von sieben Jahren fragte, ob ich gemeinsam mit ihm zum Turniertanzen gehen wolle, wurde mir auch dieser Wunsch auf die subtilste Art ausgeredet. »Stell dir nur vor, Kind, da musst du immer da sein, egal wie es dir geht. Du weißt doch, nach oben kommen nur die Besten und wenn du das nicht schaffst, bist du traurig. Da musst du auch tanzen, wenn dich die Schuhe drücken. Willst du die Eltern von deinem Schulfreund so belasten, dass sie dich immer mitnehmen? Wir können dich nicht zu den Turnieren bringen. Du weißt doch, dass wir kein Auto haben.« So ging es in einem fort. Das, was mich endgültig überzeugte, war der besorgte Hinweis »Denk daran, du wirst später immer unterwegs sein und in fremden Hotelzimmern schlafen müssen. Kein anständiger Mann will eine Tänzerin als Frau. Und du willst doch heiraten und Kinder haben?« Damit zerplatzte ein für allemal der Traum von der Turniertänzerin, die in wunderschönen Kleidern strahlend über das Parkett geführt wird.

    Welche Wendung hätte mein Leben genommen, wenn ich nur einmal die Chance gehabt hätte, mich durchzusetzen. Doch es gab nichts zum Durchsetzen. Nie wurden direkte Verbote ausgesprochen wie »Du darfst das nicht, weil …« Hätte man mir je etwas verboten, hätte ich mich ausprobieren können, taktieren lernen, streiten, nach Lösungen suchen oder mich vielleicht sogar über Verbote hinweggesetzt. Mit allen daraus resultierenden guten oder schlechten Folgen. Doch mit dieser subtilen Art, mir Schuldgefühle einzureden, lernte ich das Wichtigste im Leben nicht. Nie lernte ich für eine Sache zu kämpfen, die mir wichtig war. Mit Sicherheit haben meine Großeltern nicht böswillig gehandelt, sie wussten es einfach nicht besser. Mir meine Wünsche auszureden und mich so zu manipulieren, bis ich mich schuldig fühlte, war bequem. Diese Erziehungsmethode hatte allerdings weit reichende Konsequenzen für meine Entwicklung. Immer wenn ich im Laufe meines späteren Lebens bestimmte Wünsche hatte, sei es beruflicher oder privater Natur, versuchte ich, sie zuerst mit Begeisterung entgegen den Grundsätzen meiner Großmutter zu verwirklichen. Doch tief in mir schlummerten tausend Gründe, warum das Geschäft, die Beziehung nicht klappen würde. Daher probierte ich zu Beginn zwar alles aus, konnte die Begeisterung aber nicht halten, weil meine negativen Glaubenssätze dies verhinderten.

    Thomas suchte sich natürlich eine andere Partnerin, mit der er sich später einigen Erfolg ertanzte. Wenn ich nach der Schule bei ihm zum Spielen war, sah ich seine Mutter oft nähen. Unter ihren Händen entstanden die schönsten und feinsten Tanzkleider. Dafür verarbeitete sie edle und kostbare Materialien wie Samt, Satin, Batist und Spitze in allen Variationen. Und natürlich meine heiß geliebten Pailletten, Perlen und Strasssteine. Dies alles verwandelte sie zu wahren Kunstwerken. Jedes Mal nähte sie an einem anderen Kleid, das aus meiner Sicht stets schöner und feiner als das vorherige war. Schmerzhaft zog sich mein Kinderherz zusammen, wenn es hieß, Thomas hätte keine Zeit mehr zum Spielen, weil er gleich zum Training fahren müsse. Noch quälender war es, als er mir stolz seine ersten Pokale zeigte. So ging unsere Freundschaft bald auseinander, da er immer weniger Zeit für mich hatte. Es erfüllt mich heute noch mit Wehmut, wenn ich daran denke.

    Brav und folgsam wie ich war, verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit bis zum Schuleintritt und auch noch einige Zeit später im großelterlichen Garten. Aber irgendwann ließ sich das natürlich nicht mehr so streng durchhalten, da ich nach der Schule zu meinen Freunden zum Spielen wollte. Zu uns durften andere Kinder selten kommen, da nach Aussage meiner Großmutter erst einmal richtig geputzt werden müsse, bevor man jemanden ins Haus ließe. Bis heute habe ich nicht wirklich verstanden, warum ich mit meinen Freunden nie im Garten spielen durfte. Vermutlich befürchtete meine Großmutter, die Kinder könnten irgendetwas anstellen oder kaputt machen. Auch meine Tante, die nur zehn Jahre älter war als ich, brachte nie andere Kinder mit nach Hause. Da sie mit mir nichts anzufangen wusste, blieb ich die ersten Jahre ganz auf mich allein gestellt.

    Im Laufe der Zeit machten meine

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