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El Urracaõ: SIE NANNTEN ES PARADIES
El Urracaõ: SIE NANNTEN ES PARADIES
El Urracaõ: SIE NANNTEN ES PARADIES
eBook764 Seiten9 Stunden

El Urracaõ: SIE NANNTEN ES PARADIES

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Über dieses E-Book

Jorge, der Protagonist dieser Geschichte, wurde in einer sehr armen Favela in Rio geboren und muss tausend Tricks anwenden, um zu überleben. Aber er ist ein kluges Kind und eines Tages findet er dank einer Begegnung mit einer listigen Elster einen wahren Schatz. Jorge ist jedoch nicht zufrieden, er macht Karriere im Drogenhandel und wird in wenigen Jahren zu einem gefürchteten internationalen Drogenhändler, der von der Bevölkerung und der Polizei als El Urracaõ bekannt ist. Doch rivalisierende Gruppen wollen seinen Tod und Jorge findet Zuflucht in der Schweiz. In Locarno macht er Geschäfte in der Welt der Nachtclubs und der Prostitution, findet die Liebe zur schönen Sharon und lässt sich von den Reichtümern eines goldenen und überzeugenden Paradieses verführen, in dem die Machenschaften gieriger Bankiers, skrupelloser Finanziers, neuer und alter Mafia lauern Chefs, die ihm wie ein Kinderspiel ein lukratives und einfaches Geschäft anbieten, ein Täuschungsspiel, bei dem alle Protagonisten ein dunkles persönliches Ziel zu verfolgen scheinen. Mit diesem Roman entführt uns Arson Cole in eine schwindelerregende Handlung, die gleichzeitig eine lange Reise auf der Suche nach einem persönlichen Paradies ist, von dem wir schon immer geträumt haben und das dennoch schmerzlich schwer zu finden ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberA.C. Books
Erscheinungsdatum19. Juni 2024
ISBN9791223049976
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    Buchvorschau

    El Urracaõ - Arson Cole

    Vor der Bar Sport genießt Jorge ein kühles Bier in der feierlichen Ruhe des Samstagmorgens. Die Wirtschaftskrise verschont niemanden mehr, auch nicht die angesagtesten Lokale, doch diese heruntergekommene Bar hält sich noch immer. Drei Jahre sind vergangen, seit er zum ersten Mal seinen Fuß in das sogenannte Paradies setzte. Direkt aus der Favela, in der er geboren wurde, Lemos de Brito, einem Vorort von Rio, kam er mit den letzten paar Münzen, die ihm geblieben waren. Das Geld, das er in einer Zigarrenkiste unter dem Baum der Elster versteckt hatte, im Versteck des Teufels.

    Über fünfzigtausend Real. Ein Vermögen. Doch in diesem winzigen Land mitten in Europa war Jorge nur ein armer Schlucker. Denn dies ist ein Paradies nur für diejenigen, die Geld, Macht und die richtigen Kontakte haben. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den üblichen Weg einzuschlagen, den des Verbrechens. Dank seines Talents gelang es ihm jedoch schnell, sich in bestimmte Geschäfte einzuschleichen, und nun kennt er alle verschiedenen Gruppen seiner Branche, Kunden aller Art und natürlich die Bullen und ihre Geheimnisse. Die Politiker, die Beamten und sogar die Richter lehnen niemals einen Umschlag voller Geld ab, um ein Auge zuzudrücken. Ihm ist es egal, ob die Leute, die mit ihm Geschäfte machen, reich, mächtig, gefährlich oder gewöhnliche Menschen sind, ihm geht es nur darum, Profit zu machen. Wer Geld in der Hand hat, ist willkommen, ist sein Kunde. Von einem Freund bei der Polizei erfuhr er, dass man ihn auch hier El Urracaõ, den großen fliegenden Dieb, oder einfach nur Urra nennt. Es ist ihm egal, dass er unter strenger Überwachung steht, im Gegenteil, es macht ihn nur noch stolzer.

    Sein Freund heißt Gregor Rossi und ist der Polizeichef der Stadt. Tagsüber macht er seinen Job, ist von den Leuten sehr respektiert, nachts ist er einer seiner vielen Kunden. Einer der Skelette, wie er sie nennt, die ein geheimes Leben im dunkeln der Grube  Locarno`s führen. Jorge kennt ihre schmutzigen Geschäfte gut, und sie können ihm nichts mehr anhaben, denn wenn er fällt, fällt halb Locarno mit ihm.

    Das Überleben in den Favelas von Rio hat ihn zu einem echten Mann gemacht. Die Jahre im Drogengeschäft haben ihn darauf vorbereitet, ein Anführer zu sein. Die Bullen, hier, sind nur Marionetten, aufgeblasene Gockel. Die Kinder in den Favelas sind schlauer als alle Bullen in diesem Paradies. Viele von ihnen, ab sechs Jahren, verlieren jegliche Angst, indem sie als Kuriere für die Dealer arbeiten. Auch Jorge war einer von ihnen. Mit acht Jahren kannte er bereits das gesamte Labyrinth aus engen Gassen und gefährlichen, namenlosen Straßen. Er erinnert sich noch an die Gerüche des Schlamms, der zum Bau der Häuser verwendet wurde. Der saure Gestank, der in der Hitze von den Müllkippen ausging. Aber auch die Düfte des Essens, das viele Köche, mit der Geschicklichkeit echter Künstler, aus dem Nichts zauberten, um ihre Kinder zu ernähren. Denn in den Favelas werden viele geboren und viele sterben schnell, um Platz für die nächsten zu machen. Er erinnert sich an den Geruch von Reinigungsmitteln, gemischt mit Kot und Urin, die in improvisierten Rohren oder Rinnsalen flossen und sich in den Gruben um die tiefer gelegenen Häuser sammelten. Abwässer aller Art bildeten Rinnsale in den kleinen Straßen.

    Die Armen in den Favelas haben kein Recht auf ein langes Leben, aber ihr Leben hat einen Preis. Ihre kurze Reise endet in den Gräbern, welche die Friedhöfe auf den Hügeln füllen. Gruben, die mehrmals ausgehoben und wiederverwendet werden, oft ohne Grabstein, ohne Kreuz. Nur der Wind, der stark und salzig vom Meer weht, pfeift die Namen der Toten herbei.

    In Lemos de Brito sind die Menschen arm, aber sie lachen oft. Auch in der Not nutzen sie jede Gelegenheit zum Feiern, Tanzen und erwecken die Gitarren und Tamburine mit Leben, die man in fast jedem Haus findet. Sie genießen das Wenige an Süße, das Bitter an ihrem Schicksals anhaftet. Wer eine Arbeit hat, ist zufrieden und bemüht sich täglich nicht in die überall lauernden Fallen zu tappen. Die Glücklicheren finden einen Job in der Stadt, arbeiten als Hausangestellte in den wohlhabenden Vierteln der Mittel- oder Oberschicht, welche es sich leisten können. Oder sie arbeiten als Maurer, Tischler, Glaser, Schneider oder machen jede Art von handwerklicher Arbeit. Andere stellen Werkzeuge oder Dinge her, die zum Bau von Häusern und Hütten gebraucht werden. Berge von Ziegeln, aus Schlamm erstellt, warten darauf, die Mauern neuer Häuser zu werden, zusammen mit Bergen von Gegenständen aus Metall, Glas und anderen Materialien, die aus den Müllhalden rund um die Stadt gewonnen werden. Doch viele wenden sich dem Verbrechen zu. Sie handeln mit Drogen und Waffen, stellen oft giftigen, starken Alkohol her. In den Favelas findet man alles, auch die schlimmste Kriminalität, Söldner, die bereit sind, für ein paar Real zu töten. Denn hier ist das Verbrechen ein bösartiger Tumor und gedeiht prächtig.

    Jorge wurde in einem der schlimmsten Teile der Favela geboren, im einzigen Raum dess Hauses seiner längst verstorbenen Großmutter, die an den Folgen von AIDS verstarb. Sein Vater kannte er nicht, seine Mutter hat nie seinen Namen ausgesprochen. Wie so viele alleinstehende Frauen verkaufte sie ihren Körper, um ein wenig Geld zu verdienen. Genug, um nicht alle vor Hunger sterben zu lassen.

     

    Jorge war schlauer als seine Altersgenossen, und sie schickte ihn auf die Straße, um dort zu stehlen, wo er konnte. Er fand immer neue Tricks für seine Diebstähle und streifte oft auf dem Handwerkerplatz umher, der mit seinen portugiesischen Gebäuden viele Touristen anzog, die leicht zu bestehlen waren. Und genau dort hatte er eines Tages eine merkwürdige Begegnung, mit einem Vogel, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Ganz schwarz, aber mit weißem Bauch, weißen Flecken an den Flanken und Flügeln und einem sehr langen Schwanz. Es war eine Elster, wie ihm später der Friseur sagte, der seinen Laden auf diesem Platz hatte. Der Vogel flog tief und flog direkt an Jorge vorbei, bevor er sich auf das Dach eines alten Hauses an der Piazza setzte. Der Junge beobachtete ihn neugierig. Es schien, als würde er eine Gruppe von Touristen anvisieren, genau wie er. Er fixierte eine blonde Frau am Ende der Gruppe. Wertvolle Ohrringe glänzten in der Sonne. Jorge beobachtete sie und bereitete sich darauf vor, sie zu bestehlen. Aber auch der Vogel behielt sie im Auge. Die Blonde bemerkte die vielen elenden und hungrigen Augen nicht, die sie, auch von oben, beobachteten. Jetzt war der richtige Moment gekommen. Jorge näherte sich schnell von hinten, aber genau als er seine Hand ausstreckte, um einen der Ohrringe zu ergreifen, stürzte sich dieser verdammte Vogel vom Dach und forderte seine Beute mit einem Schrei zurück. Jorge erstarrte vor Schreck bei diesem unerwarteten Schrei. Auch die Frau erstarrte. Dann geschah alles sehr schnell. Der Vogel zielte genau auf den rechten Ohrring und riss ihn schmerzhaft aus dem Ohrläppchen, ohne seinen Flug zu unterbrechen. Niemand schien es bemerkt zu haben. Außer der Friseur, der gerade eine Zigarette vor seinem Laden rauchte. Die Touristen hingegen sahen nur Jorge mit dem immer noch erhobenen Arm und die Frau, die schrie und sich das blutende Ohr hielt. Jorge starrte dem wegflliegenden Vogel nach. Für die Touristen war alles klar: Sie umzingelten das schmutzige, zerlumpte Kind mit den dunklen, schlauen Augen. Die Frau schien verrückt zu werden und wollte ihn ergreifen, schrie Dieb, Mistkerl, haltet ihn auf! Jorge hingegen sah sie unschuldig an, gelähmt vor Gefahr. Dann hörte er die Stimme des Friseurs, der schrie: Kleiner, renn weg! Da drehte er sich abrupt um und rannte eine der vielen Gassen entlang, die auf den Platz mündeten. Genau dort, wo er die Elster mit ihrer Beute im Schnabel hatte verschwinden sehen. Er konnte sie immer noch oben sehen, aber jetzt musste er nur noch ans Verstecken denken. Er sah sich um, hörte die Touristen weiter schreien: Stoppt ihn, haltet diesen Mistkerl auf, stoppt ihn! Dann verlor er den schlaueren Vogel aus den Augen. Der Friseur, der an der Tür seines Ladens stand, rauchte und genoss die Show.

    Am nächsten Tag stahl Jorge zwei Radios und einige glänzende Gegenstände: Glasperlen, Angelköder. Der Friseur hatte ihm erklärt, dass dieser Vogel, die Elster, genau deshalb so genannt wird, weil er die Dinge stiehlt, die glänzen. Und so beschloss er, sie zu überlisten. Sein Freund Raffaele, der einverstanden war, setzte sich an einen Tisch auf dem Handwerkerplatz und verteilte vor sich all die gestohlenen Sachen. Als ob sie einen Ruf gehört hätte, kehrte die Elster zurück und setzte sich gemütlich auf das Dach des gleichen Hauses. Sie hatte bereits ausgespäht, was sie heute stehlen könnte. Sie fixierte die Glaskugeln und die Köder. Jorge stellte sich vor, dass die Lichtreflexe auf der Oberfläche dieser Gegenstände sehr attraktiv für sie sein mussten. Jorge signalisierte seinem Freund, sich zu bewegen, so ließ dieser den Tisch frei, um die Elster zu ermutigen, näher zu kommen. Gleichzeitig stand er bereit, ihr zu folgen. Dieser Vogel war schlau, aber Jorge war noch schlauer. Wie erwartet, stürzte sich die Elster wie ein Kamikaze auf den Tisch. Sie schnappte sich blitzschnell eine der Glaskugeln und stahl sich sofort in die gleiche Richtung wie beim ersten Mal fort. Jorge sah sie über die Dächer fliegen und konnte Ihr eine Weile folgen. Dann verlor er sie aus den Augen. Aber innerhalb weniger Minuten kehrte der fliegende Dieb zurück. Jorge wusste, dass eine solch reiche Beute sie anziehen würde. Dieses Mal schnappte sich die Elster einen Köder, und Jorge versuchte erneut, ihr zu folgen, wurde aber sofort von einem im Weg stehenden Auto blockiert und verlor sie erneut aus den Augen. Fünf Minuten später war die Elster bereits wieder da. Aber dieses Mal, fast bevor sie zwei Köder vom Tisch stehlen konnte, rannte Jorge schon hinter ihr her, so schnell er konnte. Jetzt konnte er sie deutlich sehen und würde sie nicht entwischen lassen. Er rannte lange Zeit, schwitzend in der heißen Luft, unter einer erbarmungslosen Sonne, und schließlich sah er sie verschwinden in dem, was wie eine Art Wald aussah.

     

    Jorge kannte diesen Ort, sie nannten ihn das Versteck des Teufels. Eine kleine grüne Insel im Herzen der Favela Moro do Fubá, ein Gebiet, das in den letzten Jahren aus dem Wald gerissen wurde und sich schnell mit illegalen Häusern und Hütten füllte. Das Versteck war ein Gewirr aus Bäumen und Sträuchern, die undurchdringlich schienen, man konnte keinen Weg zwischen den Pflanzen erkennen.

     

    Aufgrund einiger seltsamer Überzeugungen hatte niemand dieses Stück Wald betreten. Die Bewohner der umliegenden Häuser waren tatsächlich von einigen seltsamen Vorfällen so verängstigt worden, dass sie überzeugt waren, dass der Teufel höchstpersönlich dort drin lebte. Mehr als einmal waren Amulette und Kreuze, die an den Fenstern von alten und kranken Menschen angebracht waren, um sie vor bösen Geistern zu schützen, mysteriös verschwunden. Dann starben diese Armen vielleicht zufällig in der folgenden Nacht, und die Leute begannen sich zu erinnern, dass sie einen schwarzen Vogel gesehen hatten, der aus diesem Gebüsch rein und heraus flog. Er wurde in der Nähe der Häuser der Kranken gesehen, kurz bevor die Amulette verschwanden. Sie wussten nicht, dass es sich einfach um eine Elster handelte, die während der Paarungszeit unwiderstehlich von diesen vom Sonnenlicht beleuchteten Objekten angezogen wurde. Sicherlich aber befeuerten ihre schwarzen Federn ihren Aberglauben. So begannen sie zu sagen, dass es sich um den Teufel handeln müsse, der tagsüber in Gestalt dieses Vogels umherflog, um sich in der Nacht ein Opfer zu suchen, dem er die Seele stehlen könne. In kürzester Zeit wurde die grüne Insel zum Versteck des Teufels. Viele brachten alte und kranke Menschen in andere weit entfernte Vororte, in Sicherheit zu Familienmitgliedern oder Freunden. Und diejenigen, die nicht gehen konnten, schützten sich, so gut sie konnten, vielleicht indem sie einfach die Amulette und Kreuze mit einem Nagel an die Fensterbänke nagelten.

     

    Jorge hat nie an Aberglauben geglaubt; er weiß, dass es nur Geschichten sind, die von einfachen Leuten erfunden wurden. Er glaubt weder an den Teufel noch an Engel; er glaubt nur an sich selbst. Er glaubt auch nicht an Gott und hat immer versucht, sich von der Kirche und ihren Lehren fernzuhalten. Schon als Kind hat er zu viele Dinge gesehen, die nicht richtig waren: arme, ausgebeutete Kinder, manchmal von Priestern missbraucht, die in der Favela von den Leuten als Engel bezeichnet wurden.

     

    Er war erst fünf Jahre alt, als er für immer die Fähigkeit verlor, an irgendeine Religion zu glauben. Seine Mutter wollte, dass er Armando hilft, dem älteren Bruder von Raffaele, der am Sonntagmorgen in die Kirche ging, um sie für die Messe vorzubereiten. Die beiden Brüder, die zusammen mit Jorge aufgewachsen waren, waren die Kinder einer Freundin seiner Mutter und lebten in einem Haus in der Nähe. Jorge wollte nicht in die Kirche gehen, weil er dem Tag lieber mit seinen Freunden verbrachte. Auch Armandos Mutter bestand darauf, angetrieben von den Bitten des Priesters. Sie war sehr religiös und wollte alles für die Kirche tun. Aber Jorge weigerte sich weiterhin, auch wenn er dafür von seiner Mutter und seinem Stiefvater Prügel bekam. Er beharrte darauf, dass er nicht gehen wollte, weil er wusste, dass dieser Priester seltsame Dinge mit seinem Freund Armando in dem Raum hinter der Sakristei tat, und er hatte Angst. Aber seine Mutter konnte ihm nicht glauben. Wie konnte er solche Dinge wissen? Woher kamen ihm solche Gedanken? Schämte er sich nicht, so von einem Engel wie Don João Levãdõs zu sprechen? Und sie gab ihm weitere Schläge, um ihn für diese obszönen Lügen zu bestrafen, und befahl ihm, den Mund zu halten. Ihrer Meinung nach erfand er diese Geschichten nur, weil er faul war und Zeit mit seinen Diebesfreunden verbringen wollte. Aber es waren keine Lügen, Armando hatte ihm anvertraut, was an den Sonntagmorgen in der Kirche geschah. Mehrmals hatte er auf die seltsamen Wünsche des Priesters und den Raum, den er betrat, angespielt, ohne jedoch die Kraft zu finden, ihm mehr zu sagen. Er errötete, senkte den Blick und erstickte fast vor Scham. Daher wusste er, dass es wahr war.

     

    Armando war nicht so stark wie er. Er hatte ein gutes Herz, sagte nie nein. Er ging weiterhin in diese Kirche, um sie für den Feiertag vorzubereiten. Aber Jorge bemerkte, dass sein Freund, der früher immer fröhlich war und gerne ein paar lustige Witze erzählte, immer stiller und trauriger wurde. Er hatte sein Lächeln verloren und sprach kaum noch mit Jorge, der zu sah, wie dieser von Tag zu Tag dünner und schwächer wurde.

     

    Zwei Monate später, Armando eben gerade sieben Jahre alt, geschah die Tragödie. Es wurde berichtet, dass an diesem Tag das Kind sich zum üblichen Treffen am Sonntagmorgen afumachte, wie es der Priester wollte. Aber diesmal hatte er die Waffe seines Vaters mitgebracht, eine schwere Pistole. Denn sein Vater war ein sehr bekannter Drogendealer, einer mit vielen Toten auf seinem Konto. Er hatte die Waffe in einem Rucksack, in dem die Mutter immer etwas Gutes für den Priester hineinlegte. Als er zum letzten Mal in den Raum hinter der Sakristei trat, während Don Levãdõs wie immer in seinem Sessel saß, griff Armando mit zitternder Hand in den Rucksack und zog die Pistole heraus. Vielleicht starrten sie sich für einen sehr langen Augenblick schweigend gegenseitig an. Fünf Schüsse exploderiten im Körper des Priesters. Der erste in den Kopf, einer in jede Hand, dann einer ins Herz. Vielleicht hatte Armando diesem nun kaum noch erkennbaren Gesicht schon vor dem letzten Schuss, der direkt in die Mitte seiner Hoden ging, in die Augen gesehen.

     

    Kurz darauf steckte das Kind die Waffe in den Mund und richtete sie nach oben. Er hatte gesehen, wie sein Vater das tat, um einen Kunden zur Zahlung einer Schuld zu zwingen. Mit der letzten verbliebenen Kugel schoss er sich ins Gehirn, ließ es explodieren wie eine Wolke. Sie fanden ihn zusammengesackt zu den Füßen des Priesters, in einem See aus Blut. Sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen.

     

    Die Leute waren erschüttert und behaupteten, dass der arme Priester, dieser Engel, von einem Teufelskind massakriert worden sei. Die Art und Weise, wie er umgebracht worden war, von fünf Kugeln gekreuzigt, ein klares Zeichen für den diabolischen Wahnsinn des Kindes, behaupteten sie. Don Levãdõs wurde auf den Stuhl gesetzt, ohne sein liturgisches Gewand und, noch erschreckender, mit heruntergelassenen Hosen, nackt von der Taille abwärts. Es musste eine blasphemische Zeremonie sein, die von diesem verrückten Kind ersonnen wurde, um den Priester zu beschämen. Als sie ihn fanden, hielt Armando immer noch die Pistole in der Hand. Vielleicht, dachte Jorge, wollte er sich auch dort, wo er jetzt war, beschützt fühlen.

     

    Ein Verbrechen dieser Art musste das Werk des Teufels sein, der durch dieses kleine Monster handelte. Die Naivität des Volkes, das an das Böse glaubt, wird immer einen Sünder finden, den es beschuldigen kann. Dieses Mal ein unschuldiges Kind, das die Leute als Besessenen bezeichneten. Sie forderten sogar von der Mutter, die Beerdigung des Priesters zu bezahlen. Nur eine prunkvolle Zeremonie konnte die Sünden ihres Sohnes wiedergutmachen und das Andenken an diesen heiligen Mann reinigen.

     

    Seit Armandos Tod glaubte Jorge nicht mehr an irgendeine Religion oder an Gott. Er vertraute nur noch seiner Gruppe von Freunden, die ihn oft vor dem Tod, dem Gefängnis oder falschen Engeln wie diesem Priester gerettet hatten. Heute vertraut er nur denen, die er sein ganzes Leben lang kennt und die ihm durch Taten bewiesen haben, dass sie so loyal sind wie sein verschwundener Freund. Das einzige Mal, dass Jorge Armando in der Kirche half, erinnerte er sich, befahl er ihm, niemals in den Raum hinter der Sakristei zu gehen, aus keinem Grund, und drohte ihm sogar, ihn zu schlagen, wenn er es tun würde. Das war seine eigene Art, ihn zu schützen.

     

    Schließlich zahlte die Mutter des Kindes, um die Seele ihres Sohnes vor der Verurteilung durch die Leute zu retten. Es wurde gemunkelt, dass sie eine große Summe gezahlt hatte. Jetzt konnte sie an der Zeremonie teilnehmen, ebenso wie ihr guter Ehemann. Natürlich fand die Beerdigung des Priesters in der Kirche statt, in der Armando sein Leben beendet hatte. Unter den Gläubigen, die sie füllten, gab es viele, die Drogen vom Vater des Kindes kauften. In seiner langen und bewegenden Predigt hatte der neue Priester keine Worte der Vergebung verwendet, im Gegenteil, er sagte, dass Armando und seine Familie vom gleichen Wahnsinn verurteilt seien. So kaufte niemand mehr Drogen vom Vater, aus Angst vor der Ansteckung mit dem Bösen.

     

    Bald darauf starb auch Armandos Mutter. Gerüchten zufolge hatte ihr Ehemann sie erwürgt. Es war unklar, ob wegen des Schutzgelds, das sie an die Kirche gezahlt hatte, oder weil er sie für alles verantwortlich machte, das Unglück, das ihr Sohn verursacht hatte, und den Ruin, den dies über seine Geschäfte gebracht hatte. Die Frau erhielt jedenfalls ein kostenloses Begräbnis.

     

    Jorge ließ diese Erinnerungen in der Vergangenheit zurück und kehrte zur Realität zurück. Er musste es schaffen, in diese Art von Dschungel, in den Unterschlupf des Teufels, zu gelangen, und die Elster zu finden.

    Er kämpfte sich durch die Pflanzen, riss Blätter und Zweige ab und versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Er spürte, wie die Büsche seine Arme und Beine zerkratzten, aber je weiter er vordrang, desto weniger dicht wurde das Dickicht, und er konnte leichter gehen. Währenddessen hielt er weiterhin Ausschau nach der Elster. Er hatte sie auf den Ästen springen sehen und dann einen Baum erreichen, der jetzt direkt vor ihm stand, in der Mitte einer von der Sonne beleuchteten Lichtung.

    Er schien viel älter als die anderen zu sein, hatte einen hohen und kräftigen Stamm. Jorge sah den Vogel mit etwas im Schnabel ankommen umes in einer Spalte im Stamm zu verstecken. Dann schlüpfte er wieder heraus und flog weg. Also kletterte er hinauf und erreichte mühelos die offene Spalte in der Rinde. Er zog sich mit den Armen hoch, ein paar Meter über dem Boden, und konnte ins Innere des Stammes schauen.

    Was er sah, brachte ihn zum Schreien. Der Vogel hatte dort in dem, was sein Nest sein musste, einen wahren Schatz angesammelt. Eine wirklich beeindruckende Beute, ein Berg von Gegenständen, auf den ersten Blick wie aus Gold und Silber. Er nahm einen großen, schweren und wirklich unglaublichen Ring in die Hand. Er musste aus Platin oder Weißgold sein und hatte viele Diamanten in Herzform. Es war sicherlich das Geschenk eines Diebes oder Drogenhändlers an eine Geliebte. Und dann kostbare Halsketten und Ohrringe, unter denen er sogar den erkannte, der am Vortag der blonden Touristin gestohlen worden war. Aber im Nest gab es auch Amulette und kleine glänzende Metallkreuze, Glasgegenstände, die Murmeln, die er als Köder benutzt hatte, und Stücke anderer wertloser Materialien. Jorge zog Handvoll um Handvoll dieser Gegenstände heraus und ließ sie auf den Boden fallen. Als er sie packte, bemerkte er, dass einige der Schmuckstücke falsch waren, aus vergoldetem Kunststoff, aber das spielte keine Rolle. Nachdem er vom Baum herunter gekletter war, zog er sein verschwitztes T-Shirt aus und warf den gesamten Schatz hinein, auch die wertlosen Dinge.

     

    Nachdem er die wertvollen Gegenstände von den anderen getrennt hatte, ging Jorge zum Schwarzmarkt, um sie zu verkaufen. Sie brachten ihm fünftausend Reais ein. Ein wahrer Schatz für einen achtjährigen Jungen. Natürlich hatten sie versucht, ihn über den Wert der Ware hereinzulegen, aber das hatte er bereits einkalkuliert. Das Geld würde ihm so oder so lange reichen. Denn er war keiner,  der sich betrank oder mit Freunden feierte, er berauschte sich auch nicht mit Klebstoffdämpfen oder anderen chemischen Zeugs, Crack oder Kokain, wie es so viele taten. Diese Dinge interessierten ihn nicht. Stattdessen träumte er davon, reich genug zu werden, um sich eines dieser weißen Häuser in den Vierteln der Reichen am Meer leisten zu können.

    Mit dem verdienten Geld ging er als erstes zu seiner Mutter und gab ihr tausend Reais. Doch er bereute es sofort. Er fand sie zusammen mit einem Mann im Bett, sie schienen betrunken oder unter dem Einfluss von Drogen zu sein. Sie nahm das Geld ohne ein Wort des Dankes, zählte es und schrie dann, dass er sie betrügen würde, dass er ihr sicherlich noch viel mehr Geld vorenthielte. Sie kenne ihren Sohn gut, schrie sie. Dann stand der Mann bei ihr, ein sogenannter Onkel, einer von denen, die sie bezahlten, um Zeit mit ihr zu verbringen, vom Bett auf und mischte sich sofort ein. Er hatte breite Schultern, roch nach Alkohol und Schweiß und schien außer sich zu sein. Er schlug Jorge, er müsse ihm sagen, wo er das andere Geld versteckt hatte. Jorge schwor, dass es kein weiteres gab, sagte, er habe es in einer Tasche auf einem Restauranttisch gefunden. Der Onkel nahm nachdem er Jorge vor den gelangweilten Augen der Mutter geschlagen hatte, das Geld aus ihren Händen, angeblich um es sicher aufzubewahren, warf Jorge zu Boden und rannte auf die Straße. Sicherlich, um sich zu betrinken oder nach einem Drogenhändler zu suchen. Die Mutter begann wieder wie verückt, im wahn zu schreien,weil sie nun auch die tausend Reais verloren hatte: Wie viel Geld versteckst du vor deiner armen Mutter! Dieb, Bastard!.

    Jorge sah sie an, ohne ihre Beleidigungen zu hören, er schien sie kaum zu bemerken. Während sein Mund vor Schlägen blutete, traf er einen Pakt mit sich selbst, oder vielleicht mit dem Teufel. Er schwor, dass er von diesem Moment an nie wieder an andere denken würde, dass er nie wieder von Gefühlen geleitet würde, weil sie ihm nur Probleme bereiteten und ihn schwach machten. So verließ er, mit blutendem Mund von den Schlägen, für immer dieses Haus, ohne zu wissen, dass dies das letzte Mal war, dass er seine Mutter sah.

     

    Er traf sich mit Raffaele in einem verlassenen Haus in der Nähe der Ruinen einer Kirche. Auch er war es gewohnt, von zu Hause wegzulaufen, und oft taten sie es zusammen, er, Armando und Jorge, wenn ihre betrunkenen Väter oder Stiefväter sie ohne Grund schlugen und schrien, dass sie nutzlose verhungerte Bastarde seien. Raffaele und Armando waren die einzigen, die alles über Jorge wussten. Aber jetzt war Raffaele der einzige, der sich noch um ihn sorgte und ihm immer half. Auch dieses Mal half er ihm, brachte ihm Essen und etwas zum Überziehen, damit er in dieser Nacht dort schlafen konnte. Am nächsten Morgen sagte er, dass er einen Platz für ihn gefunden hatte, wo er ein paar Tage bleiben konnte. Ein Freund von ihm, der Friseur, konnte ihn in seinem Haus unterbringen. Dieser half gerne den Kindern die auf der Straße leben mussten. Jorge stimmte zu, er wusste, dass er Raffaele vertrauen konnte. Es war dieser Friseur, der Jorge ermutigt hatte, nach dem Diebstahl bei der Touristin wegzulaufen. Dieser lebte über seinem Laden auf dem "Platz

    des Handwerkers" und hieß Rodriguez Ferreira, für seine Freunde Rod. Ein großer Mann mit einem dunklen Bart. Jorge hatte ihn oft gesehen und sie waren ein wenig befreundet geworden, aber sie hatten nicht viel miteinander gesprochen, weil er ihn einschüchterte. Tatsächlich war Rodriguez trotz seiner tiefen Stimme, welche die Luft erzittern ließ, ein guter Mann, der gerne lachte und schelmische Witze über seine Kunden machte. In Spanien geboren und vor vielen Jahren aus Liebe nach Brasilien gezogen, sagte er, ohne weitere Einzelheiten preiszugeben. Er schien wirklich mit allen in der Gemeinschaft befreundet zu sein, vielleicht dank seiner Sympathie und Diskretion. Er wusste, wer eine gute Person war und wer ein Verbrecher oder Drogenhändler, wer viele Geliebte hatte und wer Liebeskummer, wer voller Schulden war und wer ein Mörder... Denn während er Männern die Haare schnitt oder rasierte, redeten sie, vielleicht zu viel, womöglich um mit ihren Taten anzugeben... Aber all diese Geheimnisse, betonte er, hatte er nie jemandem verraten. Man spricht über die Sünde, nicht über den Sünder.

     

    Raffaele kannte ihn gut, weil auch sein Vater diesen Laden besuchte und ihn immer mitnahm. Also bat er ihn, Jorge zu helfen. Er wusste, dass sein Freund sonst nie um Hilfe bitten würde.

     

    Und in diesem Haus fühlte sich Jorge zum ersten Mal sicher mit einem Erwachsenen, der nett zu ihm war und nichts im Gegenzug verlangte. Seine Mutter war nie gut und liebevoll zu ihm gewesen, sie wollte nur, dass er den ganzen Tag herumlief und stahl, und wenn er nicht mit etwas Geld zurückkehrte, schlug sie ihn. Oder sie ließ ihn von einem der vielen betrunkenen oder drogensüchtigen Onkel verprügeln, die sie mit nach Hause brachte...

     

    Eines Abends, während er mit Rod und Raffaele plauderte, sagte Jorge, dass ihm eine großartige Idee gekommen sei.

    Welche Idee? fragte Raffaele neugierig.

    Ich dachte, wir könnten die Elster um Hilfe bitten.

    Um was zu tun? fragte der Friseur.

    Um zu stehlen.

    Wie machen wir das? fragte Raffaele.

    Wir könnten sie trainieren, antwortete Jorge entschlossen.

    Trainieren? wiederholte Raffaele, der wohl nicht wusste, was dieses Wort bedeutete.

    Ja, wir könnten ihr beibringen, die Touristen auf dem Platz zu bestehlen. Dann wird sie es an unserer Stelle tun.

    Jetzt hatte der Freund verstanden und schien von dieser Idee ganz aufgeregt zu sein.

    Sie fällt nicht auf und vor allem kann sie schnell wegfliegen, ohne von niemandem erwischt zu werden! erklärte Jorge.

    Raffaele starrte ihn mit offenem Mund an. Der Friseur dagegen schwieg mit gesenkten Augen auf dem Tisch. Dann sagte er:

    Das scheint mir keine gute Idee zu sein...  er sagte es ernsthaft, mit besorgter Stimme, als wollte er sofort Jorges Begeisterung dämpfen.

    Nein, Kleiner, diese Idee ist nicht gut... Er hob den Blick, fixierte Jorges dunkle und überraschte Augen, genoss einen Moment das Schweigens und fügte dann sofort hinzu: Diese Idee ist einfach großartig! Dann brach er in ein lautes Lachen aus und klopfte Jorge auf beide Schultern.

     

    Am nächsten Tag suchten die beiden Freunde eine Mülldeponie auf, wo Jorge genau das fand, was er brauchte: eine alte Schaufensterpuppe, eine von denen, die in Bekleidungsgeschäften verwendet werden. Raffaele half ihm, Glasperlen, Metallstücke und falschen Schmuck aufzuhängen, den sie im Nest der Elster gefunden hatten. Dann stellten sie diese in Rods Küche neben das Fenster, damit die Elster es sehen konnte. Und so begann die Elster am nächsten Tag immer näher an die glitzernde Schaufensterpuppe zu fliegen wie an einen Weihnachtsbaum. Zuerst lehnte sie sich am Balkongeländer an, dann machte sie ein paar Sprünge auf den Boden. Jorge und Raffaele beobachteten sie aus einer Ecke des Zimmers, ohne ein Wort zu sagen. Die Elster wurde immer vertrauter und in den folgenden Tagen kam sie durch das Fenster herein, begann auf der Schaufensterpuppe zu springen und Schmuckstücke einzeln abzuziehen.

     

    Um sie besser zu trainieren, kleidete Jorge die Schaufensterpuppe mit einigen alten Kleidungsstücken des Friseurs und steckte die Gegenstände in die Taschen, so dass sie nur ein wenig sichtbar waren. Die Elster musste lernen, sie schnell abzuziehen und davonzufliegen.

    So ging es viele Tage lang weiter. Es genügte, das Fenster zu öffnen, und die Elster kam, um etwas von der Schaufensterpuppe zu stehlen. Nur wenige Sekunden, ein Flügelschlag, und sie war schon weit weg. Aber Jorge war nicht zufrieden. Er zog die Kleidung der Schaufensterpuppe an und blieb reglos stehen, wartend. Als der Vogel auf ihm landete, bewegte er sich plötzlich und verschäuchte ihn fliehend. Aber die glitzernden Gegenstände waren zu verlockend für die Elster, sie musste sie haben. Und mit der Zeit lernte sie, diese fast geräuschlos zu stehelen.

    Das Training dauerte ein paar Wochen, dann sagte Jorge, dass es an der Zeit sei, den fliegenden Dieb auf die Probe zu stellen. Er ließ alle Lockvögel verschwinden, und als die Elster zurückkehrte, schien sie überrascht zu sein, nichts mehr zu finden. Sie blieb einen Moment auf dem Balkongeländer, dann begann sie den Platz und die Menschen die ihn bevölkerten zu erkunden. Jorge und Raffaele behielten sie im Auge, bewunderten die Geschwindigkeit, mit der sie auf ihre Beute stürzte. Es war sicher nicht so einfach wie das Bestehlen einer Plastikschaufensterpuppe, aber die Elster hatte gelernt, es schnell und leichtfüßig zu tun. Und vor allem hatte Jorge ihr beigebracht, auch Münzen und Banknoten zu stehlen.

    Fast zwei Monate lang funktionierte das System hervorragend. Die Elster schaffte es, jeden Tag mindestens ein paar Coups zu landen. Die Beute wurde immer reicher, und Jorge hatte einen perfekten Ort gefunden, um sie sicher aufzubewahren. Direkt unter dem Nest der Elster, zwischen den Wurzeln des Baumes versteckt, gab es eine tiefe Höhle, vielleicht die Höhle eines Tieres. Sie war groß genug, um eine Zigarrenkiste zu enthalten, in der Jorge das gestohlene Geld und das, was er durch den Verkauf der Schmuckstücke verdiente, aufbewahrte. Niemand hätte sich vorstellen können, dass in diesem Versteck des Teufels ein solcher Schatz lag.

    All diese Diebstähle alarmierten die Polizei, die bald verschiedene Versuche unternahm, diesen diebischen Vogel zu eliminieren, der die Touristen belästigte. Es genügte jeeoch, den Beamten zu bestechen, zu zahlen was er verlangte. Tausend Reais im Monat, und er ließ sie in Ruhe.

    Plötzlich war die Elster jedoch nicht mehr zu sehen. Jorge befürchtete, sie sei getötet worden, wartete einige Tage und ging dann, ohne zu wissen, wo er suchen sollte, zu ihrem Nest. So entdeckte er, dass der fliegende Dieb eine Partnerin gefunden hatte und sich darauf vorbereitete, eine Familie zu gründen. Von diesem Moment an zeigte sie sich monatelang nicht mehr, und da sie keine Einnahmen mehr hatten, verbrauchten sie einen Großteil des angesammelten Geldes.

    Dann eines Tages kehrte die Elster endlich auf den Platz zurück. Aber bald waren auch die Polizisten zurück und begannen, ihre Bewegungen zu beobachten. Und eines Nachmittags - so erzählte der Friseur - nahmen sie ein Gewehr aus dem Auto und schossen sie mit dem ersten Schuss nieder. Es hätte  zuviele Beschwerden von Touristen gegeben, sagten sie. Aber Jorge wusste, dass dies nicht stimmte. Sie hatten sie nur getötet, weil er nicht mehr den immer höheren Schutzgeldern nachkommen konnte, die der Chef der Polizisten. Ein gewisser Rodolfo, ein skrupelloser Typ, der dies auch von den Drogendealern verlangte.

    Es war wirklich ein harter Schlag für alle. Die beiden Freunde hatten sich bereits an dieses so intelligente Tier gewöhnt. Aber auch der Friseur war sehr betroffen. Während der Arbeitspausen saß er gerne vor seinem Geschäft, mit einem Sandwich oder einem Kaffee, und beobachtete das Schauspiel der Diebeselster. Er bewunderte die Geschicklichkeit des kleinen Jorge, der es alleine geschafft hatte, ihr das Stehlen von Touristen beizubringen.

    Es war er auch, der ihm diesen Spitznamen gab, den er heute noch trägt, El Urracaõ, oder einfach Urra. Rodriguez mochte es, seinen Kunden Geschichten zu erzählen, und widerholte oft, die Geschichte von dem kleinen Urra und der Elster. Noch lange danach erzählte er sie. Die Kunden, die dachten, es sei eine Art Märchen, fragten ihn, was dieser seltsame Name, Urra, bedeute. Der Friseur erklärte dann, dass er von dem spanischen Wort Urraca komme, was Diebeselster bedeutet, im Portugiesischen angepasst, während El im Spanischen der Große bedeutet und für wichtige Persönlichkeiten verwendet wird. El Urracaõ bedeutete also mehr oder weniger Der große fliegende Dieb und sollte die List dieses Kindes verdeutlichen, das nur mit der Elster vergleichbar war.

    Jorge wurde gesucht, und in diesem Haus zu bleiben war ein Risiko. Außerdem wollte er Rodriguez' Hilfe nicht weiter ausnutzen und ihn in eine unangenehme Position bringen. Also tat er, was viele Kinder aus den Favelas tun, die von ihren Familien im Stich gelassen werden. Er schlief, wo immer er konnte, manchmal auf der Straße, wenn er Glück hatte, in verlassenen Häusern.

    Er setzte weiterhin auf Touristenraub, wenn sich die Gelegenheit bot, aber er musste immer sehr vorsichtig sein, denn die Polizei hielt ihn genauer im Auge als je zuvor.

    Die Einnahmen aus den Touristenraubzügen reichten nicht aus, um das Kopfgeld auf seinem Kopf zu bezahlen. Also beschlossen er und Raffaele, ins Drogengeschäft einzusteigen. Sie wurden zwei von vielen Kindern, die von der Organisation als Kurier engagiert wurden. Denn Kinder sind wachsam, agil und gut darin, sich in den Labyrinthen der Favelas zu verstecken, sie sind perfekt für diese Arbeit.

    So löste Jorge auch das Problem des Kopfgeldes, denn er wurde automatisch von der Organisation geschützt, die Schutzgeld für jedes ihrer Mitglieder zahlte.

    Jorge erkannte schnell, dass man mit Drogen besser verdiente als mit Diebstahl, und begann, die Drogendealer zu studieren, um die verschiedenen Karrierestufen in diesem Beruf zu verstehen.

    Die älteren Jungs, von zehn bis dreizehn Jahren, nannten sie einfach Männer. Sie wurden als Schutzschild für die Gruppe und als Dealer eingesetzt. Sie waren die ersten, die bei Zusammenstößen mit anderen Gruppen starben, die immer um die Kontrolle über den Drogenhandel in den Favelas kämpften. Dann gab es diejenigen ab vierzehn Jahren, die Onkel genannt wurden und sich um alles kümmerten, was in der Organisation zu tun war. Überleben über zwanzig Jahre in diesem Geschäft war ein echtes Wunder und gelang nur den Stärksten und Grausamsten, die dann die Anführer der verschiedenen Gruppen wurden. Diese wurden Paten genannt, wie in Mafiafilmen.

    Jorge war schlau und zeigte auch in diesen Angelegenheiten sofort sein Talent. Wurde von seinen Kameraden sehr respektiert. Aber das reichte ihm nicht. Er war es bald müde, nur Kurier zu sein. Er wollte aufsteigen, er wollte ein Dealer werden und noch höher hinaus.

    Jorge kannte nun alle Männer der Gruppe, die sein Viertel kontrollierten. Einer von ihnen, ein dicker Dealer namens Pelita, schien dum und einfältig zu sein und behielt viel von dem Pulver für sich. So begann Jorge auch eine kleine Menge Kokain aus dem Paket zu stehlen, das er ihm jede Woche brachte. Dieser Idiot überprüfte nie das Gewicht, er vertraute blind. Für mehrere Wochen funktionierte der Trick reibungslos, und Jorge schaffte es, das gestohlene Kokain in einer anderen Favela zu verkaufen. Aber eines Tages, gerade als er die übliche Menge Pulver abzweigte, fiel das Paket auf den Boden. Er hob es sofort auf, aber der starke Wind an diesem Tag blies fast ein Drittel davon weg. Panik  kahm auf. Wie sollte er das ersetzten? Fileicht durch weißes Mehl. Er wusste noch nicht, mit welchen Stoffen sie das Kokain streckten. So markierte Jorge das Ende des Lieferanten und gleichzeitig das des Dealers.

    Pelita bemerkte den Betrug und ging zum Haus des Lieferanten, genannt Il Marcio. Er hatte eine Pistole in der Hand, war mit Kokain voll und wollte ihn zur Rechenschaft ziehen. Hatte nicht bedacht, dass es auch jemand anderes, ein Kind wie Jorge, gewesen sein könnte, der ihn betrogen hatte. Sobald Pelita,  Il Marcio sah, feuerte er drei Schüsse ab, aber der andere hatte genug Zeit, um zurückzuschießen und traf ihn miten in den Kopf.

    Am nächsten Tag fand Jorge ihre Leichen im Eingang des Hauses liegen. Er war gekommen, um die Pakete für die verschiedenen Dealer abzuholen. Ohne zu zögern, bat er Raffaele, ihm zu helfen, die Leichen verschwinden zu lassen. In dieser Nacht luden sie dieese, einen nach dem anderen, in eine Schubkarre, bedeckten sie mit Erde, Ästen und Unkraut und brachten sie zum Versteck des Teufels, das sich glücklicherweise ganz in der Nähe des Hauses befand. Sie gruben ein kleines Loch und warfen sie hinein.

    Jorge und Raffaele zogen ins Haus von Il Marcio ein und gaben vor, seine Gehilfen zu sein. Sie hatten das Geld des Lieferanten in einem Versteck im Haus gefunden. Ein Haufen Geld. Damit konnten sie die erste Drogenlieferung bezahlen, dachte Jorge. Mit den Einnahmen aus dem Kokainhandel würden sie die zukünftigen Lieferungen bezahlen, und so weiter. Jorge war noch jung, aber er dachte wie ein Erwachsener und hatte klare Vorstellungen. Er wollte der neue Lieferant im Viertel werden.

    Anfangs befürchtete er, dass jemand aus der Organisation nach Marcio fragen würde. Aber niemand kam je, um ihn zu suchen. Denen war nur wichtig, dass das Kokain verkauft wurde und die Prozente regelmäßig bei den Bossen ankamen. Alles lief reibungslos, und das Geschäft wuchs schnell, weil Jorge die Anzahl der Dealer erhöhte, indem er seine Gruppe von Freunden einstellte. Dann dachte er daran, auch den Polizeibeamten Rodolfo einzubeziehen, den damaligen Chef der Polizisten während des Abenteuer mit der Elster. Er bestach ihn, um sich Bewegungsfreiheit und Schutz in diesem kleinen Gebiet zu sichern und um den Ärger mit rivalisierenden Drogendealern zu beseitigen, welche die Polizei nun einen nach dem anderen aus dem Verkehr zogen. Natürlich wurde das Schutzgeld entsprechend angepasst. Und so erweiterte sich das von ihm kontrollierte Gebiet immer weiter. Er begann rasch Kontakte zu größeren Lieferanten herzustellen. Diese waren jedoch mit sehr gefährlichen Gruppen verbunden. Solange sie regelmäßige Zahlungen erhielten, blieben diese ruhig, oder fast. So machte Urra einige Jahre lang weiter,  verdiente Geld auf ziemlich ruhige Art und Weise. Sein Geschäft wuchs, und damit auch seine Macht, die jedes Jahr wuchs.

    Auch Waffen begannen eine immer wichtigere Rolle in seinem Leben zu spielen. Mit Hilfe vom Agent Rodolfo lernte er, sie zu benutzen, indem sie außerhalb der Favela zwischen den Gräbern eines verlassenen Friedhofs übten. Jorge erwies sich auch mit der Pistole als geschickt,  konnte präzise schießen, überaschend mit beide Händen.

    Raffaele, sein rechter Arm, immer an seiner Seite. Sie vertrauten einander wie Brüder. Aber eines Tages, kurz bevor sein Freund sechzehn Jahre alt wurde, entschied das Schicksal, auch sie für immer zu trennen. Raffaele wurde von der Gruppe, die das Viertel Villa dos Mineiros im Westen von Rio kontrollierte, ermordet. Auch Jorge war in ihrem Visier, weil sein Erfolg natürlich vielen ein Dorn im Auge war. Vor Wut über den Verlust seines einzigen verbliebenen Freundes vergiftet, fühlte er sich zum ersten Mal allein und in Gefahr, verbarrikadierte sich Jorge für einige Tage in seinem Haus und suchte nach einem Weg, sich zu rächen. Er dachte daran, dem Boss der Dos Mineiros, den alle Minos nannten, einen falschen Friedensvertrag vorzuschlagen. Er erinnerte sich nämlich an die Geschichte des Trojanischen Pferdes, die ihm der Friseur Rodriguez Jahre zuvor erzählt hatte. Also beschloss er, diesen Friedensvertrag zu unterzeichnen, indem er Minos zwölf Flaschen eines kostbaren Schmuggelbourbons schenkte. Einer seiner Jungs, der das Haus des Padrino mit einem Fernglas überwachte, warnte ihn rechtzeitig per Funk. So gingen Jorge und zwei seiner Leute in das Haus, nachdem der Chef, seine Handlanger und Leibwächter sich bereits völlig betrunken hatten. Sie töteten sie alle ohne Gnade. Jorge schoss Minos direkt zwischen die Augen. Er tat es für seinen Freund Raffaele. So geriet auch dieses Viertel unter seine komplette Kontrolle.

    Jorge war jetzt allen als El Urracaõ bekannt. Im Laufe der Zeit weitete sich seine Macht auf alle angrenzenden Gebiete aus, auf die Favelas Joaquim Martins, Clovis Daudt, dos Mineiros, Orlando Leite, Antonina, Barao und bis zur Favela Fubá. In all diesen Gemeinden, von Nord nach Süd, von Ost nach West, wurde das Reich von Urracaõ ausgerufen.

    Aber bald endete die Ruhe. Die Todesschwadronen rückten an. Sie suchten ihn, weil er auch die Favela Praca Orlando Bonfim Junior im äußersten Westen unter seine Kontrolle gebracht hatte. Dies war kein Gebiet wie jedes andere, und das aus einem einfachen Grund: Es enthilet einen der wenigen strategischen Handels Routen von Rio. Dort kam das gesamte weiße Pulver für die Stadt unbemerkt herein. Ein riskanter Schachzug von Jorge, der einen wahren Kampf führen musste, bei dem viele seiner Jungs starben, um dies zu erreichen. Aber am Ende hatte er gewonnen und konnte einen neuralgischen Punkt im Drogenhandel im Westen von Rio kontrollieren. Er musste nicht mehr mit irgendwelchen Vermittlern verhandeln. Er war es, der den Rohstoff an die Anführer der benachbarten Favelas verkaufte. Aber der geführte Kampf war nur der Beginn des Krieges, denn er hatte dieses Reich von Menschen gestohlen, die viel gefährlicher und skrupelloser waren als er. Personen die nicht zu Scherzen fähig waren.

    Der junge Urracaõ hatte sich zu viele Feinde gemacht und lief Gefahr, die Kontrolle über seine Favelas vollständig zu verlieren. Die Leute sagten, dass er sicher nicht mehr lange leben würde. Und diese Idee verbreitete sich schnell wie ein Aberglaube unter den Bewohnern der verschiedenen Gemeinden, die ihn nun als Wohltäter, eine Art Heiligen, betrachteten. Denn Urracaõ gab viel von seinem Reichtum aus, um ihnen zu helfen. Mit seinem Geld hatte er Schulen renovieren lassen, aber auch Wasser- und Stromversorgungssysteme gebaut und viele der Probleme gelöst, die durch Abwasser verursacht wurden. Im Gegenzug erhielt er die Unterstützung der Bevölkerung, die ihn schützte.

    Das tiefere Ziel seiner Gesten war mit verborgenen Gefühlen verbunden, die er niemals zeigte. Denn für ihn bedeutete das Zeigen von Gefühlen, schwach zu erscheinen. Vor vielen Jahren hatte er sich geschworen, das nie wieder zu tun, und bis jetzt hatte er dieses geheime Versprechen an sich selbst immer gehalten.

    Die Anführer, die niemand sah, verschanzt in ihren riesigen weißen Villen am Meer, die Villen, von denen Jorge geträumt hatte, seit er ein Kind war, hatten einen Pakt geschlossen, um ihn zu beseitigen.

    Am Anfang verstand Jorge nicht, wem er wirklich das Territorium dieser Handelsrouten gestohlen hatte. Aber er fand bald heraus, dass er sich in die Geschäfte der gefährlichsten Kriminellen eingemischt hatte. Die Namenlosen, die Unauffälligen, die sich in eleganten italienischen Anzügen kleideten und ihre Geschäfte aus luxuriösen Büros im Stadtzentrum führten. Sie beschmutzten sich nie die Hände, sie bezahlten Söldner, killer, immer auf der Suche nach lukrativen Aufträgen. Die gefürchteten Todesschwadrone.

    Die Flötenspieler, die den magischen Klang des schnellen Geldes spielen, locken alle Arten von Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft an. Diese Musik erreichte die Ohren von weit entfernten Orten von seinen Favelas aus und machte Urracaõ zu einem der meistgesuchten Männer dieeser brasilianischen Söldner. Zehntausend Reais, das war das Kopfgeld, das über seinem Kopf hing. Nicht schlecht für einen Anführer von nur zweiundzwanzig Jahren. Jorge schaffte es, die Attentate  dieser gut organisierten Killern nur durch seine List zu entgehen. So lange zu überleben schien für die Leute in den Favelas wie Zauberei, eine fast wundersame Fähigkeit, so dass viele ihn sogar El Sant’Urracaõ zu nennen begannen. Er überlebte weitere zwei Jahre, jeoch wurden fast jeden Tag  einer seiner Jungs mitten am helichten Tag auch in den entlegensten Favelas getötet. Diese Verluste schufen gefährliche Lücken im Sicherheitsnetz um ihn herum. Die Gruppe, die diesen Pakt geschlossen hatte, um ihn zu beseitigen, hatte viel mehr Männer als er, sowie Berge von Waffen und Geld. Ihr Plan schien zu funktionieren. Sie waren kurz davor, ihn zu schnappen. Nach dem nächsten Hinterhalt, bei dem vier Menschen starben, beschloss Urra, sich zurückzuziehen. Er würde alles seinem neuen rechten Arm überlassen, ohne jedoch seine wahren Absichten preiszugeben. Sein geheimes Vermögen, das er in einer alten Zigarrenkiste in der Höhle des Teufels vergraben hatte, betrug fünfzigtausend Reais. Dieses Geld symbolisierte seine Rettung, die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Schon als Kind träumte er davon, Geld zu verdienen und eines Tages in einer Villa am Meer zu leben. Mit zunehmendem Alter wuchs jedoch sein Wunsch, für immer aus Rio wegzugehen, weit weg von den Favelas. Er hörte den Geschichten des Barbiers Rodriguez zu. Gelegentlich erzählte er von einem Ort, den er Paradies nannte. Ein Ort, an dem das Geld in Strömen floss, alles sauber und elegant war, alles wunderbar ordentlich und sicher. Ein Ort, an dem es keine Gefahr durch Todesschwadrone gab. Den wahren Namen dieses Paradieses kannte er damals noch nicht, aber jetzt schon, und dort wollte er hin. Alles war organisiert. Ein nagelneuer Reisepass, ein Flugticket und ein für einen Monat gültiges Visum.

    Er erreichte den Flughafen in der Nacht, heimlich eskortiert von den Motorrädern seiner Männer. Die Reise verlief reibungslos. Während der Fahrt starrte er lange auf das Ziel, das auf dem Flugticket stand, das er in der Hand hielt. Er las diesen Namen, die Schweiz, und setzte so viele Hoffnungen darauf, dass er sich euphorisch fühlte.

    2 Das Paradies der zwei Seelen Särgen

    Ein winziges Land, die Schweiz. Er hätte es nicht einmal auf der Weltkarte zeigen können. Aus dem Flughafen Zürich Kloten raus, war er sofort beeindruckt von der Ordnung, die er überall wo er hinschaute sah. Während des Fluges las er den Reiseführer, um sich über Kultur und Wirtschaft des Ortes zu informieren. Besonders die Banken und das strenge Bankgeheimnis faszinierten ihn, von dem ihm erzählt worden war. Das Land war voller Banken aller Art. Und Versicherungen, eine andere ihm unbekannte Eigenheit. Sie schienen ihm nutzlos zu sein. Doch laut dem Reiseführer waren einige sogar obligatorisch. Aber da musste ein Fehler sein, dachte er. Und dann eine nahezu manische Organisation in allen Lebensbereichen. Alles, was sein Freund, der Barbier, erzählte, schien wahr zu sein. Dieses Land, so voller Geld, zog Jorge wie ein helles Licht einen Insect in einer völlig dunklen Nacht an. Die kulturellen Unterschiede bereiten im etwas Angst. Dort sprach man verschiedene Sprachen, aber anstatt Probleme zu schaffen, schien dies die Schweizer dazu zu bringen, sich noch enger verbunden zu fühlen. Dieses Paradies war also ziemlich seltsam. Die in Zürich gesprochene Sprache, Deutsch oder Schweizerdeutsch, wie sie hier ihren Dialekt nannten, klang für seine Ohren wie ein Knäuel unangenehmer Klänge und starker Akzente. Die Leute schienen sich gegenseitig kalte, harte Sätze zuzurufen, die für ihn völlig unverständlich waren. Zum Glück hatte er aus dem Reiseführer gelernt, dass fast alle Schweizer neben Deutsch auch andere Sprachen sprachen. Außerdem wurde in der Finanzwelt viel Englisch gesprochen, das er dank der ständigen Kontakte zu Touristen in Rio recht gut beherrschte. Aber er verstand und sprach besser Italienisch, weil es seiner Muttersprache, dem brasilianischen Portugiesisch, näher kam. Im Moment machte er sich jedoch keine Sorgen um die Sprache, er hatte andere wichtige Dinge im Kopf. Er fragte sich, wie die Spielregeln waren, wie er es nannte. Diejenigen, um in das Geschäft einzusteigen, in dem er gut war. Sicher waren sie hier anders als in Rio. Er wollte sie kennenlernen und erlernen, sie perfekt zu nutzen, wie er es in seinem Heimatland tat. Aber wie sollte er das tun? Er war es gewohnt, eine klare Rolle und eine Gruppe um sich herum zu haben. Aber auch das konnte warten. Erstmal entscheidend war eine Aufenthaltsgenehmigung zu haben. Man hatte ihm erklärt, dass es ziemlich einfach sei diese zu bekommen, indem man das Gesetz umgeht. Man musste einfach eine Schweizer Frau heiraten, im Austausch gegen etwas Geld, und damit hätte man die Erlaubnis zu bleiben. Er lachte, wie einfach das doch war. Also ging er sofort nach seiner Ankunft in Zürich auf die Suche nach dem besten Viertel für sein Geschäft. Der vierte Kreis, der Kreis vier, wie die Schweizer es nennen. Ein sehr berühmtes Viertel im Westen der Stadt. Dieses Land verbarg seine dunklen Seiten gut, wie er bald herausfand, als er durch das Viertel ging und sich in alle Richtungen informierte. Seltsam, dachte er, die Schweizer hielten ihre Geheimnisse vollständig verborgen und fühlten sich nicht von diesem System bedroht, im Gegenteil, sie schienen stolz darauf zu sein. Andererseits, wie er im Reiseführer gelesen hatte, war dies ein sicheres und ruhiges Land mit einem effektiven Kontrollsystem. Eine hochmoderne Polizei, Korruption gab es kaum.

     

    Komisch, dachte Jorge, hier verstecken sie ihre Vermögen unter der Erde, eingeschlossen in schweren Stahlsafes, nicht wie in den Favelas, wo ihm eine einfache Zigarrenkiste ausreichte.

    In der Schweiz hatten sie noch mehr getan, um ihre Schätze

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