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Das Wissen der Person: Eine Topographie des menschlichen Geistes
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Das Wissen der Person: Eine Topographie des menschlichen Geistes
eBook704 Seiten9 Stunden

Das Wissen der Person: Eine Topographie des menschlichen Geistes

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Über dieses E-Book

Das geistige Leben des Menschen erschöpft sich nicht in der Vielzahl seiner besonderen Erscheinungen. Vielmehr sind diese von philosophischer Reflexion als Variationen einer einzigen Humanität explizit zu machen. Philosophisches Denken ist daher das Projekt, die allgemeinen Formen des Geistes und damit besonders unseres Wissens und Könnens zu artikulieren, um selbstbewusste Orientierung in der Wirklichkeit zu ermöglichen.
Anliegen dieses Bandes ist es, Pirmin Stekeler-Weithofers Beitrag zu diesem Projekt in seiner ganzen Breite sichtbar werden zu lassen. Dazu werden seine wichtigsten Aufsätze erstmals in ihrem systematischen Zusammenhang präsentiert. Die Aufsätze des ersten Kapitels (»Wissen und Wirklichkeit«) zeigen, wie der Zugang zur Wirklichkeit, in der wir Menschen handeln, grundlegend durch gemeinsames Wissen geformt ist. Das zweite Kapitel (»Sprache und Sprechhandlung«) befasst sich mit der sprachlichen Verfasstheit dieses Wissens und seiner Einbindung in eine kommunikative, institutionell organisierte Praxis. In ihrer gemeinsamen Tätigkeit begegnen sich die Menschen immer schon als Personen (Drittes Kapitel: »Psychologie der Person«), denen nicht nur eine näher zu bestimmende Würde zukommt, sondern von denen auch die verantwortliche Übernahme sozialer Rollen erwartet wird. Im vierten Kapitel (»Recht als Lebensform«) geht es um den institutionellen Rahmen für Würde, Recht und Pflicht voller Personen, während das fünfte (»Kunst und Religion«) den kulturellen Praktiken gewidmet ist, in denen die Menschen frei auf ihre gemeinsame Lebensform reflektieren.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Okt. 2022
ISBN9783787341535
Das Wissen der Person: Eine Topographie des menschlichen Geistes
Autor

Pirmin Stekeler-Weithofer

Pirmin Stekeler (Jg. 1952) studierte Mathematik, Theoretische Sprachwissenschaft und Philosophie in Konstanz, Berlin, Prag und Berkeley. Derzeit lehrt er Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Seit 1998 ist er Ordentliches Mitglied und seit 2008 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Seine Arbeitsschwerpunkte stellen die Philosophie der Sprache, Handlungstheorie und Philosophie der Logik dar. Sein besonderes Interesse gilt dem Verhältnis zwischen traditioneller (Platon, Kant, Hegel) und Analytischer Philosophie (Frege, Wittgenstein, Carnap, Quine). Stekeler zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Hegelianern der Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit erweckte seine sprachanalytische Interpretation von Hegels Wissenschaft der Logik. Gegen Ansichten der Analytischen Philosophie hält er die Sprache von Hegel, Nietzsche und Heidegger für philosophisch sinnvoll interpretierbar.

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    Buchvorschau

    Das Wissen der Person - Pirmin Stekeler-Weithofer

    WISSEN UND WIRKLICHKEIT

    I. Wirklichkeit als bewertete Möglichkeit

    1. Die onto-logische Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit

    »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, […] die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken.«

    (WL, KSA 1, 880)

    Was ist Wahrheit? Was ist wirklich? Nietzsche antwortet auf solche Fragen in seinen Texten immer etwas zu schön und zu schnell, indem er aber mit vollem Recht auf die tiefe Bedeutung des rechten Verständnisses figurativer, analogischer und damit modell- und strukturkonstitutiver Redeformen hinweist. Wenn wir etwas langsamer vorgehen, erkennen wir hier zwei Formulierungen einer einzigen Frage. Sie bestimmt den Kernbereich jeder Philosophie, die Ontologie. Diese ist, recht verstanden, immer schon sinnkriteriale Onto-Logie. Das heißt, sie ist oder sollte sein eine logische Untersuchung dessen, was die Ausdrucksformen »Es ist so …«, »Es gibt den Gegenstand x«, »Es ist wahr, dass p«, »p ist wirklich wahr« oder »y gibt es objektiv bzw. wirklich« alles besagen (können). Es sind dazu allerdings unbedingt die nominalisierten Ausdrucksweisen angemessen zu verstehen, in denen über das Sein (to einai), das Seiende (to on), seine Existenzweise, die Objektivität, die Wahrheit oder die Wirklichkeit gesprochen wird. Dabei gilt seit alters das Lehrgedicht des Eleaten Parmenides als Anfang der Ontologie. Und es wird seit alters fehlgedeutet. Denn es werden die entsprechenden Nominalisierungen nicht als titelartige Nennungen der oben genannten Ausdrucksformen oder Kategorien verstanden, sondern als Verweise auf eine für Menschen angeblich oder wirklich nie voll erkennbare Welt an sich. Doch damit wird die Form unserer immer auch schon idealisierenden und vom Einzelfall abstrahierenden Reflexionen auf logische Formen (Begriffe, Ideen) und auf die Erfüllungen normativer Geltungsbedingungen nicht angemessen verstanden. Das geschieht schon, indem man Platons Ideenlehre als Lehre über eine transzendente Wirklichkeit statt als Reflexion auf die Bedeutung von Begriff, Form, Gattung, Art, Ideal und Idee (auf Griechisch alles »eidos«) für explizites Wissen und Wissenschaft liest. Bis heute wird dann auch »das Sein« zumeist als Titel aufgefasst für einen sortalen Bereich aller (wirklichen oder dann auch möglichen) Gegenstände (mit wohldefinierter Identität) oder von allem Seienden, wie man früher halblateinisch dafür gesagt hat. Doch damit wird die Idee einer philosophischen Ontologie verfehlt. Das sieht im Grunde Aristoteles schon. Denn aus logischen Gründen kann es kein Universum aller Gegenstände geben, über die wir sinnvoll reden, deren Eigenschaften wir erfragen und von denen wir irgendwie sagen können, dass es sie (wirklich) gibt. Anders gesagt, ein universe of (all meaningful) discourse gibt es nicht. Das ist jedenfalls dann klar, wenn wir alle abstrakten Redegegenstände hinzunehmen. Denn gerade die logische Form (und Praxis) der Nominalisierung und damit der verbalen Abstraktion ermöglicht es, beliebige neue (abstrakte) Gegenstandsbereiche zu konstituieren, die jeden gegebenen sortalen Gegenstandsbereich überschreiten, also jede gegebene Menge von Elementen transzendieren. Um das einzusehen, müsste man also nicht auf Bertrand Russells Antinomie der naiven Mengenlehre warten.

    Es sind die von uns gesetzten Bedingungen und Erfüllungen von Gleichungen und Relationsaussagen in begrenzten Gegenstandsbereichen (Hegels ›Begriffen‹) wie den Zahlen, Lebewesen, chemischen Stoffen, mittelgroßen Körperdingen und dann auch von Bewegungen und Prozessen als Instanziierungen von Formen im Werden, die bestimmen, worüber man sinnvoll reden und was man wissen kann. Nur in (semi-)sortalen und damit immer bloß lokalen Gegenstandsbereichen G ist zum Beispiel ein Existenzquantor der Form »Es gibt ein x in G mit der Eigenschaft E« auf eine Weise (wohl-)definiert, dass die (seit Gottlob Frege) bekannten logischen Schlussregeln der Quantoren- oder Prädikatenlogik voll (oder cum grano salis) gelten, also im Schließen verwendet werden können.¹

    Die Konstitution von (halb-)sortalen Redebereichen bestimmt damit offenbar zugleich auch, was man sinnvoll als existent oder wahr glauben kann bzw. was es heißt, an eine Wahrheit oder Existenz zu glauben. Das ist nicht eigentlich eine Behauptung. Es ist eine Feststellung, aber nicht ohne normative Beurteilung, wie man die Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit und dann etwa auch die Wörter »Wissen« und »Glauben« bzw. »Existenz« und »Gegenstand« verstehen sollte. Sie in ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen, ist freilich ganz offenbar nicht einfach.

    Die Wiederkehr von Ontologie in der Gegenwart ist daher zumeist schlecht über diese Hintergründe informiert. Sonst würde sie sich nicht als eine Art Glaubensphilosophie präsentieren. Das heißt, man redet und schreibt so, als ginge es in der Ontologie darum, woran wir als Grundlage dessen, was es so alles gibt, glauben können oder sollen. Man erzählt oder versichert, was es angeblich wirklich gibt. Man schildert angeblich schon »real« oder »objektiv« vorgegebene und vorbestimmte Gegenstandsbereiche, in denen unsere prädikativen Unterscheidungen und Existenzaussagen angeblich definiert sind. Die zugehörigen Ismen wie Realismus oder Physikalismus oder auch Materialismus und Objektivismus sind solche ontologischen Glaubensphilosophien. Sie verteidigen entsprechende Thesen, die obendrein zumeist in aphoristischen, also sprachtechnisch als orakelartig zu wertenden Ausdrucksformen verfasst sind. Ganze Bibliotheken sind voll derartiger Ismen-Philosophie und dem ewigen Streit um metaphysische Intuitionen, also subjektive Meinungen dazu, was es angeblich auf basale und unmittelbare Weise gibt. Manche beschränken sich dabei auf die physische Welt der raumzeitlichen Dinge, der res extensae, und sind dann überzeugte und stolze Reduktionisten. Sie meinen, dass es andere Dinge wie z. B. abstrakte Zahlen nicht wirklich gibt, schon gar nicht eine eigenständige geistige Welt der res cogitans oder Seele. Unglücklicherweise ist hier das Wort »wirklich« bloß ein Ausdruck subjektiver Emphase. Ein metaphysisches Meinen hat eben daher weder etwas mit Wissenschaft noch mit Philosophie zu tun. Nietzsche kommentiert es daher völlig angemessen »in der Sprache eines alten Mysteriums« so: »adventavit asinus, pulcher et fortissimus« (JGB, KSA 5, S. 21).

    Was hier eigentlich oder wirklich zu tun wäre, ist die Beendigung von Metaphysik als Glaubensphilosophie und ihre Ersetzung oder besser Restitution als logische Reflexion auf alle Seinsbegriffe, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel klarer als Immanuel Kant sagt und dieser klarer als David Hume sieht. Dabei ist bis heute die zentrale Einsicht von Kants Transzendentalphilosophie gerade in ihrer Präzisierung durch den objektiven und absoluten Idealismus Hegels noch kaum angekommen. Sie besagt, dass jeder Bezugsgegenstand immer auch schon ein abstraktes Gegenstandsmoment »an sich« enthält. Wir beziehen uns also sozusagen immer auch auf ein reines Verstandesding, wo immer wir uns (gemeinsam) auf etwas als deren Instanziierung in der wirklichen Welt beziehen. Nietzsche entdeckt diese Gedanken auf seine Weise wieder.

    In jedem wirklichen, konkreten Ding, auf das wir uns beziehen, sind in der Tat, wie das lateinische Wort »concrescere« sagt, ein Moment des Ansichseins als abstrakter Redeform über einen besonderen Fall einer allgemeinen Gattung und das Moment der realen und damit einzelnen Erscheinung etwa in der Wahrnehmung zusammengewachsen: Wir können uns auf nichts in der Welt (gemeinsam) beziehen, was nicht schon begrifflich typisiert und damit in seinen wesentlichen Bestimmungen kategorial verfasst oder konstituiert wäre.

    Hegels Kommentar zur zentralen Einsicht Kants ist eben wegen dieser Umdeutung der Rede von Gegenständen an sich so zentral. Die Gegenstände an sich sind, wie Hegel gegen Kants irreführende Verwendung der Ausdrucksweise erkennt, nicht etwas Unerkennbares, Transzendentes. Sie sind das abstrakte Moment in konkreten, gerade auch empirischen Weltbezügen. Sie sind durch die Formen der begrifflichen und damit immer auch schon sprachlichen Bezugnahme konstituiert. Eben damit sind sie als unsere eigenen (sprachlichen) Konstruktionen sozusagen das Bekannteste, manchmal auch das Erkannteste, was es gibt. Der Fall ist analog dazu, dass die Mathematik, wie das griechische Wort »mathēsis« besagt, das Lehrbarste und Lernbarste ist, was es gibt. Das ist sie entgegen dem Hörensagen, das die Mathematik zu einem Arkanum macht und ihre Sprachtechnik mystifiziert.

    Das Ergebnis der Philosophie Kants ist also, wenn wir Hegel folgen, dass es auch für konkrete Dinge wie für abstrakte Gegenstände eine Konstitution dafür gibt, was diese Gegenstände an sich sind, also in Bezug auf das allgemeine begriffliche Moment, nach dem sie immer als Elemente einer Gattung oder Art aufzufassen sind. Hegel liest das als sein Ergebnis von Kants transzendentaler Analytik. An ihm kann niemand zweifeln, der unseren Weltbezug genauer in seiner realen und praktischen Form betrachtet. Die Analyse zeigt, dass die Konstitution durch »abstraktive« Namenbildungen und durch gemeinsame Festlegung der Wahrheitswerte für prädikative Ausdrucksformen vermittelt ist. Diese wiederum machen es allererst möglich, Aussagen über konkrete Dinge, Sachen, relationale Sachverhalte, Ereignisse und Prozesse als wahr zu behaupten – oder auch nur sprachlich empirische Informationen weiterzugeben.

    Dementsprechend gibt es ganz verschiedene sortale oder halbsortale, abstrakte und konkrete Bereiche G, in denen wir Gegenstände an sich repräsentativ nennen und in ihrer realen Identität dann auch präsentisch zeigen können. Hegel spricht von ihrem Für-sich-Sein gerade auch dort, wo es darum geht, dass für die Präsentationen und die Repräsentationen eine passende Gleichheit definiert sein muss, da wir sonst das, was wir wahrnehmen, nicht nennen oder sagen können. Dabei sind auch Nennungen L durch titelartige Labels, nicht nur ganze Sätze und Aussagen hochbedeutsam. Dennoch haben Namen N und Benennungen T immer nur im Zusammenhang des Satzes eine wohlbestimmte Bedeutung, also einen wohldefinierten Gegenstandsbezug. Genauer setzen wir hier immer schon einen Kontext ganzer Satzsysteme voraus, zu denen insbesondere Gleichungen der Form N = T gehören. Dabei artikulieren Aussagen selbst nur Differenzierungen von Sachverhalten, Ereignissen oder Prozessen, freilich zusammen mit entsprechenden dispositionellen Inferenzen oder Normalfallerwartungen, die durch den Satz artikuliert oder angedeutet sind.

    Ohne die Möglichkeit, wenigstens in Umrissen zu zeigen, zu nennen oder zu sagen, was es ist, das man wahrgenommen hat, hat man noch gar nichts im vollen Sinn wahrgenommen, sondern reagiert bloß irgendwie auf Empfindungen. Menschliche Wahrnehmung im vollen Sinn (wie bei Hegel und dann auch bei John McDowell)² ist demnach, so müsste man in der traditionellen Terminologie noch klarer als Kant sagen, schon begrifflich gefasste apperzeptive Anschauung, nicht bloße Sinnesempfindung oder animalische Perzeption als bloß enaktive Steuerung des bloß eigenen Bewegungsverhaltens auf der Basis rein sinnlicher Information.

    2. Identität, Realität und Fiktionalität

    »Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dinges in verschiedenen Punkten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (daß es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiß nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewußt hätte, daß es in der Natur keine exakte gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Größenmaß gebe.« (MA I, KSA 2, S. 31)

    Wie ist Nietzsches Kritik an der Unterstellung der Identität desselben Dinges zu verschiedenen Zeiten sinnvoll zu verstehen? Hat man in der Mathematik nicht immer schon gewusst, dass es in der Natur keine exakte gerade Linie gibt, keinen wirklichen (d. h. idealen) Kreis und schon gar kein absolutes Größenmaß? Nietzsches völlig korrekter Kommentar dazu, dass sich die Welt nicht als sortaler Gegenstandsbereich präsentiert, also nicht als »mögliche Welt«, wie man sich das in der formalanalytischen Philosophie in einem mengentheoretischen Bild vorstellt, ist hier aber durchaus auch unpräzise, wie auch das folgende Beispiel zeigt:

    »Die Zahl. – Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist aufgrund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nicht Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein ›Ding‹). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es Etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. – Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen: aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie z. B. unsere Raum- und Zeitempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man kann auf ihnen fortbauen – bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomlehre. Da fühlen wir uns immer noch zu der Annahme eines ›Dinges‹ oder stofflichen ›Substrats‹, das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegung aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von alters her verknotet ist. – Wenn Kant sagt ›der Verstand erschöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor‹, so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. – Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.« (MA I, KSA 2, S. 40).

    Trotz aller Probleme im Detail bemerkt Nietzsche hier etwas äußerst Wichtiges, nämlich dass die formale Logik Verhältnisse voraussetzt, wie wir sie nur in den von uns selbst entsprechend eingerichteten idealen mathematischen Rede- und Gegenstandsbereichen vorfinden, also nur in rein abstrakten Mengen. Nur solche reinen Klassen sortaler »Dinge an sich« (wie der reinen Zahlen) sind gänzlich zeitallgemeine Bereiche. Schon Bereiche von konkreten Lebewesen und realen Dingen bzw. konkreter Arten sind bloß halbsortal. Denn ihre Identitäten und Individualitäten sind immer nur in einer gewissen Zeitepoche wohldefiniert, bei höheren, unteilbaren Lebewesen etwa von der Geburt bis zum Tod, bei einem mittelgroßen Zeug wie z. B. bei Stühlen oder Schiffen vielleicht so lange, wie sie kontinuierlich ihren angemessenen Gebrauch finden, auch wenn sie dabei in allen ihren Teilen repariert werden. Auch die Gattungen und Arten der Tier- und Pflanzenwelt sind immer nur relativ zu eingegrenzten Zeitepochen in ihrer disjunkten Identität definierbar. Bei bloßen Dingen wie Bergen, Felsen und Steinen sind weder klare Grenzen noch Identitäten definiert, die über die jeweilige Anpassung an die Situation in einer an ganz bestimmten Aspekten interessierten Unterscheidung hinausgehen.

    Im Fall einer zerbrochenen antiken Vase würden wir wohl die aus den alten Bruchstücken zusammengeklebte Vase als Originalvase ansehen, nicht eine Replik. Im berühmten Beispiel des Schiffes von Theseus würden wir dagegen ohne anderslautende vorherige Abmachung das aus den abgelegten alten Planken zusammengebastelte Schiff nicht als identisch mit dem Originalschiff ansehen wollen, sondern das dauernd umgebaute, aber kontinuierlich schwimmende Schiff. Beide Schiffe können offenbar nicht zugleich mit dem Originalschiff identisch sein, da sonst 2 Schiffe = 1 Schiff gälte, was als mathematischer Widerspruch unerwünscht wäre.

    Auch bei Pflanzen und ihren Ablegern können wir wie in vielen anderen Fällen auch nicht immer sagen, was wir überzeitlich zu Zähleinheiten machen sollen oder wollen.

    Das alles heißt: Es gibt vieles in der Welt, das sich nicht von selbst als sortale Menge von Gegenständen mit klaren Identitäten und Grenzen präsentiert. Das gilt insbesondere für Ereignisse und Prozesse, aber schon für Sachverhalte, Tatsachen, Bedeutungen, Inhalte usf. Jede analytische Philosophie, welche diese Tatsachen ignoriert, geht an der realen Welt, unserem wirklichen Handeln und unserem wirklichen Weltbezug vorbei, spricht also schlecht abstrakt bloß über eine Welt an sich. Das gilt z. B. für Donald Davidsons unerklärte und unerklärbare Rede über Ereignistoken³ oder für eine ebenfalls nicht bestimmte Rede von einem puren Akt für sich, wie in der Vorstellung, das menschliche Handeln bestehe aus Folgen von Minimalakten.⁴

    Neben den Existenzquantoren in sortalen Gegenstandsbereichen, wie wir sie aus der Mathematik kennen, gibt es außerdem noch viele andere logische Formen der Rede von Existenz und Wirklichkeit. Wir sagen z. B. »Es gibt Zahlen« oder auch »Es gibt Gerechtigkeit« oder negativ »Es gibt kein fliegendes Pferd Pegasus«. Dabei ist noch keineswegs klar, was man damit konkret sagen will. Das gilt erst recht, wenn jemand sagt, es gäbe keine causa finalis oder keinen freien Willen. Man kann keine dieser Sätze unmittelbar für wahr oder falsch erklären, ohne unter das obige Verdikt Nietzsches gegen das Meinen in der Philosophie zu fallen.

    Im Übrigen ist es die Wissenschaft, nicht eine Ontologie, in der wir unterscheiden, was es in einem schon konstituierten, damit begrenzten Gegenstandsbereich gibt, ob es zum Beispiel in den natürlichen Zahlen einen größten Primzahlenzwilling (n, m) gibt mit n = m + 2 (Beispiele sind: 5 und 7 oder 11 und 13). Dabei unterscheiden die verschiedenen sortalen oder halbsortalen Redebereiche G sozusagen verschiedene G-interne »Bedeutungen« des »Es gibt«. In der empirischen Welt des sinnlich Wahrnehmbaren (und der Welt der Dinge) gibt es zum Beispiel überhaupt keine (reinen) Zahlen, während die Anzahlen der Sonnenplaneten oder der gerade jetzt noch lebenden Menschen keine reinen Zahlen sind. Das liegt einfach daran, dass sich empirische Anzahlen in der Zeit immer ändern, dass andererseits eine reine Zahl weder gesehen, geschmeckt, gerochen noch erspürt werden kann. Reine Zahlen haben aus kategorialen Gründen (der Definition der zulässigen Aussageformen) keine wahrnehmbaren Eigenschaften. Anders als Dinge bewegen sie sich auch nicht (und zwar wieder per definitionem oder, was dasselbe ist, ihrem Wesen nach). Und sie haben auch keine Wirkungen, wenn man zwischen reinen und benannten Zahlen unterscheidet, also etwa zwischen der Zahl 2 und dem Gewicht von 2 kg.

    Aus dem kategorialen Urteil, dass es in der empirischen Welt gar keine Zahlen gibt, folgt selbstverständlich nicht, dass es überhaupt keine Zahlen oder dann auch keine Zahl z gäbe, für die etwa 3 + 4 = z wahr ist.

    Zu einer sinnkriterialen Ontologie gehört ganz offenbar die Unterscheidung kategorialer Redebereiche. Das ist im Grunde seit alters in der Philosophie bekannt. Es wird dennoch bis heute in den Wissenschaften und einer szientifischen Glaubensphilosophie oft nicht in seiner Bedeutung beachtet – sonst würde man sich z. B. nicht über die in diesem Punkt völlig klaren Bedenken eines Gilbert Ryle⁵ oder Ludwig Wittgenstein gegen die Missachtung von begrifflichen Kategorienfehlern oder category mistakes wie etwa in Sätzen der Art »Ich bin mein Gehirn« oder »Das Gehirn entwirft sich ein Selbstmodell«⁶ hinwegsetzen. Gehirne tun nicht bloß zufälligerweise nichts dergleichen. Sie sind auch weder Personen noch Charaktere.

    Aus unseren Bedenken gegen die Kategorienfehler physikalistischer Reduktionisten lässt sich aber andererseits auch kein Kapital schlagen zugunsten eines Glaubens, dass es vielleicht doch so etwas gäbe oder geben könne wie eine vielleicht sogar unsterbliche menschliche Seele (damit dann wohl auch einen Gott und möglicherweise ein Jüngstes Gericht oder dergleichen). Der Hinweis auf die (tatsächlich recht engen) Grenzen von bloß physikalischen Ausdrucks- und Wissensformen hilft hier nämlich nicht weiter, auch nicht die Betonung, dass eine Seele als solche in der hiesigen, empirischen Welt natürlich nicht sinnlich erfahrbar sein könne, und das sogar aus kategorialen Gründen. Denn leider ist auch hier ganz unklar, was das »Es gibt etwas (Gott, die Seele) möglicherweise in einer anderen Welt« überhaupt heißen könnte.

    Offenbar setzt nicht nur ein Wissen über das, was es gibt, wie z. B. die kürzlich wohl als existent bestätigten Higgs-Teilchen, sondern auch ein Glauben daran, dass es so etwas wie einen freien Willen oder eine Seele gebe, schon die Klärung der onto-logischen Frage voraus, von welchem gattungsmäßigen Bereich von Gegenständen, Eigenschaften, Prozessen oder Sachverhalt überhaupt die Rede ist. Erst dann wird klar, was es heißt, an diese Dinge zu glauben. Man muss also wissen, was die Dinge sind, an deren Existenz oder Wirklichkeit man glaubt. Man sollte, heißt das, zumindest wissen, worüber man redet.

    3. Metaphysik als kategoriale Sinnanalyse

    »Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrößte Teil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft.« (FW, KSA 3, S. 559)

    Die zugehörige Frage, was die Sachen eigentlich oder wirklich sind, über die wir reden, ist keine einzelwissenschaftliche, sondern eine logische, kategoriale und begriffliche, wenn man will: grundbegriffliche und grundlagentheoretische Frage. Zu meinen, eine Antwort auf sie zu besitzen, liegt vor jedem sinnvollen Glauben, dass es die Sachen gibt. Die Meinung, zu wissen, wovon man redet, ist also Präsupposition des Glaubens. Das heißt nicht, dass der Einzelne wirklich je schon explizit auf die Frage antworten könnte. Vielmehr beginnt er mit dem vertrauensvollen Glauben an Dinge, von denen er am Ende doch nicht sagen kann, was sie sind. Wenn uns Platons Sokrates in seinen nachbohrenden Dialogen sonst nichts als dieses gezeigt hätte, dann wäre er immer noch eine der größten und wichtigsten Figuren der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte – eine Tatsache, die Nietzsche selbst leider nie als solche erkannt hat. Denn nicht erst er, sondern schon Sokrates hat bemerkt, dass uns das meiste, was wir tun und sagen, in vielen Aspekten nicht bewusst ist. Seither wissen wir, dass das Bekannte häufig noch nicht erkannt (wie Hegel sagt) oder die Frage nach dem Sinn (etwa in einer philosophischen Reflexion) zuerst beantwortet werden muss, bevor man sich qualifiziert darüber unterhalten kann (oder auch nur bewusst danach fragen kann), ob man dieses oder jenes glauben soll oder besser nicht oder was es heißt, es als wahr zu behaupten oder zu wissen.

    Aristoteles hatte die ontologischen Fragen nach den verschiedenen kategorialen Gegenstandsbereichen des Wissens und nach der Konstitution der verschiedenen Geltungs-, Wahrheits- und Existenzbegriffe in seiner Ersten Philosophie untersucht, die später den Titel einer Metaphysik erhalten hat. Metaphysik in diesem Sinn ist reflexionslogischer und eben damit ontologischer Kern der Philosophie in einer zugehörigen logischen Geografie oder topologischen Ortsbestimmung verschiedener Wissenschaften und Wissensbereiche. Es ist ja etwas ganz anderes, von der Wahrheit eines arithmetischen Satzes zu sprechen als von der empirischen Wahrheit, dass vor mir ein Baum steht oder dass es in Australien schwarze Schwäne gibt. Man kann von einer richtigen wörtlichen oder wahren inhaltlichen Wiedergabe eines Bühnenstücks oder eines Romans oder des Textes der Bibel sprechen. Etwas anders ist es, von der tieferen Wahrheit zu reden, die in diesen Texten vielleicht über die allgemeine Form des Menschseins ausgedrückt sein mag. Die Aussage, dass Sherlock Holmes in der Baker Street gewohnt hat, ist zum Beispiel wahr in dem Sinn, dass Conan Doyles Texte Sherlock Holmes dort wohnen lassen. Sie ist falsch, insofern es in der realen, empirischen Welt des 19. Jahrhunderts nie einen Detektiv mit Namen »Sherlock Holmes« gegeben hat, schon gar nicht in der Londoner Baker Street. Doyles Texte lassen übrigens offen, wo Sherlock Holmes Großeltern gelebt haben mögen. Conan Doyle hätte das hinzuerfinden können. Aber er hat es nicht hinzuerfunden. Das ist ein anderer Fall als der, dass wir nicht wissen, wer der leibliche Großvater väterlicherseits von Jesus von Nazareth war. Dass es ihn gegeben haben muss, sollten wir nicht bloß glauben, sondern als Wissen anerkennen, wenn wir uns nicht mit der Versicherung zufriedengeben, dass es sich hier um den einzigen Fall einer menschlichen Parthenogenese oder Jungfrauengeburt handelt, und das nicht bloß in einem metaphorischen Sinn.

    Das führt uns zu der wichtigen Beobachtung, dass fingierte und damit fiktive Gegenstände immer bloß mögliche Gegenstände sind, für die gar keine reale Identität definiert ist. Das wiederum besagt, dass sie nicht in allen für die reale Existenz notwendigen Stücken bestimmt sind. Man kann sie z. B. nicht selbst zeigen, bestenfalls Bildnisse von ihnen. Das gilt z. B. auch für alle Götter. Fingierte Personen sind eben daher keine realen bzw. konkreten (Hegel würde terminologisch sagen: »für-sich-seienden«) personalen Subjekte, sondern immer bloß Personen an sich, also typische Persönlichkeiten und als solche Abstrakta. Sie sind Figuren in einem Text, einer Erzählung oder einem Stück. Als solche sind sie immer nur abstrakte Typen an sich, ohne konkretes oder reales »Für-sich-Sein«.

    Gerade der Glaube an die Unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria oder an andere Wunder macht, um unser Beispiel weiterzuspinnen, aus den historischen Figuren des Jesus und seiner Mutter partial fingierte Charaktere oder Typen – was immer die Gläubigen anderes meinen. Das ist eine einfache Folge der verbalen Verneinung universaler materialbegrifflicher Bedingungen dafür, dass von einem realen Menschen die Rede ist. Da Jesus Gott sein soll, wird dieser Mangel von Gläubigen nicht als arg empfunden. Unglücklicherweise muss man dann aber zugeben, dass man zumindest passagenweise nur noch über eine literarische Heldenfigur spricht, die so nie existiert hat oder, wenn sie existiert hat, durch figurative Zusatz-Zuschreibungen von nicht-menschlichen Eigenschaften in ähnlicher Weise in einen Typus verwandelt wurde, wie Platon seinen Lehrer Sokrates ganz offenkundig und ganz bewusst in eine literarische Figur und eben damit einen philosophischen Heros verwandelt hat.

    Natürlich wird der Gläubige sagen: Nein, es war wirklich so. Die Wunder sind geschehen. Sie sind keine bloßen Zuschreibungen, etwa der Evangelisten nach einem Hörensagen. Der Gläubige wird aber nicht leugnen können, dass er selbst nur über diese Zuschreibungen etwas über die Wunder wissen oder glauben kann. Und er muss zugeben, dass die Wunder gerade als Wunder das Menschenmögliche transzendieren. Daher kann es sich um keinen realen Menschen handeln. Sagt man, dass es sich um einen Gott handele, werden wir zur weiteren Frage zurückgeführt, was denn ein Gott ist, wie also die Rede von Göttern durch menschliche Sprachspiele und Bildnisse konstituiert ist, welchen Zwecken sie dient und wie wir Aussagen über ihre Existenz oder den Glauben an Gott überhaupt zu verstehen haben, bevor wir eine Versicherung der Art abgeben, dass wir an die Existenz des Gottes glauben.

    Man kann allerdings, wie wir schon sahen, auch Überzeugungen haben oder zu haben meinen, ohne genau zu wissen, was die Überzeugung so alles besagt. Doch das ist offenbar defizitär.

    An die Realität von Sherlock Holmes zu glauben, ist offenbar Unsinn. Wir wissen nämlich, dass es Sherlock Holmes und seine Taten, wie wir vielleicht sagen mögen, nur in den Büchern von Conan Doyle gibt. Wissen wir dann aber nicht auch, dass es auch Halbgötter, Götter und Heroen, wie etwa Homers Achill und seine Mutter Thetis, aber auch Platons Sokrates oder den Gottmenschen Jesus, wie er uns von den Evangelisten der Paulus-Nachfolge dargestellt wird, nur in den bestenfalls partiell historischen, partiell aber sicher auch fingierten Erzählungen gibt, also als mythische Personen oder Romanfiguren? Wir können sie ja gerade nicht völlig als geschichtliche Berichte lesen, sofern wir überhaupt lesen können, und das heißt, die kategorialen Textformen verstehen.

    Ist also das, was man normalerweise für einen Glauben an Gott hält, am Ende doch bloß von einem ähnlichen Typ wie die Verwechslung von Romanfiguren mit lebenden Personen?

    Ein durchaus analoges Problem tritt auf, wenn man unsere mathematischen Strukturmodelle, die wir in einer ganz bestimmten Symbol- und Formalsprache konstituieren, mit realen Verhältnissen einfach identifiziert und so redet, als würde eine gegebene Struktur der Welt dabei einfach abgebildet. Kant hat diese Fehler als Erster klar durchschaut. Die neuere analytische Philosophie nach Wilfried Sellars⁷ (vertreten durch Philosophen wie Richard Rorty⁸, Robert B. Brandom⁹ und John McDowell¹⁰) hat die Bedeutsamkeit dieser grundsätzlichen Einsicht der Transzendentalphilosophie für jede weitere Philosophie und ernst zu nehmende Metaphysik als Onto-Logie oder Reflexion über die Seinsbegriffe des Wahren und Wirklichen (man möchte fast sagen: endlich) erkannt und anerkannt. Das geschieht durchaus im Unterschied und Kontrast zum logischen Empirismus. Dieser schwankt (schon bei Locke und Hume) zwischen einem methodischen Solipsismus (wie später auch bei Bertrand Russell und dem frühen Rudolf Carnap¹¹, die dem Bischof George Berkeley viel näherstehen, als ihnen lieb sein sollte) und einer physikalistischen Glaubensphilosophie (wie bei Otto Neurath, Willard Van Orman Quine und zum Teil auch noch bei Sellars selbst).

    Unglücklicherweise wird dabei eine ganze Tradition sinnkriterialer Ontologie und Metaphysik seit Parmenides, Platon und Aristoteles statt als sinnkritische Reflexion auf die Konstitution des »es gibt« oder die Verfassung der diversen Existenz- und Wahrheitsbegriffe immer schon und immer wieder mit ihrem Gegenteil, einer Glaubensphilosophie, verwechselt. Diese Verwechslung ist so tief, dass das Wort »Metaphysik« inzwischen sogar zur Überschrift über einen naiven ontischen Glauben an transzendente Dinge und Wahrheiten geworden ist, statt Titel zu sein für eine logische Analyse und Kritik eines solchen Glaubens. Eine wesentliche Ursache für diese Verwirrung liegt in der narrativen Missdeutung der Sprache spekulativer Formenanalysen. Dieses Fehlverständnis ist verantwortlich nicht erst für die gängige Fehllektüre Hegels, sondern schon für die Verwandlung von Platons Philosophie in einen Platonismus.

    Man kann oder darf die Sätze einer reflexionslogischen Sprache nie als Thesen oder Behauptungen, Konstatierungen oder ›Aussagen‹ lesen. Denn es ist falsch zu unterstellen, es gehe dabei um Schilderungen von Eigenschaften und Tätigkeiten transzendenter Gegenstände, etwa meiner Seele, meines Bewusstseins oder Willens oder meines Unterbewusstseins oder einer Welt an sich. Es geht vielmehr, wie Hegel klar betont, aber nur wenige zu lesen verstehen, um kommentierende Erläuterungen von Sinn und Bedeutung von Wörtern und Ausdrucksformen wie »geistig«, »beseelt«, »ich will«, »er will«, »ich weiß« und »er ist sich dessen bewusst, dass …«. Im Fall von Gott geht es um das Göttliche, im Fall der Wahrheit um das Ganze des Gebrauchs des Wortes »wahr«. Ebenso sind die von Hegel so genannten spekulativen Sätze zu lesen; und ebenso liest er selbst die formentheoretischen Sätze der Ideenlehre Platons und der Metaphysik des Aristoteles.

    Die neuere empiristische Metaphysikkritik bei Russell, Wittgenstein oder Carnap meint, dass die traditionellen Überlegungen der Philosophie keinesfalls als semantische Sinnexplikationen zu lesen seien; denn erst sie selber hätten bemerkt, dass sie so zu lesen seien. Das ist eine nette Unbescheidenheit. Sie unterstellt, wie schon Hume, Schopenhauer und Kant, dass die metaphysischen Sätze der Tradition narrativ, konstativ, also nicht sinnexplikativ zu lesen seien. Damit aber teilen die Kritiker einen Irrtum dazu, was Metaphysik sei und wie die metaphysischen Sätze zu lesen seien, am Ende mit den Glaubensphilosophen.

    4. Denken und Folgern

    »Der Denker. – Er ist ein Denker: das heißt, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.«

    (FW, KSA 3, S. 504)

    Der relativ einfache Grundgedanke der Differenz zwischen einer sinnkriterialen Ontologie und einer skeptisch-prüfenden Epistemologie ist bis heute noch kaum begriffen. Denn auch in der Epistemologie oder Erkenntnistheorie geht es nicht etwa um eine Auflistung dessen, was wir (vermeintlich) wissen, sondern um eine Logik von Aussageformen wie z. B.: »Ich weiß, dass p«, etwa im Kontrast zu: »Ich glaube, dass p« oder zu: »Ich meine, dass p«, aber dann auch zu: »N weiß, dass p« und »Man weiß, dass p« bzw. »Wir wissen, dass p«. Wie gebrauchen wir solche Aussagen? Wann wären sie richtig? Wann also sind sie als wahr erfüllt? Wie kontrollieren wir sie? Wie begründen wir sie? Wie kritisieren wir sie? Wie rechtfertigen wir sie gegen Kritik? Wie erkennen wir sie in einem metastufigen (und gemeinsamen) Reflexionsurteil als wahr an? Hinzu kommen Fragen des rechten Umgangs mit Formen der Art: »Wenn N weiß, dass p, ist p wahr« im Unterschied zum Übergang von meiner Versicherung »Ich weiß, dass p« zu »p ist wahr«.

    Eine Aussage der Form »Ich weiß, dass p« artikuliert zunächst bloß eine Gewissheit, kein Wissen. Der Übergang von »Ich weiß, dass p« zu »p ist wahr« ist nur wahr, wenn sie im Skopus meiner expressiven Performation oder meiner Gewissheit verbleibt. Sie geht erst dann aus dem Skopus meiner Verantwortung in den Skopus der Verantwortung einer anderen Person über, wenn diese »p ist wahr« sagt und damit, wie wir dann sagen, mein Wissen bestätigt, also meine Gewissheit sozusagen in einen Wissensanspruch aus ihrer Sicht verwandelt.

    Die formalen Verhältnisse sind recht komplex. Denn wenn du aufgrund meiner Aussage, dass p, die Aussage bloß unter Berufung auf mich übernimmst, liegt der Fall anders, als wenn du meine Aussage, dass p, prüfst und bestätigst. Im ersten Fall schiebst du die Verantwortung auf mich, im zweiten übernimmst du sie selbst.

    Wie Brandom im Anschluss an Quine vorführt,¹² referierst du im ersten Beispiel oder Fall im Modus de dicto auf das, wovon ich rede, im zweiten im Modus de re.¹³ Es gibt diverse Ausdrucksformen, um diesen Kontrast explizit zu machen. Eine Methode ist, sich in indirekter Rede auf das zu beziehen, von dem der andere Sprecher glaubt, dass es existiere, statt sich mit diesem gemeinsam auf etwas zu beziehen, dessen Existenz damit implizit bestätigt oder präsupponiert wird. Ich kann also z. B. sagen, dass Christen glauben, dass Jesus Gott sei. Und ich kann von Jesus sagen, dass er ganz offenbar ein moralisch ungewöhnlicher, in seiner ethischen Haltung zur Welt fast idealer, in diesem Sinn göttlicher oder, wie Hegel dafür so schön sagt, wirklicher Mensch war – womit jetzt die reale historische Existenz des Jesus unterstellt ist, aber nicht die Wunder-Zuschreibungen der Christen.

    Es gibt keine Aussagen, die ohne Autor dastehen und über die wir als freischwebende Sätze in ihrem Inhalt und ihrer Wahrheit von der Seite sprechen könnten, es sei denn, wir reden bloß von möglichen Urteilen möglicher Sprecher. Auch wer im Modus des »Man kann sagen, dass p« oder »Wir wissen, dass p« spricht, hat sich selbst als Sprecher deklarativ zu p geäußert, also eine Versicherung abgegeben, dass p wahr ist, bzw. seine Gewissheit, dass p, zum Ausdruck gebracht. Zugleich appelliert er an eine gemeinsame Beurteilung von p als wahr.

    Andererseits gibt es einen Kontrast zwischen dem Gebrauch der Aussageformen »p«, »›p‹ ist wahr« und dann auch: »Ich weiß, dass p«, »Ich bin der festen Überzeugung, dass p« und »Ich meine bloß, dass p«. Analoges gilt für die entsprechenden Aussageformen in der Er-, Man- oder Wir-Form, also »Er meint, dass p«, »Man glaubt, dass p« und »Wir wissen, dass p«.

    Von zentraler Bedeutung wird dann auch die Differenz zwischen (berechtigten oder unberechtigten) Folgerungen von Sprechern und allgemeinen Folgen, die man auf die Satz- oder Sach-Ebene ansiedelt und bei denen man von jedem Sprecher in höchst idealer Weise abstrahiert. Ich kann eine Folgerung ziehen, du eine andere. Wenn ich aber sage, dass q aus p folge, dann sage ich, dass man q aus p folgern darf oder (inferentiell) erschließen (können) soll. Die Frage ist, wie mein modales Urteil, dass q aus p folge, dass man also q aus p schließen dürfe, zu begründen ist.

    Die Differenz zwischen dem Ziehen von Folgerungen oder Schlüssen und den als gültig bewerteten Schlüssen oder Inferenzen als erlaubten Formen des Übergangs von urteilenden Aussagen zu urteilenden Aussagen wird deswegen allgemein übersehen, weil man sich allzu sehr am Paradigma der Mathematik orientiert, in welcher der Sprecher und sein Tun praktisch keine Rolle spielt. Hier meint man, nur mit autorenfreien Sätzen operieren zu können. Dass keine empirische Aussage autorenfrei ist, sollte aber klar sein: Jeder empirische Weltbezug ist perspektivisch. Er ist eben damit vermittelt über subjektive Gewissheiten und abhängig von einer raumzeitlichen Perspektive. Typische empirische Aussagen dieser Art sind nämlich: »Vor mir saß eben ein Vogel. Jetzt ist er weggeflogen«. Empirische Aussagen in dieser zugegebenermaßen engen, aber eben nur so sinnvollen Bedeutung des Wortes »empirisch« sind also zeitliche, historische, konstative, narrative Aussagen. Sie werden begründet über das, was man wahrnimmt, wahrgenommen hat, dann auch über das, was andere wahrnehmen, wahrgenommen haben, wahrgenommen haben könnten oder möglicherweise wahrnehmen werden. Von durchaus anderem Typ, der Form nach, sind sogenannte ewige Wahrheiten. Das sind zeitallgemeine Sätze (Sebastian Rödl)¹⁴ und Aussagen, die (von Quine) auch als standing sentences angesprochen werden (und dennoch noch nicht in ihrem Status begriffen sind).

    Zeitallgemein oder überzeitlich sind nicht nur sogenannte (formal-)analytische Sätze, zu denen reine Definitionen und deren sprachkonventionelle Folgen gehören, etwa der Art »Wer (noch) Junggeselle ist, ist (noch) unverheiratet«, oder die von Kant so genannten synthetischen Urteile a priori, etwa der Art: Geraden und Kreislinien haben maximal zwei gemeinsame Punkte. Kant denkt im Wesentlichen nur an Sätze der Geometrie, einer rein mathematischen Kinematik und Dynamik (ohne jede konkrete Messung, aber mit voller Arithmetik).

    Es gibt aber viel, viel mehr (material-)begriffliche Sätze und generische Aussagen. Zu diesen gehört etwa der Satz »Der Mensch ist sterblich«. Er ist keineswegs nur ›empirisch‹ wahr. Dasselbe gilt für: »Jeder Mensch hat einen Vater« oder »Man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen«.

    Alle drei Formen zeitallgemeiner Sätze, die analytischen, synthetisch apriorischen und die materialbegrifflichen sind normalerweise Teilmomente einer (Explikation der) begrifflichen Inhaltsbestimmung empirischer Wörter und Sätze und damit transzendentale oder präsuppositionale Bedingungen der Möglichkeit von deren Sinn, Bedeutung und Bezug. Sie bestimmen also gemeinsam die differentielle und inferentielle Bedeutung der Ausdrücke in ihren empirischen Verwendungen etwa in informativen Sprachhandlungen wesentlich mit.

    5. Wissen und Fallibilität

    »Der Wahrhaftige endet damit, zu begreifen, daß er immer lügt.«

    (NL 3 [1], KSA 10, S. 74).

    »Menschenloos. – Wer tiefer denkt, weiß, dass er immer unrecht hat, er mag handeln und urteilen, wie er will.« (MA I, KSA 2, S. 324)

    Solange in der formalanalytischen Philosophie die Bedeutung der bisher genannten Differenzierungen nicht zureichend berücksichtigt ist, gibt es noch keine professionelle Ontologie und Erkenntnistheorie auf der Höhe der logischen Anforderungen der Zeit. In der Epistemologie verheddert man sich im Skeptizismus schon deswegen, weil der Ausdruck »Wissen« immer ein Zuschreibungsbegriff und Selbstzuschreibungsbegriff bleibt.

    Die unaufhebbare Fallibilität jedes empirischen Wissens ergibt sich erstens daraus, dass alle freien menschlichen Handlungen, also auch Urteile und Folgerungen, zufälligerweise scheitern können. Daher können, zweitens, unsere Wissensansprüche von euch, die ihr uns und sie kontrolliert, immer auch zu bloßen Gewissheiten herabgestuft werden. Das bedeutet konkret, dass wenn wir sagen, wir wissen, dass p (und zwar, weil wir nach unserem Urteil hinreichende Gründe dafür haben), es fast immer sein kann, dass ihr entdeckt, entweder, dass p nicht wahr ist oder dass p zwar wahr ist, aber nur zufälligerweise, dass also unsere Gründe am Ende doch nicht zureichend waren.

    Die Einschränkung des »fast immer« ist schon deswegen nötig, weil es, erstens, wie schon am Beispiel des Stuhls erläutert, sinnlose Zweifel gibt, wir aber, zweitens, den Fall, dass ein Sprecher die Sprache nicht richtig gebraucht und etwa einen Hocker nicht richtig von einem Stuhl unterscheidet, nicht immer als falsches Urteil lesen.

    Platons Erläuterung des Wissens im Dialog Theaitetos bleibt unter Beachtung dieser Dinge völlig in Ordnung. Das ist so trotz allen scheinbaren Gegenargumenten in den heute noch vieldiskutierten Gettier-Fällen.¹⁵ Platon sagt bekanntlich, dass Wissen ein wahres Urteil (alēthēs doxa) mit zureichender Begründung (logos) ist. Es ist hier äußerst wichtig, jede Übersetzung, welche das Wort »zureichend« weglässt, als nicht charitabel und nicht sachgerecht aus der Diskussion um Platons Gedanken auszuschließen. Denn die klaren Beispiele, an welche Platon ganz offenbar als paradigmatische Prototypen denkt, sind als wahr bewiesene mathematische Sätze.

    Ein typischer Gettier-Fall ist dagegen der von Alvin Goldman geschilderte, in der ich mich in einem Potemkin’schen Dorf (mit bloßen Filmkulissen) befinde und mit relativ guter Prima-facie-Berechtigung sage: »Da ist eine Scheune«. Es kann dann sein, dass es sich zufälligerweise um eine (ganze) Scheune handelt (die vielleicht schon dastand), so dass meine Aussage wahr ist. Sie ist aus meiner Sicht auch ›gut begründet‹, ich sehe ja die Fassade. Leider ist sie nicht zureichend begründet. Also handelt es sich bloß um eine Gewissheit, kein Wissen – jedenfalls aus deiner Sicht, der du hinter der Fassade stehst und mehr weißt als ich.

    Platons Formel bleibt sozusagen doppelt richtig. Das gilt erstens insoweit, als ich (aus meiner Sicht) berechtigt bin zu sagen: »Das ist eine Scheune« und ggf. auf Nachfrage auch: »Ja, ich weiß, dass das eine Scheune ist, ich sehe es«, und nicht etwa bloß: »Ich glaube, es ist eine Scheune«. Das ist so, wenn ich für den Normalfall davon ausgehen kann, dass meine Begründung gut genug ist. Wenn man mir die (dann immer noch mögliche) Täuschung zeigt, werde ich allerdings zugeben müssen, dass ich es nur zu wissen glaubte. Denn im besonderen Fall hat sich (wie die anderen wissen) mein Grund als nicht zureichend erwiesen. In solchen Retraktionen ziehen wir Wissensansprüche zurück.

    Würde der Grund aber aus eurer Sicht im Normalfall als zureichend zu werten sein, etwa deswegen, weil wir uns alle in einem normalen Dorf befinden, so müsstet ihr zugeben, dass ich mit vollem Recht gesagt habe: »Ich weiß, das ist eine Scheune«. Weil ihr ja auch sagt, »es ist wahr, es ist eine Scheune«, müsstet ihr dann sogar von mir sagen: »Er weiß, es ist eine Scheune«, eben deswegen, weil wir wissen, dass es eine Scheune ist.

    Was aber wäre, wenn doch noch etwas schiefgeht, wie es in dem Fall sein kann, dass ich sage: »Es ist Milch im Kühlschrank« und vielleicht auch noch: »Ich weiß es, ich habe sie gesehen«?¹⁶ Wenn du hingehst und die Milch trinkst und alles ist gut, scheint sich mein Wissen so zu bestätigen, wie sich ein empirisches Wissen nur bestätigen kann. Und dennoch kann es passieren, dass du nächste Woche krank wirst oder gar stirbst. Es könnte sich dann bei der Autopsie herausstellen, dass es keine Milch war, sondern ein vergiftetes Sojagetränk, das wir beide für Milch gehalten haben. Man würde dann uns beiden im Nachhinein das Wissen, dass (nicht giftige) Milch im Kühlschrank war, absprechen: Es war ja keine da. Heißt das am Ende, dass es gar kein (empirisches) Wissen gibt, weil es, wie es scheint, immer zufällige Revisionen dieser Art geben kann?

    Es heißt jedenfalls nicht, dass wir ab jetzt nicht mehr unterscheiden sollten zwischen dem Gebrauch von »ich weiß« und »ich meine« bzw. »er weiß« und »ich meine, dass er weiß« bzw. »wir wissen« und »wir meinen«.

    Wer immer nur übervorsichtig sagen würde, »er glaube, dass p«, würde mehr als nerven. Er verstünde den Kontrast nicht. Daher und weil die zufällige Möglichkeit des Irrtums den allgemeinen Wissensstatus einer empirischen Aussage nicht schon in einen bloßen Glauben verwandelt, folgt aus der Fallibilität des »ich weiß« und »er weiß« noch nicht der skeptische Satz »Es gibt kein Wissen«. Richtig ist nur, wie oben gezeigt, dass aus »Ich weiß, dass p« nicht ohne Berücksichtigung von Situation, Sprecher und Skopus des Sprechers folgt: »Man weiß, dass p«. Man kann das auch so sagen: Wissen ist eine Wir-Gewissheit, die einwandfrei ist, wie Harald Wohlrapp sagt.¹⁷ Einwandfrei ist aber ein Urteil oder Argument nicht erst dann, wenn es keine Einwände geben könnte, sondern wenn es faktisch keine gut begründeten Einwände gibt.

    Es sind also die Zweifel an einem Normalfallwissen aktiv zu begründen. Freilich ist jetzt nicht immer ganz klar, wie die Begründungslasten und die Vertrauens- und Glaubensverpflichtungen zu verteilen sind. Dass sie aber zu verteilen sind, das ist klar.

    Der Skeptizist weiß nicht, was Wissen ist, weil er nicht weiß, was er als zureichenden Grund akzeptieren müsste, so dass er mit dem Sprecher eine Wir-Gewissheit der Form »Wir wissen, dass p« teilen könnte.

    6. Bürgerliche Wahrheit erfolgreicher Information

    »Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen«

    (FW, KSA 3, S. 517)

    Da die normalen Erfüllungen von empirischen Informationshandlungen im gemeinsamen Erfolg der kommunikativen und kooperativen Handlung ihre normalerweise endgültige Erfüllung finden, gilt, was Nietzsche im Auge hat, wo er den obigen Satz sagt. »Ich weiß« artikuliert immer bloße eine, je meine, Gewissheit. »Wir wissen, dass p«, artikuliert im Fall eines nicht-generischen, sondern distributionellen Wir (einer bloßen Menge von Einzelpersonen) nur eine Wir-Gewissheit. Wenn wir aber die Bedingungen als für uns befriedigend erfüllt festgestellt haben, kann diese Form der Erfüllung oder Wahrheit dennoch von niemandem mehr sinnvoll in Frage gestellt werden – soweit eben unsere Befriedigungen betroffen sind.

    Aber ist es nicht doch so, dass etwas keine Milch ist, auch wenn es von uns für Milch gehalten wird? Die Antwort kann nur lauten: Der Unterschied zwischen dem, was Milch ist und was nicht Milch ist, ist immer relativ zu der von uns für relevant erachteten Unterscheidung. Der obige Satz kann daher auch auf die Unterscheidung zwischen zwei Wir-Gruppen verweisen, die verschiedene Relevanzkriterien in Anschlag bringen, wenn sie zwischen Milch und Nichtmilch im Realfall unterscheiden: Wir waren zunächst damit zufrieden, dass das, was wir im Kühlschank gefunden haben, bei uns Milchtrinkern als Milch durchgeht. Nachdem ihr uns darauf aufmerksam gemacht habt, dass gewisse Normalbedingungen für Milch doch nicht erfüllt sind, mögen wir jetzt auch zusammen mit euch zugeben, dass es doch keine Milch war. Es kann aber auch sein, dass wir an unserer alten Unterscheidung festhalten und sagen, dass wir bei der Frage, ob Milch im Kühlschrank ist, die Unterscheidung zwischen Vollmilch und anderen Arten von Milch ebenso wenig berücksichtigt haben wie zwischen Kuhmilch und Sojamilch, sondern nur zwischen Milch und Nicht-Milch in Bezug auf das weiße Getränk mit milchartigem Geschmack.

    Gibt es also keine universal-allgemeine Unterscheidung zwischen Milch und Nichtmilch? Ich würde sagen, es gibt sie klarerweise nicht. Wie alle Worte ist auch das Wort »Milch« hochgradig flexibel durch den Kontext formbar; es kann z. B. der Kontrast zwischen Kuhmilch und Muttermilch sowohl relevant als auch irrelevant sein und man kann sogar (oft leicht ironisch) sagen, dass etwas keine (wahre, gute, wirkliche) Kuhmilch oder Muttermilch ist, nur deswegen, weil die Milch zu wenig Fettgehalt hat. Wie in allen solchen Fällen gibt es auch gewisse allgemeine Mindeststandards – die aber nie genau fixiert sind. So gibt es z. B. Standards dafür, ob etwas Gold oder Katzengold ist – und wie »rein« Gold sein muss, damit überhaupt von Gold die Rede sein kann.

    Die Rede von Wahrheit und Wissen ist ganz entsprechend immer nur relativ zu den relevanten gemeinsamen Unterscheidungen zu verstehen. Ich denke, das ist eine der tiefsten logischen Einsichten Hegels. Dabei kann es sein, dass je nach Wir-Gruppe und Situation Verschiedenes als relevant bewertet wird. Anders gesagt, es sind die Erfüllungs- oder Wahrheitsbedingungen von Aussagen gar nicht unabhängig von den relevanten Kooperationen und Erfüllungsbedingungen bestimmt. Sie werden auch immer nur in diesem begrenzten Sinn kontrolliert. Dabei kann es Verschiebungen der Kriterien geben, die es so erscheinen lassen, als gäbe es nie zureichende Erfüllungen. Das liegt aber nur daran, dass nie für alle möglichen Fälle und Aspekte geklärt ist, was als voll zureichende Erfüllungsbedingung und damit als Wahrheit und Wissen in einem endlichen, menschlichen, innerweltlichen Sinn zählt.

    7. Vorstellen und Glauben

    »Nur Wirklichkeit, aber lange nicht jede Wirklichkeit, – sondern eine gewählte Wirklichkeit« (MA II, KSA 2, S. 426)

    Das Glauben ist, wie wir jetzt sehen, keine einfache Angelegenheit. Denn es ist ein Verhältnis zu einer nicht präsentischen Möglichkeit. Zwar kann in einem gewissen rudimentären Sinn auch eine Katze glauben, dass das Geräusch im Baum auf einen Vogel oder das Rascheln im Gras auf eine Maus verweist. Und die Katze kann sich in einem rudimentären Sinn irren. Das Geräusch kann z. B. vom Winde oder von uns künstlich erzeugt sein, etwa um die Katze in ihrem Verhalten zu verwirren. Aber kein Tier kann sich etwas vorstellen, das nicht durch präsentische Prozesse als Möglichkeit nahegelegt ist. Wir zeichnen und lesen zwar Comics, in denen Katzen von Mäusen träumen. Und doch meint das Wort »vorstellen«, wenn wir es genau genug bedenken, gerade solche Fälle, in denen wir als Kinder beginnen, etwas laut und dann später auch leise sprachlich zu repräsentieren. Dazu gehört auch, dass wir zunächst in bildlichen Darstellungen und dann auch in deren mentalen Repräsentationen, wie wir für das Analogon des leisen verbal planning für Bildnisse und andere Gestaltungen sagen könnten, Sehbares sehbar darstellen und die Darstellungsform ihrerseits vor der Ausführung leise vorstellen.

    Es ist übrigens eine schöne sprachliche Tradition, die fast schon in Vergessenheit geraten ist, dass das deutsche Wort »Bildnis«, ähnlich wie das englische Wort »image«, nicht bloß für Bilder wie Gemälde und Zeichnungen steht, sondern auch für alle Skulpturformen wie Statuen und Büsten.

    Vorstellungen sind also Darstellungen oder Skizzen oder deren innere Vorrepräsentationen. Das, was wir das Mentale nennen und worüber im Englischen das Wort »mind« steht, ist gerade der Bereich der inneren, leisen Vorstellungen, auch wenn man dazu oft auch die Gefühle, Empfindungen, sogar Stimmungen hinzurechnet. Dabei entsteht eine logisch abgrundtiefe Verwirrung, wenn man die Bereiche des Geistigen und des Mentalen verwechselt. In der englischen Sprache lassen sich diese Bereiche aber schon kaum mehr titelartig trennen. Das Wort für »Geist«, »spirit«, hebt sich nicht genug von einem gespenstartigen Geist ab, das Wort »spiritual« nicht genug vom »Geistlichen«, also Religiösen, oder von einer bloß erst verblasenen Spiritualität. Das ist so, obwohl das englische Wort »ghost« deutlicher als im Deutschen das Gespenst vom subjektiven »mind« unterscheidet.

    Wegen der Ambiguitäten im Verfall der Bedeutung des Wortes »spirit« gibt es im Englischen auch keine »Geisteswissenschaften«. Der Verwechslung des rein subjektiven Geistes, des englischen »mind«, mit dem objektiven Geist korrespondiert eine komplexe Mehrdeutigkeit der Wörter »Vorstellung«, »idea« und »representation«. Denn es ist ganz offenbar die Repräsentation einer Katze entweder durch ein Bild einer gemalten Katze oder durch das Wort »Katze« zu unterscheiden von einer stillen Vorstellung des Bildes (oder einer Skizze) bzw. dem leisen Einfall des Wortes »Katze«, den man bei Menschen, die ihre leisen Sprachplanungen nicht bei sich behalten können, dann auch hören kann. (Die Katze ist jetzt offenbar als Objekt unserer Vorstellungen, nicht mehr als Subjekt ihrer eigenen Vollzüge angesprochen.) Mit anderen Worten, wir müssen die leisen Vorstellungen von Bildern, Wörtern und Texten unterscheiden von dem, was diese Bilder, Wörter und Texte darstellen oder repräsentieren.

    Ab jetzt wollen wir daher »Vorstellen« bloß für die leise Repräsentation von möglichen Darstellungen benutzen. So kann sich ein Musiker eine ganze Symphonie leise

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