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Der perfekte Faschist: Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt
Der perfekte Faschist: Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt
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eBook819 Seiten11 Stunden

Der perfekte Faschist: Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt

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Über dieses E-Book

Im Juni 1926 war Rom Schauplatz eines spektakulären gesellschaftlichen Ereignisses. Gefeiert wurde eine »faschistische Hochzeit«, Trauzeuge Mussolini inklusive. Vor den Altar traten Lilliana Weinman, gefeierte amerikanische Opernsängerin aus einer jüdischen Industriellenfamilie, und Attilio Teruzzi, hochdekorierter Kriegsveteran, Teilnehmer beim Marsch auf Rom, mitleidloser Anführer der Schwarzhemden und Archetyp des »neuen starken Mannes«.

Aber bald schon fühlte sich der virile Gatte von der Unabhängigkeit seiner Frau in der Ehre verletzt und forderte die Scheidung – nur dachten seine Frau und die katholische Kirche gar nicht daran, dem zuzustimmen. Die Zwangsehe wird für den Aufsteiger Teruzzi zusehends zum Problem, kündigen sich am Horizont doch die ersten antisemitischen Gesetze des faschistischen Staates an.

Mit Seitenblicken auf Literatur, Mode, Stadtwelten und Liebesverhältnisse entfaltet die renommierte Historikerin Victoria de Grazia ein opulentes, fesselnd erzähltes Gesellschaftsepos, das das kulturelle Klima der Epoche greifbar werden lässt. Sie zeigt, wie Mussolinis Bewegung ihre Revolution bis in die zwischenmenschlichen Beziehungen forcierte. Und sie macht die Bedingungen für Aufstieg und Fall des »perfekten Faschisten« anschaulich: die Entwicklung eines Mannes des Mittelmaßes in einer Zeit der Extreme.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. März 2024
ISBN9783803143914
Der perfekte Faschist: Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt

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    Buchvorschau

    Der perfekte Faschist - Victoria de Grazia

    »Menschen werden nicht als Faschisten geboren, sie werden dazu gemacht.«

    Rücksichtslos, berechnend und seinem Führer Mussolini treu ergeben: Der Soldat und Parteifunktionär Attilio Teruzzi ist der »perfekte Faschist«. Als perfekte Frau an seiner Seite findet er die prominente amerikanisch-jüdische Operndiva Lilliana Weinman. Was als Aufstiegsbündnis aus Glamour und Macht beginnt, endet durch Teruzzis rasende Eifersucht bald im Desaster, und auch der Antisemitismus beginnt seine ersten Schatten zu werfen …

    Fesselnd erzählt wie ein großes Gesellschaftsepos, entfaltet Victoria De Grazia in ihrem meisterlichen historischen Sachbuch den Verlauf des italienischen Faschismus aus der Geschichte des spektakulären Scheiterns einer Ehe und beleuchtet die rechte Kulturrevolution auf völlig neue Weise.

    Ein Buch von erschreckender Aktualität.

    Victoria de Grazia

    DER PERFEKTE

    FASCHIST

    Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt

    Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Bischoff

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    Für meine geliebten Brüder,

    die an der Heimatfront starben.

    Für meinen über alles geliebten Vater,

    der sich immer im Krieg befand.

    »Attilio hat mir diesen Schnappschuss von sich, Foxy und Liù geschickt, nachdem er sie für den Sommer hatte scheren lassen. Sind sie nicht süß?«

    Bengasi, Sommer 1927.

    Prolog

    Als Benito Mussolini Attilio Teruzzi am 17. März 1926 in seinem Büro im Palazzo Chigi empfing, ihn umarmte und wegen seiner bevorstehenden Hochzeit neckte, um dann noch mit dessen attraktiver amerikanischer Verlobter zu flirten, war das ein privater Augenblick von durchaus öffentlicher Bedeutung. Zum ersten Mal war Mussolini gebeten worden, in seiner Doppelfunktion als Präsident des Ministerrats und als Duce des Faschismus eine Ehe zu schließen. Er zeigte sich berührt. »Ich bin froh, dass Sie eine Amerikanerin heiraten«, sagte er zu Teruzzi. »Englische Frauen sind hässlich, französische sind pervers, spanische bringen uns Unglück, und mit Amerika kommen wir gut zurecht. Es sind auch ein paar Dollars da, das kann nicht schaden.«¹ Alles in allem war er überaus einverstanden.

    Teruzzi, ehemals Berufsoffizier in der italienischen Armee, war zu dieser Zeit Staatssekretär im Innenministerium und ein aufsteigender Stern im faschistischen Establishment. Seine Verlobte Lilliana Weinman, eine angehende Operndiva, die unter ihrem Künstlernamen Lilliana Lorma bekannt war, hatte ihre Karriere aufgegeben, um Teruzzi zu heiraten. Das Paar war verliebt, idealistisch und eifrig darauf bedacht, Teruzzis politische Laufbahn voranzutreiben.

    Als die beiden ihre Verlobung bekannt gaben, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Einer der in der Öffentlichkeit sichtbarsten und markigsten »Neuen Männer« der faschistischen Revolution heiratete ein ebenso energisches Exemplar der »Neuen Frau« Amerikas. Als der Hochzeitstermin Ende Juni näher rückte, standen Teruzzi und Lilliana indessen vor einem Dilemma. Ihre Vereinigung sollte ganz dem jüngsten Diktum Mussolinis entsprechen: »Alles innerhalb des Staates, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.« Doch bislang existierte für eine faschistische Hochzeit kein Protokoll. Lilliana verstand etwas von Bühne und Prominenz, Teruzzi besaß einen guten Instinkt für Rituale und Rangstellung, und so beschlossen die beiden, das Ereignis selbst zu gestalten.

    An Geld wurde nicht gespart. Der Dollar war stark, und die Fabrik für elastische Bänder des Brautvaters in der Lower East Side Manhattans boomte. Er würde alles bezahlen, eine große Mitgift für seine Tochter aussetzen und sogar die Familie des Bräutigams ausstatten – sämtlich gute und bescheidene Leute. Die Heirat sollte eine veritable Staatsangelegenheit werden, unter Beteiligung mehrerer Minister und des gesamten Großrats des Faschismus. Der Bräutigam hatte Mussolini und seinen eigenen Vorgesetzten, den Innenminister, gebeten, bei der zivilen Trauung als seine Trauzeugen zu fungieren. Die Trauzeugen der Braut sollten der amerikanische Botschafter und ihr Mentor Tullio Serafin sein, ehemals an der Mailänder Scala und inzwischen Chefdirigent an der Metropolitan Opera.

    Bei dem vor der Trauung stattfindenden, für vierhundert oder sogar fünfhundert Gäste ausgelegten Empfang im Hotel Palace in der Via Veneto sollte alles vom Feinsten sein, mit einem Streichquintett, Cocktails und einem Meer von Blumen. Das Paar gedachte, nur die Crème de la Crème der aufkommenden faschistischen Elite einzuladen: die Mitglieder des Quadrumvirats (die den Marsch auf Rom angeführt hatten), Mailänder Geschäftsleute, illustre Präfekten und geschäftstüchtige Anwälte, außerdem Repräsentanten der Kunst und führende Salonnièren des neuen gesellschaftlichen Lebens des Regimes, Journalisten und ausländische Korrespondenten, Aristokraten, ein paar Mitglieder der internationalen Schickeria und die aus fünfzig Verwandten und Freunden bestehende Gruppe der von der Braut geladenen Gäste, die aus New York, Wien und Rzeszów (Reichshof) kamen, dem einstigen »Klein-Jerusalem« Österreichisch-Galiziens, der Heimat ihrer Familie.

    Die Hochzeitsgesellschaft aufseiten der Braut, von links nach rechts: Isaac Weinman, Maestro Tullio Serafin, Rose Weinman, Benito Mussolini, Botschafter Henry Prather Fletcher, Lilliana Weinman, Attilio Teruzzi, Amelia Teruzzi und Celestina Teruzzi.

    In einer Verbeugung vor Mussolinis erst kürzlich erfolgter Annäherung an den Vatikan beschloss das Paar, neben der zivilen auch eine kirchliche Trauung vornehmen zu lassen. Dazu benötigte es allerdings einen Dispens des Papstes, da die Braut jüdischen Glaubens und daher in den Augen der katholischen Kirche eine Ungläubige war. Die zivile Trauung sollte als erste stattfinden, um zu demonstrieren, dass der italienische Staat die oberste Autorität darstellte. Sie sollte im Kapitol vom Gouverneur Roms vorgenommen werden, der Bräutigam in schwarzem Hemd mit seinen militärischen Auszeichnungen, die Braut in einer lavendelfarbenen Seiden-Georgette. Da die katholische Kirche daran festhielt, dass der Vollzug der Ehe vor der Absegnung des Ehebundes eine Sünde sei, sollte die kirchliche Trauung noch am selben Nachmittag in der Basilika Santa Maria degli Angeli stattfinden, der Bräutigam im Smoking und mit schwarzer Krawatte, die Braut in einem weißen Spitzenkleid mit einer langen Schleppe.

    Es hätte keinen besseren Zeitpunkt für dieses Event geben können als den Juni des Jahres IV der faschistischen Ära. Es war nun fast vier Jahre her, dass Mussolini gedroht hatte, Rom mit seiner Armee aus 20 000 Schwarzhemden zu besetzen, und König Viktor Emanuel III. vor dieser Machtdemonstration kapituliert hatte, indem er ihn mit der Bildung einer neuen Koalitionsregierung betraute. Doch erst im vorangegangenen Jahr, 1925, hatte Mussolini – der sich nur mühsam von der politischen Krise erholte, zu der die Entführung und Ermordung des Sozialisten Giacomo Matteotti, des Anführers der parlamentarischen Opposition, geführt hatte – freie Bahn erhalten, seine Herrschaft in eine Diktatur mit grenzenloser Macht und von unbeschränkter Dauer umzuwandeln.

    Nach den ersten wilden Jahren lautete das Schlagwort jetzt »Normalisierung«. Statt die Schlägerbanden seiner squadristi auf die Opposition zu hetzen, benutzte Mussolini nun das Recht, um die Presse mundtot zu machen, erließ Notstandsgesetze, um einen Ein-Parteien-Staat zu errichten, begann mit der Umwandlung der faschistischen Milizen in ein regulierteres Gendarmeriekorps und schuf spezielle Militärtribunale mit dem Recht zur Verhängung der Todesstrafe, um gefährliche politische Gegner auszuschalten.

    »Normalisierung« bedeutete auch, dass Italien auf die internationalen Finanzmärkte zurückkehrte, indem es einen Zeitplan für die Rückzahlung der Kriegskredite an die Vereinigten Staaten aufstellte, oppositionelle Gewerkschaften verbot, Sparhaushalte verabschiedete und die Löhne der Arbeiter massiv senkte. Sie bedeutete außerdem, dass Mussolini den Respekt der bürgerlichen Kreise zu gewinnen hoffte, indem er hochgeschätzte Institutionen wie die kirchliche Trauung übernahm, Bordelle legalisierte, um die Prostituierten von der Straße zu holen, und eine Junggesellensteuer einführte, um die unverheirateten Männer zu drängen, ihre Pflicht gegenüber der Nation zu erfüllen, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Dass Attilio Teruzzi, dieser notorische Rowdy, sich mit einer Braut von derart ungewöhnlichem Format häuslich niederließ, war aus der Sicht der vielen Frauen, die den Faschismus begrüßt, aber bislang noch nichts dafür bekommen hatten, ein rundum positives Zeichen.

    Und so wurde ihre Eheschließung, wie die New York Times schrieb, zu einer »faschistischen Hochzeit«. Statt der üblichen Monogramme auf weißem Untergrund zierten die Hochzeitseinladung Putten, die einen Liebesknoten zwischen den amerikanischen Stars and Stripes und dem faschistischen Liktorenbündel samt Axt knüpften. Statt einer militärischen Ehrengarde mit ihren erhobenen Degen stellte man vor der Kirche einen Trupp faschistischer Pfadfinder auf, die »Hipp, hipp, hurra!« riefen und die faschistische Hymne »Giovinezza« sangen. Zwischen der Musik des Streichquintetts des Maestro Antonelli und den eleganten silbernen Partygeschenken aus der Manufaktur des Mailänder Juweliers Chiappe glänzte Teruzzis und Lillianas Hochzeit mit den Finessen der Kultur und des Kunsthandwerks Italiens. Im Salon des Hotels türmten sich pompöse Geschenke (deren Gesamtwert auf mehr als 100 000 US-Dollar geschätzt wurde, wie jemand die Presse wissen ließ), und Umschläge voller Bargeld wanderten in die Hände und Taschen des Bräutigams.

    Puccinis Oper Turandot hatte zwei Monate zuvor ihre Uraufführung erlebt und gewann für das Paar eine besondere Bedeutung. Teruzzi sei Prinz Kalaf, hatte Lilliana gescherzt, der ungestüme Fremde, der den mörderischen Finten der Eiskönigin trotzt, um ihre Hand zu gewinnen. Als sie im Eisenbahnwaggon des Staatsoberhaupts gen Norden fuhren, den Mussolini ihnen für ihre zweiwöchige Hochzeitsreise nach Mitteleuropa zur Verfügung gestellt hatte, vollzogen sie ihre Ehe. Als die Morgendämmerung über dem Po-Tal anbrach, umarmte Teruzzi seine Lilliana und sang Kalafs Lied: »Vinceròòòò« – »Ich werde siegen«. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

    Drei Jahre später, im März 1929, kurz nachdem Mussolini ihn zum nationalen Kommandeur der Schwarzhemden ernannt hatte, sagte Teruzzi sich endgültig und öffentlich von seiner Frau los. Er behauptete, sie habe ihn betrogen und ihn seiner Ehre beraubt, und er schlug alle ihre Unschuldsbeteuerungen aus. Da es im italienischen Recht keine Scheidung gab, konnte er die Verbindung offiziell nur beenden, wenn es ihm gelang, vor dem Kirchengericht zu beweisen, dass die Ehe von vornherein ungültig gewesen war. Durch diesen Prozess gerieten beide in die Abhängigkeit von zölibatären Priesterrichtern, die eine umständliche juristische Untersuchung einleiteten, um festzustellen, ob die Ehegelübde in gutem Glauben abgelegt worden waren. In den nächsten 18 Jahren kämpfte Teruzzi für die Auflösung seiner Ehe, und Lilliana wehrte sich dagegen mit aller Macht.

    Später dann, als Mussolini drohte, kinderlose hohe Beamte zu degradieren, und Teruzzi versuchte, eine neue Liebe zu finden, um mit ihr eine Familie zu gründen, traf er schließlich auf eine weitere attraktive, große, quirlige Außenseiterin. Auch sie war Jüdin. Die beiden hatten ein uneheliches Kind, und es folgte eine gewisse Art von Familienleben. Dann wurden die faschistischen Rassengesetze verabschiedet, und Teruzzi, der inzwischen zum Minister für Mussolinis Kolonialreich in Afrika aufgestiegen war, sah sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass er zwei jüdische Frauen hatte: eine, von der er sich nicht scheiden lassen konnte, und eine, die er nicht heiraten durfte. Der Status seiner zweiten Frau wurde immer mehr zum Problem, als die Naziverbündeten des faschistischen Italien sich beim Duce beklagten, dass sein innerer Kreis die Durchführung der »Endlösung« nur halbherzig angehe.

    In jeder Gesellschaft ist die Heirat ein Akt von grundlegender Bedeutung, ob sie nun auf einem zivilrechtlichen Vertrag oder auf einem religiösen Gelübde beruht. Es geht dabei um Sexualität und Kinder; um den Erwerb von Besitz und Status; um Familie und die Fortpflanzung der eigenen Linie, Klasse oder »Rasse«; es geht um Liebe und Freundschaft und um die Frage, wem dabei die höchste Loyalität gebührt. Die Ehe steht im Mittelpunkt unserer Vorstellungen davon, was im Leben wirklich wertvoll ist.

    Dieses Buch nimmt die Heirat Attilio Teruzzis zum Ausgangspunkt für eine Erkundung des moralischen Lebens unter der faschistischen Herrschaft. Es untersucht die Gründe, weshalb Mussolini seine Bewegung als eine »geistige« und »ethische« Revolution verstand – als eine »Politik des Herzens« statt der von ihm gebrandmarkten sterilen »Politik des Verstandes« einer liberalen Gesellschaft. Es versucht zu klären, wie Mussolini zur Festigung seiner Macht eine neue moralische Ordnung nutzte, die eine »rassisch gesunde« Hypermännlichkeit zelebrierte; und es zeigt, in welchem Maße diese neue moralische Ordnung davon abhing, dass er im Ausland wie auch im Inland Krieg führte. Es geht dem Wesen des faschistischen »Neuen Menschen« nach und demonstriert, wie unzulänglich Mussolinis Versuch letztlich war, im 20. Jahrhundert eine Reinkarnation des Römischen Reiches zu erschaffen.

    Mussolini wollte nichts Geringeres, als den Status quo – die katholische Kirche, den König, das alte militärische Establishment, die Bourgeoisie, die »Lämmernatur« des italienischen Volkes – hinwegzufegen und die angelsächsische Hegemonie über den Mittelmeerraum zu brechen. Nach Art vieler charismatischer und reaktionärer Führer wollte er die alte Ordnung zertrümmern. Wie man etwas aufbaute, abgesehen von der Stärkung der eigenen Macht durch Kriegstreiberei und noch mehr Zerstörung, war eine andere Frage.

    Ich hoffe, dieses Buch bietet ein neues Verständnis des sozialen und affektiven Charakters jener Menschen, die in mehr oder weniger allen totalitären politischen Systemen die Hauptakteure darstellen. Wir werden sehen, was die Geschichte Attilio Teruzzis, des »perfekten Faschisten«, uns über die stets sehr unscharfe Grenze zwischen Persönlichem und Politischem, zwischen den Befehlen des Führers und den Forderungen des eigenen Herzens in totalitären Regimen sagen kann.

    Hannah Arendt schrieb in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951): »Das eiserne Band des totalen Terrors lässt keinen Raum für das private Leben.« Sie glaubte, totalitäre Staaten setzten die »Einsamkeit« der vom modernen Kapitalismus atomisierten Massen für ihre Zwecke ein.² Seien totalitäre Regime erst an der Macht, nutzten sie Ideologie und Terror, um die zunehmend isolierten Individuen dem »einen Führer« unterzuordnen. Sie zerstörten jede Fähigkeit zum freien Ausdruck moralischer Empfindungen und schüfen letztlich ein herzloses politisches System.

    Ich möchte hier eine andere These aufstellen, die uns hinter die Fassade des faschistischen Totalitarismus und ins Privatleben samt den moralischen Kompromissen eines seiner beispielhaftesten Fußsoldaten führt. Ich zeige, dass es auch unter faschistischer Herrschaft weiterhin moralische Bedürfnisse und zur Wahl stehende Entscheidungen gab. Wir stoßen auf all die üblichen geschätzten Gefühle und Werte – Hingabe an die Familie, Mütterlichkeit, Glaube, Treue gegenüber der Sache, Pflichtgefühl gegenüber der Nation und sogar Liebe. Das faschistische Italien war schrecklich und doch voller Herz.

    Allerdings erhielten Werte und Überzeugungen unter der faschistischen Herrschaft eine eigentümliche politische und emotionale Bedeutung. In der liberalen Demokratie konnte man erwarten, dass Konflikte mehr oder weniger unverdeckt und in offener Debatte in frei gewählten politischen Körperschaften ausgetragen wurden, wobei man zwischen weltlichen und religiösen, persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten unterschied. Als diese Verfahren und Institutionen jedoch verboten, zensiert oder umgebaut worden waren, entstand die Versuchung, diese Konflikte am falschen Ort abzuladen. Die soziale Arena erfuhr eine groteske Ausweitung und gewann einen fiebrigen Charakter, gekennzeichnet durch ein Alles-oder-nichts-Denken wie auch durch sensationelle Gerüchte und Verleumdungen, geschürt von Denunziationsbriefen, Spitzeln und Informanten, von einer verfehlten religiösen Beseelung, von den Eifersüchteleien einer um Positionen rangelnden Elite und von Mussolini selbst, der im Zentrum dieses nationalen Melodrams stand. In der sozialen Arena war zu beobachten, dass die Politik zunehmend ins religiöse Leben eindrang und die Religion nach Bestätigung durch die politische Ordnung suchte. Die Gesellschaft war durchtränkt von Klassenanimositäten, Patronagestreitereien und Statuskämpfen, da die faschistische Herrschaft niemals ihre versprochene und ständig beschworene Revolution lieferte. Die italienische Gesellschaft musste erleben, dass das intime persönliche Dasein durch massive Veränderungen des kollektiven moralischen Kompasses durcheinandergebracht wurde und man familiäre mit politischen Interessen, Angelegenheiten des Herzens mit solchen des Staates und Liebe zu Mutter oder Vater, zum Ehepartner oder zu den Kindern mit der Liebe zum Duce vermengte. Die Zivilgesellschaft bestand fort, aber sie wurde illiberal.

    Mussolinis Vorstellungen vom Neuen Menschen des Faschismus waren äußerst widersprüchlich, und diese Widersprüche sind einer der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, in welcher Weise Teruzzi von der moralischen Ordnung der Zivilgesellschaft unter faschistischer Herrschaft geprägt wurde und inwiefern er diese Ordnung exemplifizierte. Mussolinis einziger echter Bezugspunkt für seine Vorstellung vom Neuen Menschen war seine Verachtung für dessen Vorgänger aus den Zeiten der Aufklärung, den zutiefst rationalen, weltlich gesinnten homo oeconomicus, den die Reformer des 18. Jahrhunderts ersonnen hatten und der angeblich die Welt selbst dann noch zum Besseren veränderte, wenn er nur seine eigennützigen Interessen verfolgte und sich dabei als soziales Wesen verstand. Mussolinis Vorstellung entsprach dagegen einem Flickenteppich aus all den desillusionierten Gemeinplätzen seiner Zeit. Dazu gehörte der krasse Sozialdarwinismus, der Mussolini das Leben als ständigen Kampf und das an Bodenschätzen arme Italien als ein Land verstehen ließ, das in einer von schwindenden Rohstoffquellen geprägten Welt um sein Überleben kämpfte. Daraus bezog er die Überzeugung, dass Italien sich auf ewig im Krieg befinden werde und die Italiener physisch wie »rassisch« für diesen Kampf vorbereitet werden mussten. Dazu gehörte das ewige Vorbild, der politische Realist Machiavelli. Mussolini sah sich selbst als den modernen Fürsten. Wie der von dem Florentiner idealisierte reine Politiker war er der Zentaur, halb Tier, halb Mensch, der sich allein von seinen Instinkten leiten ließ, aber über einen scharfen Verstand verfügte und keine Hemmungen hatte, die Macht zu ergreifen. Und dazu gehörte der nur allzu gern plagiierte Friedrich Nietzsche, bei dem Mussolini – wie zahllose andere aus seiner Generation (aber auch späteren Generationen) – die Idee des Übermenschen entlehnte. Mussolinis Hierarchen sollten am Charisma ihres gottgleichen Führers teilhaben und sich ihm in grenzenloser Treue unterwerfen. Wie die Heerführer der Antike sollten sie frei vom Glücksstreben der gewöhnlichen Sterblichen und immun gegen die Käuflichkeit herkömmlicher Klientelpolitik sein. Zugleich sollten sie eine faschistische Version des noblesse oblige kultivieren, indem sie die Geselligkeit und das kameradschaftliche Verhalten förderten, die notwendig waren, um die Gruppenidentität der neuen Elite zu festigen. Das Schlagwort lautete: »rein«.

    Teruzzi hatte das Zeug, in diesem Sinne beispielhaft zu sein. Er war ein hochdekorierter Berufsoffizier mit einer stocksteifen Haltung. Dabei war er ungestüm und gewaltbereit, aber Mussolini unterschied stets zwischen »einer Gewalt, die moralisch, und einer Gewalt, die dumm und unmoralisch ist«.³ Teruzzi hatte die Stärke und Disziplin eines Soldaten, doch außer Dienst war er rüpelhaft und niederträchtig und machte sich gerne eine gute Zeit. Er hatte ein »wunderschönes faschistisches Gesicht«, wie Mussolinis Schwiegersohn Galeazzo Ciano bemerkte. Er sei »ein treues, mittelmäßiges Werkzeug«, schrieb er weiter, und »wohl mehr treu als mittelmäßig«.⁴ Wie sehr man ihn auch auf die Probe stellte, er sehnte sich danach, ein perfekter Faschist zu sein.

    Ein perfekter Faschist sein zu wollen bedeutete indessen ständigen Kampf. Zunächst einmal musste der perfekte Faschist eine Möglichkeit finden, in der exklusiven Welt ebenjener italienischen Bourgeoisie zu bestehen, die er zu stürzen gedachte. Nachdem die traditionellen Eliten Italiens die Faschisten in ihren Staatsämtern willkommen geheißen und die Niederlage der Linken gefeiert hatten, wünschten sie sich nichts mehr, als die Faschisten loszuwerden und die alten Barrieren und Schranken im Lande wieder aufzurichten. Der perfekte Faschist musste sich an die Monarchie und das ganze Brimborium des Königs und der Krone anpassen, auch wenn er das Haus Savoyen keineswegs liebte. Außerdem musste der perfekte Faschist Frieden mit der katholischen Kirche schließen, einer in Italien respekteinflößenden, gleichermaßen politischen und moralischen Macht.

    Und schließlich musste der perfekte Faschist auch mit den alltäglichen Frustrationen der Italiener zurechtkommen. Da es unmöglich war, die Mächtigen für Vergehen auf herkömmlichen rechtlichen oder politischen Wegen zur Rechenschaft zu ziehen, fanden die Italiener ein Ventil für ihren Zorn in Klatsch, Erpressung und Verleumdung. Es war zwar praktisch ausgeschlossen, dass Personen in Machtpositionen gerichtlich verfolgt wurden, doch Libertinage und Korruptionsvorwürfe konnten staatliche Ermittlungen auslösen und überführte Täter liefen Gefahr, von Mussolini persönlich verurteilt zu werden.

    Dann war da noch die unergründliche Welt der Frauen, die gemeinhin auf Engel oder Huren reduziert wurden. Ihre komplizierten Bedürfnisse nach Liebe, Zuspruch, Familie und Status waren oft unvereinbar mit den Tugenden, die Mussolini sich für seine kriegerischen Furien wünschte. Und natürlich vergab sein Drehbuch die besten Rollen ausschließlich an Männer.

    Schließlich musste der perfekte Faschist auch seine eigenen Dämonen bändigen. Ob Eifersucht oder Zorn, Ehrgeiz oder Eitelkeit, eine Schwäche konnte leicht zu einem schlimmen Makel werden und einen der strengen Kleinpotentaten in einen wütenden Tyrannen verwandeln. Unterschied sich der faschistische Despotismus in irgendeiner Weise von anderen Formen der Despotie an anderen Orten oder zu anderen Zeiten? Ich versuche zu zeigen, dass er tatsächlich anders war – dass die Fixierung des Faschismus auf Männlichkeit eine Reihe ganz eigener Probleme mit sich brachte.

    Auf die Geschichte hinter dieser Geschichte brachten mich Verwandte von Teruzzis Ehefrau Lilliana Weinman, die wissen wollten, warum sich ihre Cousine, eine selbstbewusste, weltgewandte Frau aus einer guten jüdischen Familie, überhaupt mit einem alten, bärtigen Faschisten eingelassen hatte. Warum gab diese talentierte junge Frau ihre Karriere auf? Beim Blick auf die Fotografie des Duce mitsamt dem Brautpaar entstand indes bei mir der Wunsch zu verstehen, warum dieser Mann, der hinter seinen Orden und seinem dunklen Bart so anspruchslos wirkt, eine so willensstarke und außergewöhnlich talentierte Frau heiraten wollte.

    Was konnten ihre Aufzeichnungen mir sagen? Ich hatte bereits über den Faschismus geschrieben, über Arbeiter und über Frauen, die Opfer und Objekte faschistischer Herrschaft. Mich reizte die Möglichkeit, mit dieser persönlichen Geschichte vielleicht eine Geschichte des Faschismus schreiben zu können, die auch Bezüge zu unserer heutigen Zeit aufweist, in der Ultranationalismus, männlich-weiße Vorherrschaft und die Brutalität gegenüber Schwarzen eine neue, wenngleich vertraute Dringlichkeit erlangt haben und der gesamte Rahmen, in dem wir über Fortschritt und Reaktion, Gut und Böse zu denken gewohnt waren, aus den Fugen geraten ist.

    Menschen werden nicht als Faschisten geboren, sie werden dazu gemacht. Dass Attilio Teruzzi in gewisser Weise der archetypisch tugendhafte Krieger des imperialistischen Westens wurde, veranlasst uns zu der Frage, wie einzelne Menschen mit ihren Begierden und Sehnsüchten, ihren Träumen, Vorurteilen und kleinlichen Streitereien vom Lauf der Geschichte erfasst und umgemodelt werden. In diesem Sinne handelt es sich nicht um eine Biografie, sondern um die Sozialgeschichte eines Mannes, die uns anhand seines Weges durch das vertrackte Geflecht der politischen und zwischenmenschlichen Beziehungen, und das oft aus der Perspektive seiner Frau betrachtet, zeigt, wie der italienische Faschismus tatsächlich funktionierte.

    Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sollten sich verändern, als der moralische Kompass der Faschisten seine Richtungen wechselte und die faschistische Bewegung neue Feinde identifizierte: die »feigen«, »fahnenflüchtigen«, »defätistischen« Sozialisten an erster Stelle; dann die gefühllose, überalterte liberale Elite, gefolgt von den heuchlerischen Katholiken und päderastischen Priestern. Später nahm das Regime andere Gruppen ins Visier: hinterhältige arabische Rebellen, sexuell Perverse, außer Kontrolle geratene Frauen, zionistische Juden, die gefühlsduselige Bourgeoisie und die arroganten britischen Imperialisten. Und am Ende verfluchte es die geistig versklavten Männer in einem Europa, das von jüdisch-bolschewistischen Kräften überwältigt werde, die allein der Duce im Bündnis mit dem Führer besiegen könne.

    Der moralische Kompass des Faschismus veränderte sich erneut, als die Diktatur, die in den 1920er Jahren mit ihren Salons und ihrer Schar faszinierender Frauen nach bürgerlicher Respektabilität gestrebt hatte, sich rund zehn Jahre später daranmachte, ihren rein männlichen Machtapparat zu konsolidieren. Der Faschismus verfolgte ein auf »Rassereinheit« bedachtes kriegerisches Ideal maskuliner Virilität und trachtete nach dem Glanz und der Größe eines Weltreichs im Rahmen einer nazistisch-faschistischen »neuen Ordnung«.

    Schließlich wechselte der Kompass nochmals die Richtung, als Mussolini im Wissen um seine eigene Verwundbarkeit, um den Gang der Zeit und den Widerstand in der Gesellschaft auf größere Eile drängte. Er beschwor die – physische, moralische und militärische – Kraft des Landes zur Wiederherstellung der Größe Italiens. Als sein Fiebertraum der Ernüchterung wich, nahm er seine eigene Elite ins Visier und machte die alte Garde wie auch einstige Aushängeschilder seiner Bewegung zum Prügelknaben.

    Das alles geschah indessen erst mit der Zeit, in den 25 Jahren, in denen Attilio Teruzzi seinen langen Marsch durch den Faschismus unternahm. In den zwei Jahrzehnten vor 1920, dem eigentlichen Beginn unserer Geschichte, war er Offizier in der Armee des Königreichs Italien und allem Anschein nach ein anständiger Mensch und ein guter Soldat.

    I STREBEN

    1 Der Soldat

    Besinge die unermessliche Freude zu leben, stark zu sein,

    jung zu sein, mit festen, weißen, unersättlichen Zähnen

    in die Früchte der Erde zu beißen, kühn und begierig

    die Hand auf alles erreichbare Süße zu legen,

    den Bogen auf jede neue Beute zu richten,

    die das Begehren ins Ziel nimmt.

    Gabriele D’Annunzio, Canto Novo, 1896

    Attilio Teruzzis erster öffentlicher Auftritt erfolgte anlässlich eines Begräbnisses am 13. März 1912. Damals war er Infanterieoffizier in der Kolonialarmee. Im vorausgegangenen September war das Königreich Italien in Libyen einmarschiert und hatte versucht, dieses Territorium der langen Herrschaft des Osmanischen Reiches zu entreißen. Am 11. Februar war Teruzzis Einheit, das in Massawa stationierte 5. Eritreische Bataillon, in Tripolis gelandet. Nach einem Scharmützel mit türkischen Truppen am 4. März in Bir El-Turki hatten sie ihr erstes Opfer zu beklagen, einen gutmütigen, großgewachsenen, hageren Burschen mit großen, sanften Augen. Cirum Ciahai war Leutnant Violas Ordonanz gewesen. Er wurde am Unterleib verwundet, kämpfte aber noch stundenlang weiter und starb eine Woche später im Feldlazarett. Die Männer in seiner Umgebung zeigten sich erschüttert.¹

    Der Zeitungsartikel, in dem Teruzzi auftauchte, konfrontierte die Leser der italienischen Presse mit etwas Neuem. Die Korrespondenten, meist aus Mailand, die über das Mittelmeer gekommen waren, um über die Kämpfe zu berichten, hatten noch keine Erfahrung mit einem »Großen Krieg«, wie die Italiener den libyschen Konflikt nannten. Viele waren begeistert vom Anblick der prächtigen, aber furchterregenden Soldaten, die man in der Kolonie Eritrea rekrutiert hatte. Es war das erste Mal, dass die Königlich-Italienische Armee ihre Askaris – afrikanische Söldner im Dienste europäischer Armeen – außerhalb des Horns von Afrika einsetzte.²

    Presse und Propaganda hatten das heimische Publikum glauben gemacht, die Araber würden die italienischen Streitkräfte als Befreier begrüßen. So hatten die Korrespondenten bereits alle Hände voll zu tun gehabt, die Nachrichten über die niederschmetternden Ereignisse vom 23. und 24. Oktober 1911 zu frisieren. Damals wurden bis zu 400 italienische Soldaten, die in dem nahe Tripolis gelegenen Dorf Shar al-Schatt stationiert waren, durch eine Abteilung des osmanischen Heeres und bewaffnete arabische Widerstandskämpfer massakriert und als Haufen gekreuzigter, ausgeweideter, kastrierter Leichen zurückgelassen. Daraufhin wüteten italienische Truppen wie die Berserker und töteten 4000 Zivilisten, möglicherweise noch mehr. Die Korrespondenten waren bemüht, zu informieren, aber zugleich auch zu beruhigen, und erinnerten ihre Leser an die zivilisatorische Mission Italiens, an die »zutiefst menschlichen Gefühle« angesichts des Kampfes und den im Unterschied zu den grausamen Türken und den verräterischen Arabern aufrechten Charakter der loyalen eritreischen Söldner.

    Der Bericht über Cirum Ciahais Begräbnis im Corriere della Sera ließ nun alle in der Heimat wissen, dass es dort in Libyen »in Tränen aufgelöste schwarze Gesichter« gab. Obwohl sie Muslime waren, murmelten auch sie ihre Gebete, und die Zeremonie wurde in tröstlicher Anwesenheit zweier katholischer Militärgeistlicher abgehalten. Leutnant Teruzzi war der ranghöchste Offizier auf dem Friedhof, als der hölzerne Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Die Ehrengarde stand stramm, während Teruzzi seinen Kameraden einen »bescheidenen Helden« nannte, »der für den Ruhm seines zweiten Heimatlandes, für seine Wahlheimat, gefallen« sei.³ Als man die orangefarbene Erde in das Grab schaufelte, streute Teruzzi mit einer feinsinnigen Geste Mohnblumen und Gänseblümchen hinein, die in der Oase wuchsen.

    In diesem Augenblick wurde Teruzzi zu einem neuen Typus geformt, dem menschlichen Heldensoldaten in der neuen imperialen Erzählung des jungen Königreichs Italien. Tatsächlich erschien nun das gesamte Militär in einem hellen neuen Licht. Vor der Invasion in Libyen hatten die italienischen Streitkräfte bei der Presse keine sonderliche Aufmerksamkeit genossen. Einer ihrer wenigen glorreichen Augenblicke war es, wenn berittene Carabinieri mit Degen und hohen, federgeschmückten Hüten den König und die Königin vom Quirinal zum Palazzo Montecitorio geleiteten, wo er die Sitzungsperiode der Abgeordnetenkammer eröffnete. Ansonsten gelangte das Militär allenfalls dann ins Blickfeld der Öffentlichkeit, wenn es an den Tiber oder den Po eilte, um dort mit Sandsäcken Überschwemmungen einzudämmen, wenn es bei katastrophalen Erdbeben in den Abruzzen oder auf Sizilien half, Menschen aus den Trümmern zu bergen, oder wenn es von der radikalen Presse aufgefordert wurde, seine Wehrpflichtigen einzusetzen, um protestierende Bauern auseinanderzutreiben, Rebellionen von Steuerzahlern zu ersticken oder bei Streiks herangeschaffte Streikbrecher zu schützen. Für Presse und Öffentlichkeit waren die sichtbarsten Auftritte des Militärs unglücklicherweise die am wenigsten glorreichen. Als Ras Alula Engida 1887 im eritreischen Dogali ein 550 Mann starkes Expeditionskorps aufrieb und das Heer des äthiopischen Kaisers Menelik II. am 1. März 1896 bei Adua die 18 000 Mann starke Armee des Generals Oreste Baratieri vernichtete, 7000 Soldaten tötete und Hunderte gefangen nahm, da wurde über das Desaster in nahezu pornografischer Detailtreue berichtet.

    Der Libyenkrieg war Italiens erster größerer ausländischer Konflikt seit der Vereinigung des Landes, die Kriegsbegeisterung der Öffentlichkeit schien keine Grenzen zu kennen. Die Menschen stürmten die Kasernen und verbrüderten sich mit den Soldaten. Die Illustrierten waren voller Farblithografien, die Soldaten beim Angriff zeigten, und gespickt mit Fotografien hübsch uniformierter Offiziere. Wenn wir einmal annehmen, dass Teruzzis Familie die Presse im Auge behielt, um Nachrichten über den Sohn zu finden, wären sie nach dem Sieg in der Schlacht bei Dschansur am 8. Juni 1912 in der renommiertesten illustrierten Wochenzeitung Italiens, der Illustrazione Italiana, fündig geworden, genauer gesagt auf der dritten Seite der Ausgabe vom 23. Juni, wo auf dem oberen Foto der letzte Soldat links in der zweiten Reihe, ein arrogant wirkender bärtiger Kerl mit dunkler Brille, in die Kamera grinst. Ein zweites Bild aus etwa derselben Zeit, diesmal eine Nahansicht, zeigt ihn entspannt, geschniegelt und pflichtbewusst zusammen mit zwei Offizierskollegen.

    Als Teruzzi im Dezember 1912 zu einem viertägigen Heimaturlaub nach Mailand zurückkehrte, erhielt er eine Bronzemedaille für seinen »großen Einsatz und seine Tapferkeit in mehreren Schlachten«. Mit seiner blauen Uniform, der aufrechten Haltung und den Auszeichnungen war ihm einige Aufmerksamkeit gewiss, wenn er durch die Galleria spazierte, die riesigen, von einer Dachkonstruktion aus Eisen und Glas überspannten Arkaden, die das Opernhaus La Scala und den Palazzo Marino mit dem Domplatz und dem Dom verband, dessen märchenhafte weiße, mit zahlreichen Türmchen verzierte Fassade die erhabene Allmacht der heiligen katholischen Kirche demonstrierte. In der Galleria fochten die Mailänder ihre politischen Kämpfe aus, dort hielten sie ihre sozialen Proteste und Siegesparaden ab, dort versammelten sie sich zu Begräbnisprozessionen, promenierten, saßen und diskutierten in Cafés und Bars, kauften mit einem den Parisern ebenbürtigen Eifer ein und hofierten einander in denkwürdiger Zurschaustellung von Ritterlichkeit, Koketterie, Unverblümtheit und Leidenschaft.

    Es war das Zeitalter der Italietta, wie die Mailänder ihre Nation nannten. Liebevoll machte man Scherze über ihren Provinzialismus, schließlich wähnten sich die meisten Mailänder in der »geistigen« Hauptstadt Italiens – dem »Kraftwerk der Energie und des Optimismus Italiens«, wie der futuristische Dichter Filippo Marinetti in seiner »Ode an das Große Mailand« schrieb.⁵ Rom dagegen war eine Wucherung am Staatskörper, mit der katholischen Kirche als Parasit und einer praktisch nicht existierenden Kultur – keine Oper, kein modernes Kunstgewerbe und keinerlei künstlerische Experimente. Mailand wuchs dank des Krieges, mit seinen fleißigen Menschen, boomenden Fabriken und hochgepuschten Massenmedien, während Rom den gesamten Ruhm beanspruchte.

    Marinettis futuristischer Gefährte Emilio Settimelli erinnerte sich an den »schneidigen, leutseligen Leutnant« aus etwa dieser Zeit.⁶ Alle verkehrten in den beliebtesten Cafés der Galleria: dem Savini, der Fiaschetteria Toscana, dem Grande Italia, dem Biffi. Opernstars, Politiker, Schriftsteller, Kaufleute, Schieber und Faktoten aller Art ließen sich dort blicken, an Sonntagnachmittagen auch bürgerliche Familien samt ihren Kindern. Beim Anblick des strammen Soldaten dürfte der eine oder andere Stammgast ihn sicher zu einem Aperitif oder einem Gespräch zu sich gewunken haben.

    An einem dieser Mußetage legte Teruzzi seine Ausgehuniform samt Degen an und besuchte das Fotoatelier, das Emilio Sommariva gerade erst in der Via San Paolo, nur fünf Minuten von der Galleria entfernt, eröffnet hatte. Sommariva, damals 29 Jahre alt, der bald zum berühmtesten Fotografen Italiens aufsteigen sollte, war in den aufstrebenden Klassen Mailands bereits bekannt für seine romantischen Porträtaufnahmen. Seine Bilder enthüllten bei den Abgelichteten Züge, von denen sie selbst möglicherweise gar nichts wussten – die schlauen Blicke und geballten Fäuste unsicherer Parvenüs. Bei Teruzzi fing Sommariva das Missverhältnis zwischen einem poetischen Blick und einem aufflammenden Ehrgeiz ein, wie ihn die übergroßen Hände offenbaren, die ziellos an seinem Zierdegen fingern.

    Attilio Teruzzi konnte sich rühmen, der erste Berufsoffizier aus seiner Familie, seiner Straße und wahrscheinlich auch aus seinem betriebsamen Stadtviertel Porta Genova zu sein. Wenn wir verstehen wollen, was das für einen Mann seiner Herkunft bedeutete, müssen wir kurz in sein Geburtsjahr 1882 zurückblenden. Das Königreich Italien war gerade erst zwei Jahrzehnte vereint, und das Land stand vor gewaltigen politischen und kulturellen Veränderungen, die Teruzzis Jugend und Weltbild nachhaltig prägen sollten.

    Am 20. Mai 1882 unterzeichnete Italien ein Verteidigungsbündnis mit dem Habsburgerreich und dem Deutschen Kaiserreich, das Dreibund genannt und in der Folge bis 1915 regelmäßig verlängert wurde. Mit dieser Abkehr von Frankreich und Großbritannien, an die das Land sich bei der Gewinnung der Unabhängigkeit und bei der Gestaltung seiner grundlegenden Institutionen angelehnt hatte, gab Italien stillschweigend seine Ansprüche auf die italienischsprachigen Gebiete an der nordöstlichen Grenze zum österreichischen Kaiserreich auf. Damit unterstrich König Viktor Emanuel II., dass er mit den konservativen Monarchien Österreich-Ungarns und Preußens mehr gemeinsam hatte als mit dem parlamentarischen Liberalismus der Briten und Franzosen.

    Das junge Königreich Italien war entschlossen, dem staatlich gelenkten »preußischen Modell« der wirtschaftlichen Entwicklung zu folgen, und hoffte auf deutsche Investitionen in die Schwerindustrie und den Bausektor. 1883 schloss Italien sich dem internationalen Goldstandard an, was im Wachstum eine starke regionale Schieflage nach sich zog. Die führenden norditalienischen Städte, allen voran Mailand, explodierten förmlich, vorangetrieben von Immobilienspekulation, einem Boom in Textilindustrie und Kleinmaschinenbau und einem Bevölkerungswachstum durch den Zuzug verarmter Bauern vom Lande. Angesichts der Ungleichheit dieses Aufschwungs war es kein Zufall, dass aus den Wahlen von 1882 die Linke als stärkster Block im Parlament hervorging. In diesem Jahr wurde die Italienische Arbeiterpartei gegründet und mit dem Revolutionär Andrea Costa erstmalig ein Abgeordneter von ihr ins Parlament gewählt.

    Leutnant Teruzzi, 1913. Fotografie von Emilio Sommariva.

    Gleichfalls 1882 veröffentlichte Gabriele D’Annunzio, damals erst 19 Jahre alt, sein zweites von schließlich 49 Büchern, mit denen er um die Jahrhundertwende seine Stellung als berühmtester Schriftsteller Italiens festigte. In einem 1896 zur zweiten Ausgabe des Canto novo hinzugefügten Gedicht schrieb er über junge Heiden – über ihre »unermessliche Freude zu leben«, mit »unersättlichen Zähnen«, die »kühn und begierig die Hand auf alles erreichbare Süße legen«, um es in Besitz zu nehmen.⁹ In der Realität sollte die Welt der jungen Leute schon bald voller Hindernisse und Grenzen und von derart brutaler Konkurrenz geprägt sein, dass die Jugend, statt »den Bogen auf jede neue Beute zu richten« und die Beschränkungen ihrer Eltern zu überwinden, sich mit sehr viel weniger würde begnügen müssen.

    Teruzzis eigene Familie stand auf ihre bescheidene Art und Weise im Einklang mit ihrer Zeit. Beide Elternteile waren in der ländlichen Lombardei geboren: seine Mutter, Celestina Rossi, in Solbiate Comasco, einem 400-Seelen-Dorf an der vielbefahrenen Straße von Varese nach Como; sein Vater, Cristofaro Fermo Teruzzi, in Barlassina, einem Dorf im Hügelland der unteren Brianza. Als Tochter eines Verwalters oder fattore im Dienst des lokalen Granden, des Conte Rasini, stand Celestina auf der gesellschaftlichen Stufenleiter ein wenig über ihrem Mann. Die einzige Fotografie, die wir aus ihrer Jugendzeit besitzen, zeigt eine hochgewachsene, selbstbewusste junge Dame mit einem Kranz aus dicken blonden Zöpfen.¹⁰ Es kann durchaus sein, dass sie als Mädchen die Kühe molk, die Ställe ausmistete und die Tiere auf die Weide führte. Doch als sie sich dem Erwachsenenalter näherte, mit ihrer Umtriebigkeit und ihrem Seidencape, ließ sie alle Welt wissen, dass sie als Kind die Spielgefährtin der Contessina Rasini gewesen war.

    Viele Teruzzis (oder Terruzzis, wie sie sich auch schrieben) verließen die Brianza und gingen nach Mailand oder ins Ausland, wo sie Arbeit als Steinmetze, Kohlehändler, Zimmerleute, Wäscherinnen, Dienstmädchen, Schuhmacher, Lebensmittelhändler oder Kellner fanden. Einige von ihnen wurden später Sozialisten, nicht jedoch Cristofaro Fermo, der mit Wein und Spirituosen handelte. Das einzige Porträt, das wir von ihm besitzen, zeigt ihn mit ehrlichem Blick, einem herabhängenden Schnurrbart und einem Halstuch – das klassische Bild eines bodenständigen Bewohners der ländlichen Lombardei Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach Ansicht des Dorfvorstehers muss er einen ruhigen oder sogar guten Charakter besessen haben, denn er verheiratete ihn mit dem streng katholischen, physisch eindrucksvollen Rossi-Mädchen, das acht Jahre jünger war als er.¹¹

    Als Cristofaro Fermo und Celestina den großen Schritt wagten und von Barlassina an den südwestlichen Stadtrand Mailands zogen, hatte das Paar bereits zwei Kinder – die 1877 geborene Amelia und den 1880 geborenen Guido. Zwei andere waren schon im Säuglingsalter gestorben. Cristofaro Fermo eröffnete seinen Weinhandel im Corso Genova 13, im Erdgeschoss eines schönen, neuen, sechsstöckigen Gebäudes. Das Stadtviertel Porta Genova war eine gute Wahl für einen Weinhändler. Mit der Fertigstellung des neuen Endbahnhofs für die Eisenbahnstrecke zwischen Mailand und Mortara war das Viertel zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt geworden. Dank des Verkehrs im Haupthafen und auf den Kanälen, die Mailand mit dem Po und dem Ticino sowie mit der Schweiz verbanden, wirkte die Gegend um Porta Genova wie ein Kleinamsterdam.

    Attilio wurde am 5. Mai 1882 in der im Obergeschoss liegenden Wohnung geboren. Zwei Tage später wurde er in der damaligen Pfarrkirche des Viertels, der 900 Jahre alten Basilica Sant’Ambrogio, getauft. Die stolzen Eltern baten zwei Kleinkapitalisten, den Besitzer des Hauses und einen Bauunternehmer, als Paten zu fungieren.¹² »Attilio« war ein christlicher, aber ungewöhnlicher Name. Er war ihr erstes in Mailand geborenes Kind, und da ein nach ihm geborener Junge als Säugling starb, war er dazu bestimmt, das Baby der Familie und der Liebling der Mutter zu bleiben.¹³

    Vom Aussehen her ähnelte er mit seiner kleinen Statur, seinem gewellten dunkelbraunen Haar, seiner breiten Stirn und seiner blassen Haut eher dem Vater. Von der Mutter hatte er jedoch die wachen blauen Augen und das Doppelkinn – ein unvorteilhaftes Merkmal, das er später mit einem Bart verdeckte. Er war ein anhängliches Mama-Kind und empfänglich für die schrecklichsten Ängste seiner Mutter. Seine ältere Schwester Amelia, Lehrerin und mit guter Menschenkenntnis ausgestattet, beschrieb ihn als rauflustig und erfinderisch, merkte aber an, dass seine Eitelkeit ihn gelegentlich daran hindere, zwischen legitimem Eigennutz und überzogener Eigenliebe zu unterscheiden.

    Henry James, dieser meisterliche Beobachter unterdrückter Charaktere, hat die Heuchelei Mailands sehr schön eingefangen. Er schrieb, Mailand sei »die letzte der prosaischen Städte des Nordens« und »die erste der poetischen Städte des Südens«.¹⁴ Das Prosaische manifestierte sich im lustfeindlichen Katholizismus des Gründers Mailands, des sauertöpfischen mittelalterlichen heiligen Ambrosius. Es zeigte sich in der strafenden Arbeitsethik der aufstrebenden Industriegiganten, die ihre Arbeiter etwa in den Textilfabriken mit der unbarmherzigen Strenge der Baumwollbarone in Manchester antrieben. In der Stahlindustrie und im Maschinenbau taten sie es mit der eisernen Faust der preußischen Kapitalisten an der Ruhr. Das Prosaische lag im kraftvollen Einsatz der faszinierenden, hochgesinnten Feministinnen für gefallene Frauen. Und zutiefst durchdrungen davon waren auch die verehrungswürdigen Führer der Mailänder Sozialisten in ihren Bemühungen, die rebellischen Unterklassen der Stadt mittels der Vorzüge eines schalen Reformismus zu zivilisieren.

    Wenn das puritanische Establishment Mailands die Prosa darstellte, dann war Porta Genova die Poesie. Als Attilio ins Jugendalter kam, war die Zahl der Einwohner der Stadt von 335 000 auf 450 000 gestiegen, und Porta Genova war das lebendigste Viertel von allen. Die gerade eröffnete Straßenbahnlinie zog Menschen aus der ganzen Stadt zu den gedeckten Märkten, Pfandleihern, Jahrmärkten und Festen des Viertels. Das Fotoatelier Italo Pacchionis, des Erfinders des ersten Filmbetrachterapparats Italiens, lag schräg gegenüber von Teruzzis Weinladen, und das Stabilini, Italiens erstes Varietétheater mit Filmvorführungen, befand sich auf der heutigen Piazza Cantore.

    Puccini hatte La Bohème zwar in Paris spielen lassen, die Anregungen stammten jedoch aus den Cafés und Mansardenzimmern seiner Studentenzeit in der Umgebung der Piazza Sant’Ambrogio. Attilio wuchs mit den realen Mimìs und Musettas auf, frechen, zum Flirten aufgelegten Verkäuferinnen oder Textilarbeiterinnen, die sexuell ebenso entgegenkommend waren wie ihre Pariser Entsprechungen, aber in der Gewährung ihrer Gunst demokratischer verfuhren als sie, vor allem wenn ihre Verehrer aus dem Viertel kamen.¹⁵ Attilio hatte etwas von dem schönen Rodolfo, der die Nähe seiner Freunde sucht und mit ihnen die Objekte seiner Begierde und die Genüsse seiner Eroberungen teilt.

    Schule und Ausbildung boten die einzige Möglichkeit zu einem Aufstieg auf der gesellschaftlichen Stufenleiter, und genau diesen Weg wählte die Familie. Attilios extrem disziplinierte ältere Schwester brachte es so weit, wie eine Frau ihrer Herkunft es um die Jahrhundertwende nur bringen konnte. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar und fand eine Anstellung im wachsenden Elementarschulsystem. Die Männer mussten einen größeren Schritt machen. Attilios Onkel mütterlicherseits war mit seiner ganzen Familie aus Solbiate Comasco nach Pavia gezogen, sodass sein ältester Sohn, Attilios Vetter Ottorino, dort die Aufnahmeprüfung für das renommierte Collegio Ghislieri ablegen konnte. Ottorino absolvierte das medizinische Studium mit Bestnoten und machte sich auf den Weg, ein angesehener Neuropsychiater und schließlich der führende Experte Italiens für Kriegstraumata zu werden. Wäre Attilio dem Weg seiner Familienangehörigen gefolgt, hätte er die für einen Angehörigen der Mittelschicht typische Ausbildung absolviert, das dritte Schuljahr hinter sich gebracht, nach dem die meisten Arbeiterkinder die Schule verließen, und ebenso das sechste Schuljahr, mit dem die meisten Handwerkerkinder die Handelsschule beendeten. Er hätte weiter die Handelsschule besucht und sie schließlich mit 16 Jahren und einem Diplom in Buchhaltung und Handel mit der Aussicht abgeschlossen, Buchhalter oder Handelsvertreter oder vielleicht auch selbst Kaufmann zu werden.

    Das Schicksal wollte, dass Cristofaro Fermo um die Zeit, als Attilio 13 wurde, von einer der damals grassierenden Krankheiten befallen wurde – Tuberkulose, Leberzirrhose oder vielleicht auch einer Herzkrankheit. Er starb irgendwann vor 1896 und ließ La Bella Celestina, wie Kunden die kaum vierzigjährige Witwe nannten, mit der Aufgabe zurück, das Geschäft weiterzuführen, die Miete zu entrichten und ihre jugendlichen Söhne in die Welt hinauszuschicken. Da Celestina keine Rente erhielt, musste Amelia sie unterstützen. Attilios älterer Bruder Guido lebte nach allem, was wir wissen, 17 Jahre im Ausland, zog sich irgendwann eine tuberkulöse Syphilis zu und starb daran 1930 im Mailänder Hospiz Sant’Anna, wobei sein jüngerer Bruder klaglos die Behandlungskosten übernahm.¹⁶

    Mailand war zu seinen besten Zeiten ein Zentrum des Handels und ein Schaufenster für reformorientierte Politik. Doch als die Zeiten härter wurden, kam es zu einer erbitterten Spaltung, die Stadt wurde zu einer Brutstätte für sämtliche Ismen der Zeit. Als der Zollstreit mit Frankreich Mitte der 1890er Jahre der Textilindustrie einen schweren Schlag versetzte, ging die Börse auf Talfahrt, die Investitionen versiegten und der Bauboom brach zusammen. Die Krise nährte radikale Formen von Republikanismus, Sozialismus und Anarchismus. Zehn Jahre danach fegten Futurismus und Feminismus durch die Stadt, und noch etwas später wurde sie zum Geburtsort des Faschismus.

    1898 – Attilio wurde gerade 16 und hätte seinen Schulabschluss gemacht – erlebte Mailand die größten Unruhen seit fünf Jahrzehnten. Die Stadtväter beschlossen, den fünfzigsten Jahrestag der »Fünf Tage von Mailand«, des Volksaufstands vom 18. bis 22. März 1848 zur Befreiung von der österreichischen Herrschaft, feierlich zu begehen. Es sollte ein großes Ereignis werden, doch die Pläne wurden zwölf Tage vor dem Jubiläum aufgegeben, nachdem ein rechtsgerichteter Politiker bei einem Duell den Lieblingssohn der Stadt und Anführer der Radikalen Partei, Felice Cavallotti, getötet hatte. Das Begräbnis wurde zu einem öffentlichen Ereignis, es kam zu Zusammenstößen zwischen dem riesigen Trauerzug und der Polizei. Es folgten Demonstrationen gegen die Behörden. Wenig später schossen die Brotpreise in die Höhe und verschärften noch die Spannungen. Die Linke rief am Maifeiertag einen Generalstreik aus. Am 6. Mai verloren die städtischen Behörden die Kontrolle über die Massen, die Regierung verhängte das Kriegsrecht, um des Aufruhrs Herr zu werden. Der Kommandeur der örtlichen Garnison, General Fiorenzo Bava Beccaris, marschierte durch Porta Genova ins Stadtzentrum und ließ entlang des Weges Kanonen in Stellung bringen. Als die Menge die Soldaten verhöhnte und mit Steinen bewarf, gab Bava Beccaris seinen Soldaten den Befehl, direkt auf sie zu schießen, um die Menge zu zerstreuen.

    Als die Kanonen und Gewehre drei Tage später verstummten, lagen 81 »Unschuldige«, wie die nach dem Massaker durchgeführte Untersuchung sie nannte, tot auf dem Kampfplatz – die meisten von ihnen Heranwachsende. Zahlreiche andere waren verletzt. In den Tagen danach ließen die Behörden Hunderte verhaften, lösten öffentliche Versammlungen auf, schlossen Arbeiterzirkel und schränkten die Mobilität durch ein Verbot des Fahrradfahrens ein. Als der ungeschickte König Umberto I. den General mit dem höchsten Orden für der Krone erwiesene Dienste auszeichnete, kehrten viele junge Mailänder Italien den Rücken. In diesem Jahr verließen gut 80 000 Einwohner die Lombardei und gingen hauptsächlich nach Frankreich, um als Kellner, in der Bauindustrie oder in den Kohlebergwerken zu arbeiten.¹⁷

    Attilio beschloss stattdessen, in die Armee einzutreten. Im Unterschied zu vielen Jungen aus dem Bürgertum hatte er keine Möglichkeit, sich wegen eines Studiums zurückstellen zu lassen oder sich freizukaufen. Und er wollte auch nicht auswandern, um dem Militärdienst zu entgehen, wie sein Bruder und viele andere aus den ärmeren Schichten dies taten – einschließlich Mussolinis, der im selben Alter war wie er. Ein Pate oder Onkel mag Attilio geraten haben, wenn er sich aktiv zum Militär melde, könne er nach zwölf Jahren im Alter von dreißig Jahren als Sergeant aus dem Dienst scheiden und eine lebenslange Sinekure bei der staatlichen Eisenbahn oder bei der Post genießen. In Mailand dürfte das kaum als eine ehrgeizige Wahl gegolten haben, aber nicht jeder hatte die rechte Motivation, um im Geschäftsleben erfolgreich zu sein.

    Dass Teruzzis Wunsch, ein anderes Leben zu führen, seinen Ausdruck in der disziplinierten Gewalt des Krieges statt in den Kämpfen des Geschäftslebens fand, ist bedeutsam für seinen Werdegang. Damals stand das Königreich Italien unter einem massiven Druck, sein Militär zu vergrößern, um mit Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen Kaiserreich Schritt zu halten. Das italienische Bürgertum stellte immer mehr Offiziere für das Königlich-Italienische Heer, auch wenn die Hälfte der Offiziere immer noch adeliger Herkunft war. Um die Jahrhundertwende jedoch bevorzugte man in bürgerlichen Kreisen Positionen im Rechtswesen oder der Industrie gegenüber der langsamen Beförderung, der niedrigen Bezahlung, dem geringen Ansehen und der erst späten Eheschließung, die das Schicksal des Berufsoffiziers waren.¹⁸

    Da ihm die nötigen Abschlüsse oder das erforderliche Familienvermögen fehlten, um sich bei einer Militärakademie für die Offizierselite zu bewerben, musste Teruzzi sich freiwillig melden, darauf vertrauen, dass er bei einem höheren Offizier Eindruck machte, und zugleich hoffen, von ihm für die Sonderzulassungsprüfung vorgeschlagen zu werden. Und so kam es auch. Nach einem Jahr Dienst in der Infanterie verpflichtete er sich am 21. Dezember 1899 zu einer zweijährigen Dienstzeit im Königlichen Kolonialtruppenkorps. Im August 1903 wurde er nach Eritrea geschickt, in die erst kürzlich geschaffene italienische Kolonie am Roten Meer. In Adi Keyh, einer lebendigen kleinen Marktstadt auf der eritreischen Hochebene, erkannten seine Vorgesetzten offenbar, dass er gerissen war und wusste, was er tat.¹⁹ Schon nach wenigen Monaten wurde er zum Quartiermeister ernannt, dem höchsten Unteroffiziersrang der Einheit.

    In Italien ist der furiere sowohl eine Funktion als auch ein Typus. Er ist der für Proviant und Nachschub zuständige Mann, der die Munition und auch die Post ausgibt. Er ist unverzichtbar, ruft aber auch immer wieder Empörung hervor. Er sitzt da bequem und gemütlich in der Sicherheit des Garnisonsmagazins, und jeder muss um seine Gunst buhlen. In der Kolonialarmee gibt es von allem mehr als genug. Er führt jedoch genauestens Buch über alles und hält ein wachsames Auge auf Langfinger. Man möchte ihn zum Freund haben, denn er kann einem sehr nützlich sein, wenn man eine Wolldecke, Konserven, Feldbesteck oder geeignete Währung braucht, um am Markttag zu feilschen und einheimische Frauen für sich zu gewinnen. Ist einmal seine Freundschaft gewonnen, erfährt er alles über einen und die ganze Einheit – wobei man nur hoffen kann, dass er Diskretion wahrt.

    Teruzzi muss ein guter Quartiermeister gewesen sein. Als er nach Massaua versetzt wurde, beförderte ihn der Militärgouverneur Michele Salazar zum Chef der Garnisonspost. Oberst Salazar dürfte auch der Vorgesetzte gewesen sein, der ihn für die Offiziersschule empfahl. Teruzzi legte die Prüfung ab und erreichte derart gute Ergebnisse, dass er einen der zehn Zusatzplätze erhielt. Im November 1904 meldete er sich in Modena zu der zweijährigen Ausbildung.

    Die Militärakademie in Modena war die Kaderschmiede der italienischen Armee. Welch einen Statussprung bedeutete es, durch das Portal in den Palazzo Ducale zu schreiten und hinauf zu dem großen Wappen über den Torbögen zu blicken, auf dem die Parolen »Vereinte Kraft« und »Hier werden die neuen Helden Italiens geformt« prangten.²⁰ Teruzzi erwarb alle einem Offizier und Gentleman angemessenen Fähigkeiten und Gewohnheiten. Rasch internalisierte er den militärischen Ehrenkodex. An erster Stelle stand der Kampf für die Bewahrung der traditionellen Ehre. Man erwartete, dass sie sich den Etiketten entsprechend benahmen, Offiziere konnten für skandalöses Verhalten vor Gericht gestellt und im Falle eines Schuldspruchs aus dem Dienst entfernt werden. Das Treueverhältnis zum militärischen Kommandeur war persönlichen Charakters. Die Offiziere waren Mitglieder einer Bruderschaft – mit all der dazugehörigen Loyalität.

    Teruzzi lernte, traditionellen Vorstellungen von Kultur zu huldigen und sozialistische Ideen zu verachten. In keinem anderen Berufsstand außer dem des Diplomaten spielten Höflichkeit, Protokoll und zeremonielle Verpflichtungen eine derart wesentliche Rolle. Wie Offiziere überall war er äußerst gesellig. Er erhielt Reit- und Fechtunterricht und spielte Tennis. Er lernte Französisch, brachte sich selbst den Walzer bei, entwickelte eine Vorliebe für prächtige Ausgehuniformen und begann, seinem Gesichtshaar die Form der fantasievollen Schnurrbärte, Koteletten und Bärte zu verleihen, die in den europäischen Offizierskorps um die Jahrhundertwende en vogue waren.²¹

    Offiziere genossen zwar Ansehen, vor allem wenn sie in Kleinstädten stationiert waren, doch ihre Karriere kam nur langsam voran, die Bezahlung war gering, und ihr alltägliches Leben stand unter den wachsamen Blicken des Garnisonskommandeurs. Unglückliche Ehefrauen waren der Fluch des Garnisonslebens. So musste die Heiratserlaubnis von einem Vorgesetzten im Namen des Königs erteilt werden, und man erwartete, dass Offiziersfrauen eine Mitgift mitbrachten und die komplizierten Regeln des Protokolls und der Etikette kannten, die das gesellschaftliche Leben der Offiziere bestimmten. Hatte ein junger Offizier eine gute Frau an seiner Seite, konnte sie für seine Karriere förderlich sein, denn im Unterschied zu ihrem Mann durfte sie mit jedem sprechen, einschließlich der Vorgesetzten.²² Handelte es sich jedoch um eine Unruhestifterin, konnte sie das Fortkommen regelrecht ruinieren.

    Ende 1909, nach vier Jahren in der Infanterie, darunter ein Jahr in Parma, wurde Teruzzi zum Oberleutnant befördert und erneut nach Eritrea geschickt, wo es zu dieser Zeit recht ruhig war. Die sonnendurchfluteten Städte auf der Hochebene waren schläfrige kleine Orte. Bei entsprechendem Ehrgeiz hätte er Tigrinya, die dortige Lokalsprache, oder das Amharisch der in der Nähe lebenden abessinischen Stämme oder das Arabisch der Händler lernen können. Er hätte Pflanzen sammeln oder Tiere präparieren oder Kontakt zu den Forschern, Wissenschaftlern und Unternehmern aufnehmen können, die sich regelmäßig in Asmara trafen. Genau das tat Leutnant Rodolfo Graziani, Teruzzis Altersgenosse und späterer Marschall von Italien, als er in dem nahegelegenen Adi Ugri stationiert war.²³

    Er hätte seine Karriere auch beschleunigen können, wenn er unter dem Schirm des Heeres bei König Leopold II. von Belgien angeheuert hätte, der nach der offiziellen Annexion des Kongo italienische Offiziere einsetzte, um die Killerbanden, mit deren Hilfe er die einheimische Bevölkerung terrorisiert und versklavt hatte, in eine disziplinierte Kolonialarmee umzuformen. Ottorino Mezzetti, Teruzzis zukünftiger Feldkommandeur in Libyen, hatte diese Chance genutzt. Er erinnerte sich später an die kaltblütige Grausamkeit, die er an den Tag legen musste, um bei seiner Ankunft nicht von den undisziplinierten Soldaten massakriert zu werden, und an den unerbittlichen Drill, den er eingeführt hatte, um diese Leute zu bändigen und ihre Loyalität zu gewinnen.²⁴

    Dass der Libyenkrieg den durchaus kompetenten, wenn auch ein wenig farblosen Leutnant Teruzzi zu einem Kriegshelden machte, spricht weniger für seine beruflichen Fähigkeiten als für das Spektakel, das die Medien um die fürchterliche Entscheidung der liberalen Elite Italiens inszenierten, sich in Afrika zu engagieren. Der sonst zurückhaltende Ministerpräsident Giovanni Giolitti tat der Presse einen Gefallen, als er den Versuch des Königreichs, wie eine koloniale Großmacht aufzutreten und diesen letzten Rest des zusammenbrechenden Osmanischen Reiches an sich zu bringen, als »historisches Schicksal« bezeichnete.²⁵

    Die plappernden Klassen Italiens hatten in nur zwei Jahren eine Kultur des Krieges geschaffen, deren Gefühlsüberschwang und Frauenfeindlichkeit hypnotische Kraft entfaltete. »Die italienische Nation« oder – wie Giovanni Pascoli, der inoffizielle poeta laureatus Italiens, erklärte – die »große Proletarierin« habe sich »erhoben«, sodass eine Welt, die italienische Emigranten für selbstverständlich hielten, sie »nicht länger als »Bauernburschen, Gringos, Spaghettifresser, Kanaken« verunglimpfen könne. Italien habe sein eigenes Eldorado erobert, in dem die vom Lande Vertriebenen eine neue Heimat finden könnten. Der Krieg habe den »italienischen Geist überholten Denkens« getötet, stimmte der Futurist Marinetti ein, »insbesondere Sentimentalität, morbides Mitleid, Liebe zu Blinden und Krüppeln«.²⁶

    Teruzzis Geburt als Kriegsheld fiel mit dieser frühen Bronzezeit der italienischen Kriegskultur zusammen. Guelfo Civinini, einer der Kriegskorrespondenten des Corriere und Gelegenheitslibrettist, der 1910 am Libretto für Puccinis La fanciulla del West (Das Mädchen aus dem goldenen Westen) mitgeschrieben hatte, erkannte in Teruzzi (nach seiner ersten Begegnung mit ihm in Misurata, die sie rasch Freunde werden ließ) etwas von Puccinis pathetischen Tenören. Er sei »sehnig und wendig wie ein Hirsch, stark wie ein Leopard«, schrieb Civinini, »sein voller Bart ragte vor wie ein Banner der Jugend und des Mutes«. Er erblickte in Teruzzi den Soldaten, der »den Krieg immer noch als Spiel und das Leben als Lotterie begriff, weshalb es denn galt, es mit dem gerade erst Verdienten in vollen Zügen zu genießen und sein vielleicht letztes Mädchen flachzulegen, während die Hände noch nach dem eben erst verlassenen rochen«.²⁷ Teruzzi, der Geschmack an den Bordellen in Mailand und Eritrea und allen Stationen dazwischen gefunden hatte, war selten ohne eine Frau.

    Am 25. Dezember 1913, in der 18. Woche des Feldzugs zur Eroberung des libyschen Hinterlandes – Teruzzi stand unter dem Befehl von Oberst Antonio Miani –, geriet seine Truppe bei Maharuga in einen Hinterhalt. Sein Hauptmann fiel. Obwohl selbst von einer Kugel am Arm verletzt, gelang es Teruzzi, seine halbe Kompanie wieder zu sammeln, er erhielt eine Silbermedaille für sein »rasches und furchtloses Handeln, indem er unter Beschuss vorstieß und eine Mörserstellung vor der Einkreisung bewahrte«.

    Als die arabischen Stammesführer eine Woche später ihre Unterwerfung unter die italienische Militärmacht zum Ausdruck brachten, sah man ihn hämisch in die Kamera grinsen. Vielleicht teilte er damals die Überzeugung, dass man sich solcher Gehorsamsbekundungen nur so lange erfreuen können würde, wie italienische Truppen in der Nähe waren. Dennoch kehrt er im Januar in die Heimat zurück, um seine Verletzung auszukurieren.²⁸ So war er denn zu Hause in Mailand an jenem 4. August 1914, als der Erste Weltkrieg begann.

    2 Der Große Krieg

    Der dahinströmende Isonzo

    Hat mich abgeschliffen

    Wie einen seiner Steine

    Giuseppe Ungaretti, »I fiumi« (»Die Flüsse«), August 1916

    Bei Ausbruch des Krieges war Italien immer noch Teil des Dreibunds. Obwohl die meisten Italiener wünschten, dass ihr Land sich aus dem Krieg heraushalten möge, bevorzugte die öffentliche Meinung doch deutlich die Triple Entente, das informelle Bündnis zwischen Frankreich, Großbritannien und Russland – und das trotz der russischen Kriegsbeteiligung –, vor allem, als das Deutsche Heer in Belgien einmarschierte, um Frankreich anzugreifen. Als das geschah, erklärte die italienische Regierung das Land für neutral, weil der Vertrag mit dem Dreibund nur die Verteidigung, aber keinen Angriffskrieg umfasse und Italien vor dem Angriff nicht konsultiert worden sei. In Wirklichkeit glaubte jedoch kein Verantwortlicher, dass Italien die Kriegsanstrengungen meistern könne.

    Als der Krieg sich hinzog, wurde das Parlament aufgelöst und das erzkonservative italienische Kabinett von den Staaten der Entente erfolgreich zur Unterzeichnung des geheimen Londoner Vertrags (von 1915) gedrängt. Darin verpflichtete sich Italien, seine Neutralität aufzugeben und Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären, wobei man dem Land beträchtliche territoriale Gewinne versprach. Zu dieser Zeit war Gabriele D’Annunzio bereits aus Paris heimgekehrt und hatte sich Benito Mussolini und den Horden nationalistischer und radikaler Interventionisten angeschlossen, die nach Krieg riefen, weil sie inbrünstig hofften, im Laufe der Kämpfe werde das alte Italien in der einen oder anderen Weise sterben und ein neues aus der Taufe gehoben.

    Am 23. Mai 1915 unterzeichnete König Viktor Emanuel III. eine förmliche Kriegserklärung an Österreich-Ungarn und im folgenden Jahr dann auch an Deutschland und das Osmanische Reich. Als der Krieg dreieinhalb Jahre später endete, hatte das 35 Millionen Einwohner zählende Italien 689 000 Tote und 947 000 Verwundete zu beklagen. Angesichts der von allzu hohen Steuern belasteten Wirtschaft und eines aus den Fugen geratenen politischen Systems ging bei der Antwort auf die Frage, ob der Krieg sich gelohnt hatte, ein tiefer Riss durch das Volk.

    Zeitgleich mit seinem Einberufungsbefehl zum 3. Januar 1915 wurde Attilio Teruzzi zum Hauptmann befördert und dem 137. Regiment der Barletta-Brigade zugewiesen, die gemeinsam mit dem 138. Regiment in drei Bataillone mit jeweils drei, aus etwa 250 Mann bestehenden Kompanien aufgeteilt wurde. Teruzzi war nun verantwortlich für seine Offiziere (in der Mehrzahl niedere Dienstgrade), deren Unteroffiziere und Soldaten: wehrpflichtige Handwerker und gerade so alphabetisierte Bauern, für die der Konflikt ein »Krieg der Signori« war. Über sich hatte er seinen Bataillonsoberst, darüber den Brigadegeneral, über ihm den Divisionskommandeur und darüber schließlich den Kommandeur der 3. Armee. Dabei handelte es sich um Emanuel Philibert, Herzog von Savoyen-Aosta und Vetter des Königs, eine hochgewachsene, imposante, melancholische Gestalt, die Trost in D’Annunzios Kriegspoesie fand, aus der er einige Schnipsel in die sorgsam verfassten Reden einstreute, mit denen er die Moral seiner Männer zu stärken versuchte.

    So war denn Teruzzi ein kleines Rädchen in einer knirschenden Militärmaschinerie, die langsam ihre zwölf Armeekorps mit 23 000 Offizieren und 850 000 gemeinen Soldaten sowie 9000 Zivilangestellten mobilisierte. Generalstabschef Luigi Cadorna war der Feldkommandeur. Als Sohn eines Generals und später Vater herausragender Generäle war der Piemonteser Cadorna selbst Relikt einer alten Schule der Kriegsführung, zu deren Glaubensbekenntnis die Maxime gehörte, stets selbst in der Offensive zu sein. In dieser Frage war er unbelehrbar, und er

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