Léon Bakst. Die zauberwelt des Theaters
Von Elisabeth Ingles
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Buchvorschau
Léon Bakst. Die zauberwelt des Theaters - Elisabeth Ingles
1. Léon Bakst, Photographie von Shumov
Einführung
„Ein wunderbar dekorativer Künstler mit großem Geschmack, grenzenloser Vorstellungskraft, ungewöhnlich kultiviert und vornehm." So wurde Léon Bakst [abb. 1] von seiner Freundin und Künstlerkollegin Anna Ostroumowa-Lebedjewa beschrieben. Er zählte zu den führenden Akteuren des kulturellen Aufruhrs, der Rußland zur Jahrhundertwende bewegte. Zusammen mit seinem befreundeten Künstlerkollegen Alexandre Benois revolutionierte Bakst den Begriff der Bühnengestaltung und gehörte zum Kern der von dem bemerkenswerten Sergej Diaghilew [abb. 2] geförderten, äußerst talentierten Gruppe junger Künstler.
Diaghilews Künstlergruppe ‚Welt der Kunst‘ war ein Sammelbecken für die einflußreichsten Arbeiten des frühen 20. Jahrhunderts. Es läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß die Ausstellungen dieser Gruppe für das Vordringen in neue Dimensionen der ästhetischen Wahrnehmungen russischer Kultur in hohem Maße verantwortlich waren. Einer derjenigen, die einen wesentlichen Beitrag zu dieser neuen Richtung leisteten, war der ruhige, schüchterne und in ärmlichen Verhältnissen lebende Lew Rosenberg, der als Léon Bakst [abb. 3] berühmt wurde.
2. Jean Cocteau, Sergej Diaghilew und Léon Bakst, Karikatur in Dessins, Paris, Stock, 1923
3. Léon Bakst, Selbstbildnis, 1906. Kohle, Farbstifte und Rötel auf Papier, auf Karton geklebt. 75,8 x 51,8 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
Das Leben in Rußland unterlag zwischen 1870 und 1917 einer unglaublichen Folge von Verände-rungen. Eine beträchtliche Anzahl unterschiedlichster Faktoren trug zur Unruhe dieser Periode bei - nicht nur in kulturellen Entwicklungen, sondern auch in der politischen Arena. Die zeitgenössische Literatur regte einerseits die Tendenzen des Wan-dels an, spiegelte andererseits aber ebenso die Ver-änderungen wider. Dostojewski [abb. 4] und Turgenjew [abb. 5] übten umfassende Kritik an den sozialen Unge-rechtigkeiten ihrer Zeit. Gorki nahm sich des wachsenden revolutionären Eifers der Jahrhundertwende an und ein von ihm im Jahr 1901 verfaßtes Gedicht lieferte einen anfeuernden Aufruf für die Reform-bewegung. Die Forderungen der Bauern nach mehr Freiheit und Rechten für sich selbst und ihre Fami-lien sowie nach mehr Einflußmöglichkeiten in der damaligen Regierung und die gleichzeitige Weige-rung der Mächtigen, die sich vor den Konsequen-zen fürchteten und jegliche Tendenz zu natürlicher Gerechtigkeit zu unterdrücken suchten - all dies hatte 1905 erdbebenartige politische Umwälzungen zur Folge, die 1917 noch dramatischere und un-widerrufliche Ausmaße annahmen. Der Wandel lag in der Luft und konnte auf politischer Ebene ebensowenig wie auf kultureller Ebene zurückgedrängt werden.
4. Wassili Perow, Bildnis des Schriftstellers Fjodor Dostojewski, 1872. Öl auf Leinwand. 99 x 80,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
5. Wassili Perow, Bildnis des Schriftstellers Iwan Turgenjew, 1872. Öl auf Leinwand. 102 x 80 cm, Russisches Museum, St. Petersburg
Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die führende künstlerische Bewegung dieser Zeit, deren Verfechter – weil sie ihre Arbeiten in Wanderausstellungen im ganzen Land zeigten – als die ‚Wanderer‘ bekannt waren, ihren Höhepunkt erreicht [abb. 6, 7, 8]. Obwohl die Bewegung immer noch voller Glanzlichter war, glich sie nun doch einer reifen Frucht an der Grenze zur Fäulnis. Der von den Etablierten bevorzugte Stil war die akademi-sche Malerei, die jedoch alle Impulse künstlerischer Neuerung im Keim erstickte. Jeder neue Gedanke wurde – nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal in der Geschichte der Kunst – unterdrückt und die Stirn bei jeglichem Versuch, in eine neue Richtung zu gehen, mißfällig gerunzelt. Zwar hatten die ‚Wanderer‘ bei ihren Bemühungen, sich von der Leblosigkeit des offiziellen akademischen Stiles loszusagen, große Fortschritte gemacht und großartige Werke hervorgebracht – historische Themen und Genrebilder, die die Vorstellungskraft des Betrachters auch heute noch gefangennehmen, ebenso wie herrliche Portraits – aber sie verloren an Schärfe und wurden zunehmend be-rechenbarer; ihre Maßstäbe begannen zu verschwimmen. Mit einer Art historischer Unvermeidbarkeit waren die jungen Leute der ‚Welt der Kunst‘ angetreten, um die künstlerische Führung zu überneh-men. Sie entwickelten keine neuen Theorien, sondern stellten den Individua-lismus und die künstlerische Persönlich-keit über alle anderen Überlegungen. Dabei darf nicht vergessen werden, daß viele dieser neuen Talente von den Mei-stern der ‚Wanderer‘ großzügige Unter-stützung erfuhren und dieser Anteil an der späteren Entwicklung der jüngeren Generation von dieser stets mit Dankbarkeit anerkannt wurde.
6. Ilja Repin, Auf einer Rasenbank, 1876. Öl auf Leinwand. 36 x 55,5 cm, Russisches Museum, St. Petersburg
7. Iwan Schischkin, „Es stand auf öder Heide...", 1883. Öl auf Leinwand. 136,5 x 203,5 cm, Russisches Kunstmuseum, Kiew
8. Isaak Lewitan, Der See, 1898-1899. Öl auf Leinwand. 26 x 34 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau
Die Ballettkunst, die sich seit 1738 in St. Petersburg als Folge der Bewunderung von Peter dem Großen für die französi-sche und italienische Kultur entwickelt hatte und später auch in Moskau Wurzeln schlug, gehörte im gesamten 19. Jahrhun-dert zu den populärsten Aufführungs-formen. Durch die Leistung von Choreo-graphen wie Marius Petipa (1818-1910) und Komponisten wie Peter Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) – eine Partner-schaft, die für die drei unsterblichen Klassiker Schwanensee, Dornröschen [abb. 11] und Der Nußknacker [abb. 12] verantwortlich war – erreichte sie einen neuen, glanz-vollen Höhepunkt. Auch die Oper begann aus ihrem Schattendasein hervorzutreten, in dem sie bis dahin gelebt hatte. Mit der Unterstützung von solchen vorurteilsfreien Gönnern wie Sawwa Mamontow wurden die Werke von Tschaikowski – einmal mehr – sowie von Balakirew, Borodin, Mussorgski und Rimski-Korsakow mit beachtlichem Erfolg aufgeführt, und die großartige Baßstimme Chaliapins erlangte internationalen Ruhm. Die Werke dieser Zeit werden auch heute noch überall vom Publikum begeistert gefeiert.
Dennoch trug eine ganze Menge dieser künstlerischen Kreativität – so wundervoll sie war und ist, mit einer An-ziehungskraft auf den größten Teil des Publikums – den Stempel des Traditionellen. Nichts wirklich Neues sprang auf das Publikum über; ein wenig davon ausgenommen war vielleicht Tschaikowskis Opern-Essay im Übernatürlichen, Pique Dame, der die Gemüter erregte.
9. Marius Petipa, Dornröschen, Die hier von den Tänzern des Marientheaters interpretierte Szene zeigt die von der Fliederfee angeführten guten Feen.
10. Die von elegischer Trauer erfüllte Schattenreich-Szene, eine Interpretation aus Petipas Zeit am Marientheater
11. Dornröschen, das Erwachen, Wandmalerei. Öl auf Leinwand. 210 x 82 cm, Privatsammlung
12. Konstantin Iwanow, Bühnenbildentwurf für Der Nußknacker, 1892. St. Petersburg
Diaghilew war dabei, dies alles zu verändern. Obwohl er selbst ein Mann von sehr großer künstlerischer Begabung war, ein fähiger Musiker mit einem gut ausgebildeten kritischen Auge für die Malerei, erlangte