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Amerikanischer Realismus
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eBook457 Seiten2 Stunden

Amerikanischer Realismus

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Über dieses E-Book

Der Amerikanische Realismus ist weder eine Kunstbewegung noch eine Schule, vielmehr ist er ein durch eine außergewöhnliche Vielfalt gekennzeichnetes Phänomen, das nur schwer zu definieren ist. Er wird oft als der erste eigene Kunststil der USA betrachtet und zerfällt in eine Reihe von Kategorien, etwa den „regionalen Realismus“, den Genre-Realismus oder auch den Porträt-Realismus, je nach Ort, Sujet und Modell. So könnte sich ein Maler, der die indianischen Ureinwohner im Westen der USA oder die Seeleute an der Ostküste porträtiert, durchaus als Vertreter des Regionalen
Porträt-Realismus bezeichnen.
Eine einheitliche Auffassung des Amerikanischen Realismus ist daher kaum möglich. Doch unbesehen aller Unterschiede gibt es eine frappierende Gemeinsamkeit der ihm zugeordneten Künstler: ihr Anliegen, der typisch amerikanischen Lebensart (dem American Way of Life) sowie ihrem Verständnis von Freiheit Ausdruck zu verleihen. Natürlich hängt das Ergebnis der Bemühungen jedes Einzelnen von seinem subjektiven Empfinden, seiner individuellen Wahrnehmung, seinem Intellekt, seinem familiären Hintergrund, seiner Erziehung und Ausbildung ab und nicht zuletzt auch von regionalen und ethnischen Einflüssen. Das Spektrum dieser heterogenen Kunst reicht von Winslow Homers poetisch angehauchten Aquarellen aus den 1860er Jahren über die fast unheimlich und stark symbolträchtig wirkenden Bilder eines Andrew Wyeth bis hin zu den in melancholisches Licht getauchten Szenen eines Edward Hopper der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Dieser Band präsentiert ein über hundert Jahre umfassendes Kaleidoskop des Amerikanischen Realismus. Den Anfang machen US-amerikanische Maler, die noch stark der Tradition der europäischen Kunst verpflichtet sind und sich allmählich von dieser lossagen; am Ende haben wir die Vertreter der modernen Generation, deren auf amerikanischem Boden gewachsene schöpferische und teilweise rebellische Ideen auch in Europa großes Aufsehen erregen und die ihre Eigenständigkeit als eine Art neue Pioniere beweisen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Sept. 2015
ISBN9781783106660
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    Buchvorschau

    Amerikanischer Realismus - Gerry Souter

    ANMERKUNGEN

    Frederic Remington, Bootshaus in Ingleneuk,

    c. 1903-1907. Öl auf Holz, 30,5 x 45,7 cm.

    Frederic Remington Art Museum, Ogdensburg, New York.

    EINLEITUNG

    Das Konzept des „Realismus in der Kunst rein theoretisch umfassend zu definieren, ist ein fast aussichtsloses Unterfangen. Man könnte genau so gut versuchen, „Tanz zu definieren, ohne sich ein Ballett, Tapdance, Jazz oder Volkstänze anzusehen. In der Kunst gibt es durchaus Schulen wie den Kubismus, den Futurismus, den Impressionismus, den Fauvismus, den Expressionismus und noch viele weitere mehr oder weniger bedeutende ismen. Jede dieser Schulen hat spezifische Charakteristika und Stilmerkmale. Ihre Anhänger sind durch die Resultate ihrer Identifikation mit dem jeweiligen kreativen Ansatz definiert. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen ismen und dem Realismus besteht jedoch in den Kategorien Zeit, Ort und Denkweise.

    Ein „realistischer Maler ist der Erbe eines Vermächtnisses, das bis zu den frühesten, das Leben unserer primitivsten Vorfahren darstellenden Höhlenmalereien zurückreicht. Sie malten gigantische Elche, Mammuts, Höhlenbären und ihre eigenen Gefährten. Diese ersten „Künstler sahen durch die Luft fliegende Speere, den eleganten Hals der Antilope und den Buckel des Büffels und malten exakt das, was sie sahen, Lebewesen in der Bewegung oder im Ruhezustand, mit Hilfe von mit tierischem Fett oder Talg vermischter farbiger Erde. Niemand weiß genau, ob die Resultate rein „journalistischer" Natur waren oder den Bildern magische Bedeutung für eine erfolgreiche Jagd zukam. Die Interpretation der Wirklichkeit führte dann durch die Jahrhunderte von stilisierter Propaganda an den Wänden von Tempeln und Grabmalen bis hin zum Epos des Teppichs von Bayeux mit seiner ausführlichen Beschreibung der normannischen Invasion Englands. Der Glaube wurde gleichzeitig durch Abbildungen von Geschichten aus der Bibel, dem Koran, der Bhagavad-Gita und den Schriften des Konfuzius unterstützt.

    Die realistische Malerei brachte später eine elitäre Klasse von Künstlern hervor, die ganz bestimmte Effekte und Techniken und geheime Verfahren der Konservierung von Farben beherrschten und insofern Alchemisten ähneln, die der durch ihre Augen wahrgenommenen Realität ewiges Leben und Szenen aus ihrer Vorstellungskraft Wirklichkeit verleihen konnten. Meister dieser Technik wurden von der Gesellschaft hoch geschätzt und begannen, ihre Position durch Orden, Akademien und Gesellschaften zu verfestigen, deren Mitgliedschaft als Ziel, besondere Leistung und fast heilige Verpflichtung galt. Auf der anderen Seite verliehen die Werke ihren jeweiligen Besitzern oder Auftraggebern eine Aura der Frömmigkeit, des anspruchsvollen Geschmacks und der gesellschaftlichen Verantwortung.

    Es gab natürlich auch Unzufriedene: David, Dürer, da Vinci, Goya, Rembrandt, Delacroix, Caravaggio Künstler, deren Pinsel, Nadeln und Kreide von ihren Leidenschaften bestimmt wurden und die illustrierten, dass es beim Realismus um mehr als bloße Technik geht. Als die amerikanischen Kolonien der Neuen Welt sich nach der Revolution, der Expansion nach Westen, dem Krieg des Jahres 1812 und den Grenzkriegen mit Mexiko schließlich ein wenig beruhigten, begannen eine neue einheimische Kunst und die Kunst Europas, in neue Regionen vorzustoßen. Diese Entwicklung fiel praktisch mit der Geburt der Fotografie in den 1840er Jahren zusammen. Die Möglichkeit, reflektiertes Licht in den unterschiedlichsten Schattierungen mit Hilfe von Silberhalogenidkristallen einzufangen und mit Hyposulfit zu konservieren, sorgte für eine nicht mehr umkehrbare Demokratisierung der Darstellung der Wirklichkeit und hielt der Natur mit Hilfe eines simplen Klicks den Spiegel vor.

    William Metcalf, Hafen von Gloucester, 1895.

    Öl auf Leinwand, 66,4 x 74,3 cm.

    Mead Art Museum, Amherst College, Amherst,

    Massachusetts, gestiftet von George D. Pratt.

    Und was machten „wahre Künstler mit diesem neuen Medium? Nun, sie zwängten es natürlich in die Konventionen der Malerei und beeilten sich, Orden, Akademien und Gesellschaften zu gründen, um Regeln für „wirklich künstlerische Fotografie zu formulieren. Die Technik und Mechanik der Fotografie stammten aus Europa, aber ihre Kommerzialisierung, ihr künstlerischer Anspruch und ihr großes kreatives Potenzial haben ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, in der Nation der Einwanderer, die den Drang, den status quo in Frage zu stellen, ererbt hatten und in ihren Genen weiterreichten. Der europäische akademische Realismus geriet gegenüber dem französischen Impressionismus des 19. Jahrhunderts ins Hintertreffen und ging in die übertriebene Theatralik und die unterschiedlichen geographischen Schulen Amerikas über. Die durch die Fotografie mögliche wirklichkeitsgetreue Übersetzung von Licht und Schatten in reproduzierbare Bilder eröffnete den Künstlern die Möglichkeit, ihre Vorstellungskraft zu erkunden. Sie konnten alle Elemente – Farbe, Linie, Perspektive, räumliche Anordnung, Hinzufügung oder Reduktion – manipulieren und die jeweilige Szene auf diese Weise zu ihrer Realität machen. Der Realismus als eine monolithische, klar geregelte Schule zersplitterte in unzählige Nuancen der Interpretation.

    Die Gegend, in der man malte, konnte einen zu einem regionalen Künstler machen. Was man malte, konnte für das Etikett eines Genre-Realisten sorgen, wen man malte, den Künstler zu einem Porträt-Realisten abstempeln – u. U. auch zu einem regionalen Porträt-Realisten, wenn man Indianer im Westen oder Kapitäne an der Ostküste porträtierte. Es gab Realisten, deren Arbeiten gewisse Ähnlichkeiten mit den französischen Realisten aufwiesen, und akademische Realisten, die die altmodische Mechanik der Salons der Alten Welt auf Szenen des amerikanischen Lebens anwandten. Einige Realisten ritten erfolgreich auf der Grenze zwischen kommerziellen Illustrationen und der hohen Kunst. Andere transponierten realistische Objekte in die Welt des Surrealismus oder trieben den Realismus derart auf die Spitze, dass sie fast die Fotografie herausforderten.

    John Sloan, Hafen von Gloucester, 1916.

    Öl auf Leinwand, 66 x 81,3 cm.

    Syracuse University Art Collection, Syracuse, New York.

    All die hier genannten Ausprägungen weisen wiederum derart viele Nuancen auf, dass das Konzept eines „Amerikanischen Realismus" kaum noch zu halten ist. Was bleibt, sind amerikanische realistische Künstler, die sich mit dem amerikanischen Leben auseinandersetzen. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen hängen von der Filterung ihrer Wahrnehmung durch ihren Intellekt, ihren Fähigkeiten, ihrer Ausbildung, regionalen und ethnischen Einflüssen ab. Wenn es eine Verbindung gibt, so besteht diese in der Tradition der realistischen Kunst in den USA, die das breite Spektrum von Winslow Homers poetischen Aquarellen der 1860er Jahre bis hin zu den beeindruckenden, exakten Details eines Andrew Wyeth und dem melancholischen Licht der Gemälde Edward Hoppers in den 1950er und 1960er Jahren umfasst.

    Dieses Buch präsentiert eine Auswahl amerikanischer realistischer Maler aus mehr als hundert Jahren. Die Darstellung beginnt mit der Auseinandersetzung einiger Künstler mit europäischen Einflüssen und ihrem Versuch, das amerikanische Leben im 19. Jahrhundert einzufangen. Sie endet mit der heutigen Generation realistischer Maler, die sich in einer Art friedlicher Koexistenz mit dem amerikanischen Modernismus befinden und diese neue Freiheit in die aktuellen Inkarnationen ihrer Kunst einfließen lassen. Die Bandbreite der hier vorgestellten Talente ist außergewöhnlich, verkörpert die umfassendste Interpretation des Begriffs des Amerikanischen Realismus und ermöglicht ein tiefes Verständnis der erstaunlichen Vielfalt der realistischen Stilrichtungen.

    Eastman Johnson, Frau in weißem Kleid, c. 1895.

    Öl auf Pappe, 56,8 x 35,6 cm. Fine Arts Museum

    of San Francisco, San Francisco, Kalifornien,

    gestiftet von Mr. und Mrs. John D. Rockefeller III.

    EASTMAN JOHNSON

    (1824 BIS 1906)

    In den 1840er Jahren befanden sich die Vereinigten Staaten immer noch in einer rasanten Entwicklung. Die Bevölkerung war gegenüber der vorigen Dekade um 33 Prozent auf knapp über 17 Millionen gestiegen, wobei in vier Staaten jeweils mehr als eine Million Menschen lebten, in New York, Pennsylvania, Ohio und Virginia. Texas schloss sich 1845 den USA an und die ersten Wagentrecks fuhren über die Santa Fe- und die Oregon-Route Richtung Westen. Im Dezember desselben Jahres informierte Präsident James K. Polk den Kongress, dass die „… offenkundige Bestimmung" der Nation darin bestehe, nach Westen zu expandieren und die Monroe-Doktrin energisch aufrecht zu erhalten.

    Diese großen Ereignisse wurden mit der brandneuen Errungenschaft von Samuel F. B. Morses Telegrafie, die mit einer am 24. Mai 1844 von Washington, D.C., nach Baltimore übersandten Nachricht gerade erst ihre Feuertaufe bestanden hatte, über das ganze Land verbreitet. Die Nachricht lautete sinngemäß „Gottes Wille geschehe." Mehr oder weniger gleichzeitig bemühte sich in einem Atelier in Boston der 20jährige Eastman Johnson, die Kunst der Stein-Lithografie zu erlernen, ein Handwerk innerhalb der Druckindustrie. Sein Vater hatte ihn in eine entsprechende Werkstatt in die Lehre geschickt, damit er einen praktischen Beruf erlerne.

    Der junge Johnson war 1824 in Lovell, einer kleinen Stadt in der Nähe der Westgrenze des Staates Maine, als letztes von acht Kindern von Mary Kimball Chandler und Phillip Carrigan Johnson geboren worden. Während die Familie zunächst nach Fryeburg, einem ehemaligen Vorposten an der Grenze zur Wildnis, und dann nach Augusta, in die am Kennebec liegende Hauptstadt von Maine, zog, erklomm der Patriarch Johnson die Erfolgsleiter. Er stieg von einem erfolgreichen Geschäftsmann zum Außenminister von Maine auf, machte anschließend noch weiter Karriere und brachte es als Verantwortlicher für den Bau und die Ausstattung der Marine schließlich zu beträchtlichem Einfluss in Washington. Vor diesem Hintergrund fiel es natürlich nicht schwer, eine Lehrstelle für Eastman zu finden. Seine zeichnerische Begabung und gute Beobachtungsgabe taten ein Übriges.

    Eastman ging 1845 mit 21 Jahren nach Washington, wo er sich als Porträtmaler einen Namen machte und so berühmte Zeitgenossen wie den Redner und Außenministers Daniel Webster (1782 bis 1852) und Dolly Madison, die Ehefrau des Präsidenten James Madison, malte. Im folgenden Jahr wechselte Eastman nach Boston, wo ihm sein in der Lithografie erlernter subtiler Umgang mit Farbton und Linie bald Aufträge für Porträts wie jenes des jugendlichen Charles Sumner (1811 bis 1874) einbrachten, das auf Veranlassung des Dramatikers Henry Wadsworth Longfellow (1807 bis 1882) entstand.

    Der berühmte Dichter bat Eastman dann ebenfalls um Zeichnungen von Familienmitgliedern und seiner berühmten Freunde, darunter der Autor Nathaniel Hawthorne (1804 bis 1864), Anne Longfellow Pierce (1810 bis 1901), Charles Longfellow (1844 bis 1893), deren gemeinsamem zweiten Sohn Ernest Longfellow (1845 bis 1921), Mary Longfellow Greenleaf (1816 bis 1902) und Cornelius Conway Felton (1807 bis 1862), der wenig später Präsident der Universität Harvard wurde. Diese Aufträge gaben Eastmans Karriere einen wahren Schub. Nach drei Jahren in Boston hielt er es jedoch für erforderlich, sich mehr mit der hohen Kunst zu befassen. Es dauerte jedoch noch bis 1848, bis er sein erstes Ölgemälde malte, ein Porträt seiner Großmutter.

    Im Folgejahr überquerte Johnson den Atlantik, um sich an der Düsseldorfer Kunstakademie einzuschreiben, einer einflussreichen realistischen Schule des 19. Jahrhunderts. Dort arbeitete er im Atelier des amerikanischen Auswanderers Emanuel Gottlieb Leutze (1816 bis 1868). Viele der Studenten dieser für ihre realistischen Landschaftsallegorien und historischen Bilder bekannten Akademie waren kurz vor Johnsons Eintreffen in politische und soziale Proteste verwickelt gewesen und hatten auf Barrikaden gestanden. Die deutsche Revolution der Jahre 1848/49 zwang Friedrich Wilhelm IV. (1795 bis 1861), eine einheitliche Verfassung für ganz Preußen zu erlassen. Eastman allerdings kümmerte sich vor allem um die Malerei und schloss sich einer Reihe amerikanischer Künstler in dieser Akademie an, die zur damaligen Zeit durchaus einflussreicher als vergleichbare Einrichtungen in Paris war. Die Maler James M. Hart (1828 bis 1901), William Morris Hunt (1824 bis 1879), George Caleb Bingham (1811 bis 1879), William S. Haseltine (1835 bis 1900), Worthington Whittredge (1820 bis 1910) und Richard Caton Woodville (1856 bis 1926) sammelten ebenso wie Albert Bierstadt (1830 bis 1902), der Maler leuchtender Landschaften des amerikanischen Westens, auf diese Weise allesamt Erfahrungen in Düsseldorf,.

    Während die Akademie durchaus wertvollen technischen Unterricht bot, fühlte sich Johnson durch ihre Pädagogik gleichzeitig eingeengt. Er packte deshalb 1852 seine Malutensilien ein und begab sich auf eine Reise durch Italien und Frankreich, an deren Ende er in Den Haag eintraf. Dort studierte er die niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts, vor allem Rembrandt und seine meisterliche Handhabung des Lichts und der Komposition. Am Ende seiner Studien war Johnson zu der Überzeugung gelangt, dass sich die realistische Kunst nicht zwangsläufig in populären Allegorien, bloßer Sentimentalität oder der gezwungen wirkenden Darstellung historischer Ereignisse erschöpfen musste. Gemälde konnten auch einfache oder komplexe Geschichten ohne vorgetäuschte Emotionen oder ausufernde Fantasie erzählen. Die direkte Beobachtung vor Ort und Skizzen nach dem Leben konnten das amerikanische Leben darstellen. Ausgerüstet mit Rembrandts Methoden der Visualisierung, dem rigorosen Technik-Curriculum der deutschen Technik und seiner eigenen, narrativen Sensibilität verbrachte Eastman Johnson dann noch zwei Monate im Atelier des akademischen Malers Thomas Couture (1850 bis 1879) in Paris, bevor er 1855 wieder in die Vereinigten Staaten aufbrach.

    In der Zwischenzeit hatte sich die Kunstszene in den USA erheblich verändert. Daguerreotypie-Salons waren wie Pilze aus dem Boden geschossen, vor allem in Washington. Die modischen Fotoporträts in ihren aufwändigen Rahmen waren als Geschenke der letzte Schrei. Leider blickten den Betrachter aber nur sehr ernste Gesichter an, weil die Belichtungszeit drei Minuten betrug und die Köpfe der Porträtierten aus eben diesem Grunde sogar fixiert wurden. Nichtsdestoweniger war der Markt für gemalte Porträts völlig zusammengebrochen. Sein außergewöhnlich guter Ruf verschaffte Johnson jedoch in Cincinnati und Washington nach wie vor Porträtaufträge und ermöglichte ihm so auch in New York die Einrichtung eines eigenen Ateliers.

    Eine weitere wichtige Neuerung bestand in der Veränderung der Einstellung der Amerikaner zur Kunst und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Während in den 1840er Jahren noch europäische Vorbilder als der Inbegriff des guten Geschmacks und der künstlerischen Sensibilität gegolten hatten, wandten sich die Amerikaner nun in gewisser Weise nach innen und suchten in Kunst und Literatur nach ihrer eigenen Identität. Das amerikanische Panorama weitete sich, und die Kunstkäufer wollten nunmehr Bilder aus dem exotischen amerikanischen Westen. Menschen, die mittlerweile in Großstädten wohnten, sehnten sich nach idealisierten Darstellungen des bukolischen Farmlebens, nach Bildern des einfachen Lebens im tiefen Süden und sogar der in den großen Ebenen wohnenden Indianer.

    Eastman Johnson, Die Familie Hatch, c. 1870-1871.

    Öl auf Leinwand, 121,9 x 186,4 cm. The Metropolitan

    Museum of Art, New York, New York,

    gestiftet von Frederic H. Hatch.

    Eastman Johnson, Leben im Süden, 1859.

    Öl auf Leinwand, 91,4 x 114,9 cm.

    Robert L. Stuart Collection, New York

    Historical Society, New York, New York.

    Eastman Johnson, Maisschälen, 1890.

    Öl auf Leinwand, 67,3 x 76,8 cm.

    Everson Museum of Art, Syracuse,

    New York, gestiftet von Andrew D. White.

    Eastman Johnson, Preiselbeerpflücker, c. 1879.

    Öl auf Pappe, 57,1 x 67,9 cm. Privatsammlung.

    Johnsons Glück bestand nun darin, dass seine Schwester Sarah den William Henry Newton heiratete, der seiner Braut seine Immobilieninvestitionen im oberen Mittelwesten zeigte. Johnsons Bruder Reuben war ebenfalls in Richtung Norden nach Superior, Wisconsin, gezogen, wo er ein Sägewerk eröffnet hatte. Die Tatsache, dass in jenen entfernten Gegenden bereits Verwandte wohnten, motivierte Johnson, mit Hilfe seiner Einkünfte aus der Porträtmalerei und einer Anleihe bei seinem Vater in die Wildnis zu ziehen und dort in Land zu investieren. Er verbrachte die Sommer der Jahre 1856 und 1857 malend in der Gegend des Lake Superior und in einer Hütte, die er an der Pokegema Bay errichtete.

    Er sicherte sich außerdem die Hilfe eines sowohl über afro-amerikanische als auch indianische Wurzeln des Stammes der Ojibwe verfügenden Führers namens Stephen Boonga und baute mit ihm ein Kanu, mit dem er zu vorgelagerten Inseln und zu den Städten Duluth und Superior paddelte. In Grand Portage machte Johnson Bekanntschaft mit den Ojibwe-Indianern und fertigte eine Reihe von Skizzen in Kohle und Öl an.[1]

    Im Jahr 1859 bediente Johnson sich seiner in Düsseldorf erlernten Fähigkeiten und kreierte sein erstes amerikanisches Genrebild, Leben im Süden (auch: Alte Heimat Kentucky). Bei genauem Hinsehen war dieses Gemälde nicht allzu innovativ. Es besteht im Wesentlichen aus einer Ansammlung von Porträts, die in eine Geschichte andeutenden Gruppen um eine malerisch verfallene Scheune und Sklavenunterkunft angeordnet sind. Das Bild ist insgesamt ein wenig kitschig, aber die Abbildung des umeinander werbenden Paares, der Sklavenkinder und ihrer zahlreichen Familienmitglieder – und sogar der weißen Frau, die die Szene durch ein Loch im Zaun beobachtet – ist durch eine erdverbundene Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Wieviel Süße dem Bild aber auch immer eigen ist, es gefiel den Südstaatlern, die es als eine idyllische Abbildung ihrer Welt deuteten, und gleichzeitig auch den Menschen im Norden, die das gesamte Übel der Sklaverei in das Gemälde hineinlasen. Auch wenn das Bild voller überzogener Emotionen war, so handelte es sich eindeutig um amerikanische Emotionen. Es war in jedem Falle gut genug, Johnson die Wahl in die National Design Academy von New York zu sichern.

    Johnson ging mit seinem Skizzenheft auch in den Bürgerkrieg und folgte der Unionsarmee in einer an heutige Kriegsfotografen erinnernden Weise. Das bekannteste Ergebnis dieser fünf Jahre währenden Zeit war sein Ölgemälde Der verwundete Trommeljunge.

    Während der folgenden 20 Jahre wurde Eastman Johnson zu einem regionalen realistischen Maler und beschränkte sich auf die Ostküste, wo er seine bedeutendsten Bilder schuf. Er pflegte eine gewisse Routine der Rückkehr in die Gegend seiner Kindheit in Fryeburg, Maine, und besuchte im Sommer regelmäßig Nantucket. Im Jahr 1869 heiratete er Elizabeth Buckley, 1870 wurde seine Tochter Ethel Eastman Johnson geboren. Viele seiner schönsten Bilder zeigen seine Frau und sein Kind in häuslicher Umgebung.

    Johnson erkannte im Osten etwas, das ihn befriedigte, und so sind all seine Genrebilder dieser Zeit durch eine deutlich wahrnehmbare Zufriedenheit gekennzeichnet. Wenn er während der 1860er Jahre nicht gerade der Potomac-Armee auf dem Fuß folgte, reiste er nach Neuengland. Nachdem er die Zerstörungen durch den Krieg aus nächster Nähe gesehen hatte, muss der gemütliche altmodische Charakter seiner Heimat wie eine Art Erholung gewirkt haben. Da im Krieg so viele junge Männer Uniform trugen und viele aus den Schlachten nicht zurückkehrten, blieben ihm nur die Alten, die Frauen und junge Menschen als Thema. Wo in seinen Bildern keine Menschen zu sehen sind, weisen die von ihnen hinterlassenen Werkzeuge und Behausungen deutliche Spuren des Gebrauchs und eines gewissen Zerfalls auf. Den Häusern mangelt es an ein wenig Farbe, es fehlen ein paar Steine in der Wand, die Feuerstelle ist verrußt oder ein Korbstuhl benötigt eine Reparatur.

    Eines seiner erfolgreichsten Genrebilder war das 1861 in der National Academy of Design in New York ausgestellte Maisschälen. Die Ausstellung eröffnete nur drei Wochen vor dem Bombardement von Fort Sumter und dem Beginn des Bürgerkrieges. Nicht weniger als 200 000 New Yorker kamen zum Union Square, um das Anliegen der Union zu unterstützen. Johnson bekannte sich in seinem Gemälde ebenfalls zur Union. Auf der Scheunentür sind die Worte „Lincoln and Hamlin" zu lesen, die auf Abraham Lincolns (1809 bis 1865) erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur und auf seinen Mitstreiter Hannibal Hamlin (1809 bis 1891) verweisen. Neuengland hatte sich in den Wahlen sehr deutlich für die Republikaner ausgesprochen, und Johnsons Bild war gleichzeitig ein subtiles politisches Plakat und ein Beispiel für gute Kunst.

    Johnson sah niemals die Notwendigkeit, sich auf die historischen Puritaner in Kniehosen oder auf alte Kutschen auf der Straße zurückzuziehen. Außer im Fall seines Gemäldes Alte Postkutsche skizzierte er zunächst einzelne Bildteile, die er dann in seinem Atelier zusammenfügte. Dieses Bild zeigt das Wrack einer Postkutsche ohne Achsen und Räder, das gerade von der lokalen Vegetation und der Witterung zurückerobert wird. Aber selbst diese traurige Erinnerung an die Vergangenheit wird durch die Rufe und Schreie der spielenden Kinder gewissermaßen ins Leben zurückgeholt. Die einen Jungen traben und galoppieren auf der Stelle, während andere imaginäre Peitschen knallen lassen und die Mädchen aus den Fenstern heraus die Landschaft betrachten. All diese Geschehnisse am Straßenrand finden unter der Sonne des späten Nachmittags statt und wirken so ungezwungen und natürlich, dass es unvorstellbar ist, dass dieser eingefangene Augenblick im Atelier aus verschiedenen Bestandteilen in Johnsons Vorstellungskraft zusammengesetzt worden sein könnte.

    All diese ländliche Romantik passte exakt zu dem wachsenden Bestreben der Menschen während und nach dem Bürgerkrieg, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und die in der vagen Erinnerung so unkomplizierten alten Tage wieder zum Leben zu erwecken. Kunst, Bücher, Theaterstücke – überall wurde die „gute alte Zeit" vor der Industriellen Revolution glorifiziert ohne überfüllte Städte, schwarzen Qualm ausstoßende Dampflokomotiven und mit dem Gestank von hunderten Plumpsklos an einem heißen Sommertag. Aber auch das in die Lampen zischende Kohlengas in den übervollen Wohnungen und der unleidige Geruch von Menschen, die nach viktorianischer Manier mehrere Kleiderschichten übereinander trugen und mit Düften den Geruch ihrer ungewaschenen Körper zu übertünchen versuchten, gehörten zu den Sehnsüchten. Die Bilder versprachen demgegenüber offene Landschaften, weite Räume, dichte Wälder und sich windende Bäche, den warmen, trockenen Geruch von Heu in einem Futtersilo und das plätschernde Rumpeln einer Wassermühle.

    Johnson nutzte seine Studien von Rembrandts Umgang mit dem Licht in Stichen und Ölgemälden und machte seine Bilder, vor allem jenen von Innenräumen, zu fein herausgearbeiteten Ansichten. Er kreierte Stimmungen und hauchte den rauen Lebensweisen aller Bevölkerungsschichten der damaligen amerikanischen Gesellschaft Leben ein. Er verlieh dabei selbst den profansten Motiven Charme und Eleganz.

    Buffalo Bill brachte seine Wild West-Schau auch in amerikanische Städte, nachdem er durch die Hauptstädte Europas getourt war und vor gekrönten Häuptern gespielt hatte. Seine Aufführung von Kämpfen zwischen Cowboys und Indianern und die Fähigkeiten seiner Reiter, Scharfschützen und Lassoschwinger verloren jedoch umso mehr an Relevanz, je mehr der alte Westen zu verschwinden begann. Das Land war zwar noch da, aber Eisenbahnen, der Telegraf und Unmengen Siedler hatten sein Gesicht verändert. Was früher Neuigkeiten gewesen waren, etwa Custers (1839 bis 1876) letzter Kampf, die Schlacht von Wounded Knee (1890) oder der Land- und Goldrausch, wurde nun zur bloßen Nostalgie.

    Auch die Genremalerei büßte ihre Popularität ein. Johnson bestritt sein Einkommen wieder mit Porträts, aber er bediente sich, wie die alten Männer um den Ofen im Gemischtwarenladen, bei seinen Erinnerungen. Er wollte z. B. unbedingt in einem großen Gemälde die Produktion von Ahornzucker darstellen. Er fertigte im Verlauf der Jahre eine ganze Reihe von Studien dieser für die Ostküste typischen Szene an, vollendete das Bild jedoch nie, weil das Interesse

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