Saigon - Ho Chi Minh-Stadt
Von Klaus H. Carl
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Buchvorschau
Saigon - Ho Chi Minh-Stadt - Klaus H. Carl
Ständiger Wandel
Saigon – ein Name, der an Kolonialzeiten, an Tragödien wie den Indochina- und den Vietnamkrieg, an die Zweiteilung eines Landes in Nord- und Südvietnam oder an flüchtende boat people und ihre leidvollen Schicksale erinnert. Es ist der weltweit bekannte Name einer Stadt, die, früher einmal „Perle des Orients oder „Paris des Ostens
genannt, heute unermüdlich dabei ist, diesen guten Ruf wiederherzustellen. Um es gleich vorwegzunehmen: Saigon ist nicht Ho-Chi-Minh-Stadt, sondern nur einer von mehreren Bestandteilen einer Verwaltungseinheit gleichen Namens mit fast sechs Millionen Einwohnern, in einem Gebiet von gut 2.000 km² Ausdehnung. Im weiteren Einzugsgebiet leben immerhin etwa 18 Millionen Einwohner. Zu dieser Verwaltungseinheit gehören auch Cholon (die mit Saigon zusammengewachsene frühere Chinatown), die Agrarbezirke Cu Chi (etwa 50 Kilometer westlich von Saigon) und Gia Dinh. Vor allem im Süden Vietnams sprechen alle nur von Saigon, auch wenn das Konglomerat Ho-Chi-Minh-Stadt gemeint ist. Um dies zu verstehen, muss man ein wenig in die jüngere Geschichte Vietnams zurückgehen. Ursprünglich war vorgesehen, die beiden Teilstaaten Nord- und Südvietnam nach dem Waffenstillstand von 1973 noch fünf Jahre lang eigenständig arbeiten zu lassen. Doch Flüchtlings- und Wirtschaftsprobleme in einer fast unregierbar gewordenen Region drängten die Regierung in Hanoi schneller als zuvor beabsichtigt in die Wiedervereinigung und in die 1976 stattfindenden Wahlen. Im Juli 1976 wurde das Land zur „Sozialistischen Republik Vietnam" erklärt und Saigon, lange schon unbestrittenes wirtschaftliches Zentrum Vietnams, wurde gleichzeitig zum Herzstück des Stadtstaates „Than Pho Ho Chi Minh".
1. Neujahrsluftballons.
2. Neujahrsglückwunschkarten.
3. Junge Vietnamesin mit ihrem Kind.
Saigon, als Gia Dinh erst 1674 von den Vietnamesen an der Stelle früherer Fischerdörfer der von ihnen vertriebenen Khmer am Song Sai Gon gegründet, in einer Tiefebene am nördlichen Rand des Mekong-Deltas und etwa 50 km vom Meer entfernt gelegen, ist eine vergleichsweise junge Stadt.
Ihre heutige Struktur erhielt sie von den Franzosen, die 1859 die von den Vietnamesen kaum verteidigte Zitadelle eroberten, zu ihrer Überraschung vom Kaiser Tu Duc auch noch die umliegenden Provinzen angeboten bekamen - ein Angebot, das eine Kolonialmacht einfach nicht ausschlagen konnte - und sogleich begannen, die Stadt nach dem Vorbild Paris mit breiten Alleen und Boulevards zu planen und auszubauen.
Die repräsentativen Gebäude wie Post, Oper, Rathaus und die natürlich als ‚Notre Dame‘ geweihte Kathedrale entstanden ebenfalls in dieser Zeit. Zunächst war Saigon nur Hauptstadt der Kolonie Cochinchina, später dann sogar Sitz der Kolonialregierung Indochinas, bis die Stadt im Frühjahr 1954, als das Genfer Abkommen das Ende des französischen Kolonialreiches in Indochina besiegelte, zur Hauptstadt der Republik Südvietnam erklärt wurde. Unter dem Einfluss der Amerikaner wandelte sich die Stadt in der Zeit des von den Vietnamesen leidenschaftlich geführten Vietnamkrieges - von ihnen ‚Amerikanischer Krieg‘ genannt - ein zweites Mal.
Zur Erholung der Soldaten benötigten die amerikanischen Streitkräfte Bars, Spielhallen, Supermärkte, Massagesalons und für alle Einrichtungen das entsprechende Personal, das, aus der gewachsenen Familienstruktur herausgerissen, aus dem Umland in dieses bald aus allen Nähten platzende vermeintliche Paradies strömte, in den am Stadtrand schnell errichteten, mehr Elendsvierteln gleichenden Unterkünften wohnte, um dann als Schuhputzer, Taxifahrer oder Dienstmädchen am Dollarsegen teilzuhaben. Tatsächlich aber gab es niemals mehr Bettler, Drogensüchtige und Prostitution als zu dieser Zeit, in der weit über die Hälfte der Bevölkerung von den Amerikanern, die hier eine komplette Garnisonsstadt einrichteten, gelebt hat. Die berühmte, schnurgerade vom Fluss zur Kathedrale führende Rue Catinat des ‚Paris des Ostens‘ verkam zur „Hure Vietnams", die Tu Do (Freiheit), die heutige Dong Khoi, wurde mit ihren hunderten Bars und Stundenhotels zur Amüsiermeile Saigons, die Stadt zum führenden, unumstrittenen Sündenbabel der Welt. Hotelbars waren Treffpunkte der Diplomaten, der internationalen Reporter und Journalisten und damit Nachrichtenbörsen, in denen Gerüchte zu Meinungen und wirkliche oder vermeintliche Tatsachen zu Dogmen wurden.
Dies änderte sich erst mit dem Abzug der Amerikaner und nach der Machtübernahme durch Nordvietnam im April 1975, als versucht wurde, das Problem der Übervölkerung Saigons - die Einwohnerzahl hatte sich nahezu verdoppelt - durch eine Zwangsumsiedlung zu lösen: Hunderttausende Saigoner wurden in bis dahin unerschlossene Gebiete des zentralen Hochlands und dort in eilends errichtete, kaum funktionsfähige „Neue Wirtschaftszonen" gebracht. Diese Aktionen scheiterten aber nicht nur an den fehlenden Starthilfen für die Umgesiedelten, sondern vor allem an der Bodenständigkeit der vietnamesischen Großfamilien und ihrem Ahnenkult.
4. Gebäude am Minh-Platz.