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Tripolis: Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt
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Tripolis: Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt
eBook435 Seiten5 Stunden

Tripolis: Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt

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Über dieses E-Book

Tripolis ist uralt und jung zugleich, eine Stadt mit Geschichte und ein Ort, an dem sich viele Lebenskonzepte kreuzen. Und die Stadt in Libanon gibt Antworten auf Fragen, die den Nahen Osten generell betreffen.
Was ist aus den Hoffnungen des arabischen Frühlings geworden? Wie instrumentalisieren Geopolitik, Geheimdienste und zynisches Machtkalkül den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten? Welche neuen Perspektiven eröffnen die gegenwärtigen Proteste, um Korruption und Wirtschaftsmisere zu überwinden? Monika Bolliger erzählt am Beispiel von Tripolis über die schmerzhaften Transformationen, die der Nahe Osten mit dem Einbruch der Moderne durchlief. Sie hat Gespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern geführt – mit einer Soziologin, die sich dem Patriarchat widersetzt, Salafisten, die Heil in der Frömmigkeit suchen, einem pensionierten Kommunisten, der der vergangenen Blütezeit der arabischen Linken nachhängt, jungen Frauen, die sich für ein pluralistisches Tripolis engagieren. So entsteht das vielfältige Porträt einer Stadt, das neue Perspektiven eröffnet, und gleichzeitig eines des Nahen Ostens mit all seiner Tragik, all seinen Problemen und all seinen Reichtümern.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum25. Nov. 2021
ISBN9783858699350
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    Buchvorschau

    Tripolis - Monika Bolliger

    Tripolis – eine Verortung

    Eine Stadt am Ostrand des Mittelmeers

    Bitterorangenbäume zieren die Hauptverkehrsachse, die den Hafendistrikt von Tripolis mit dem Stadtzentrum im Landesinneren verbindet. Inmitten von Verkehrslärm und Abgasen riecht es hier an einem Frühlingstag plötzlich nach Orangenblüten. Ein Mann mit schmuddeligen Kleidern und zerfurchtem Gesicht pflückt im Vorbeigehen eine Blüte von einem der Orangenbäume und riecht daran. Ein Motorrad fährt zwischen den Autos vorbei, der Fahrer hält in der einen Hand einen Strauß herzförmiger roter Luftballons.

    Am Horizont erhebt sich das schneebedeckte Libanongebirge. An einer Kreuzung weist ein Wegweiser mit der Aufschrift »Syrien« nach links, und einer mit der Aufschrift »Beirut« nach rechts. Die Wegweiser sind ein bisschen eine Metapher für die Identitätskrise von Tripolis, das nicht weiß, wo es hingehört, zu Libanon, zum benachbarten Syrien, zur arabisch-islamischen Welt?

    »Tripolis ist eine arabische Stadt«, betont der lokale Historiker Mahmoud Haddad. Ahmed Tamer, der Hafendirektor, sagt: »Früher war Tripolis kein Teil von Libanon. Der Hafen von Tripolis ist im Grunde ein syrischer Hafen.« Er spielt damit auf die historischen Handelswege an, die den Hafen mit dem syrischen Hinterland verbanden, und darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung von Tripolis bei der Staatsgründung Libanons zu Syrien statt zu Libanon gehören wollte.

    Libanon in den heutigen Grenzen ist gerade einmal hundert Jahre alt. Während vier Jahrhunderten war Tripolis Teil des Osmanischen Reiches. Die Hafenstadt stieg zum wichtigsten Handelsknotenpunkt zwischen dem Mittelmeerraum und Aleppo im heutigen Syrien auf. Tripolis – Alexandria – Marseille. Auf einem Blatt Papier zeichnet der Historiker Farouk Hoblos ein Dreieck mit diesen drei Hafenstädten am Mittelmeer als Eckpunkten, im Osten, Süden und Westen.

    Vor der osmanischen Herrschaft war Tripolis eine mamelukische Provinzhauptstadt. Beirut konnte damals nicht mithalten: »Ein Dorf!«, wie der lokale Historiker Omar Tadmori verächtlich ausruft. Vor den Mameluken hatten die Kreuzfahrer eine Grafschaft Tripolis begründet; Beirut schlugen sie dem Königreich Jerusalem zu.

    Die modernen Grenzziehungen der Kolonialmächte haben Tripolis auf einen Platz an der Peripherie Libanons verbannt und vom syrischen Hinterland getrennt, während das neue wirtschaftliche Zentrum Beirut zur Hauptstadt des heutigen Libanon geworden ist, dessen Grenzen 1920 durch die damaligen französischen Mandatsherren gezogen wurden. »Die Geschichte hat aus Tripolis das Gegenteil von dem gemacht, was es einmal war«, meint die Soziologin Nahla Chahal, die viel über den Wandel ihrer Stadt geschrieben hat.

    Heute ist Tripolis die ärmste Stadt Libanons und eine der ärmsten Städte des Mittelmeerraums. Schon bevor Libanon Ende 2019 auf den Staatsbankrott zusteuerte, waren über 50 Prozent der Stadtbevölkerung von einer halben Million arm. Der einst bedeutende Hafen von Tripolis ist nur noch einer von vielen Häfen an der östlichen Mittelmeerküste. Der Hafen war die Lebensader, die Quelle des wirtschaftlichen wie kulturellen Reichtums der Stadt. Von hier wurden Seide und Agrarprodukte über das Mittelmeer verschifft. Weil Zitronen hier früher im großen Stil für den Export auf Schiffe verladen wurden, heißt Zitrone im alten Tripolitaner Dialekt marakbeh, von markab, dem arabischen Wort für Boot. »Wenn immer es dem Hafen gut ging, ging es auch Tripolis gut – und umgekehrt«, sagt der Tripolitaner Schriftsteller Khaled Ziadé.

    Geografisch gehört Tripolis zur Levante, arabisch Bilad al-Sham, (»Land des Nordens« – von Mekka aus gesehen), manchmal auch »geografisches Syrien« genannt. Das Gebiet umfasst ungefähr die heutigen Staaten Syrien, Jordanien, Libanon und Israel-Palästina. In diesem Gebiet ähneln sich bis heute die arabischen Dialekte, die sozialen Umgangsformen, die Küche. Die Kultur ist mehr von urbanen Handelszentren und der Landwirtschaft geprägt als von nomadischen oder halbnomadischen Stammesverbänden, die das Leben auf der Arabischen Halbinsel stärker bestimmt haben.

    Als Verkehrsknotenpunkt an der Seidenstraße zwischen Europa und Asien gab es in der Levante einen intensiven kulturellen Austausch mit beiden Kontinenten, der manchmal friedlich durch die Kaufleute geschah und manchmal kriegerisch mit den Heeren von Eroberern kam. Von der Levante aus verbreitete sich vor mehreren Tausend Jahren der Olivenbaum im übrigen Mittelmeerraum. Die Levante ist ebenso eine Erbin der griechisch-römischen Antike, wie sie Teil islamischer Reiche war. Die monotheistischen Buchreligionen haben hier ihren Ursprung, und die Ausbreitung des Christentums begann in diesem Teil der Welt, ehe muslimische Heere das Gebiet eroberten. Dazwischen hinterließen die Kreuzfahrer hier ihren Fußabdruck, und im letzten Jahrhundert die europäischen Kolonialmächte.

    Was Tripolis mit vielen Städten der Levante an architektonischen Merkmalen gemein hat, ist neben den historischen Souks der charakteristische Uhrturm, den die Osmanen 1906 etwas außerhalb der mittelalterlichen Altstadt im damals neuen Stadtzentrum errichteten – anlässlich des Jubiläums der dreißigjährigen Herrschaft von Sultan Abdul Hamid II. Ähnliche Uhrtürme wurden in vielen anderen Städten des Osmanischen Reiches errichtet, etwa in Aleppo, Beirut, Hama, Jaffa oder Nablus. Sie standen für die Modernisierung; die Menschen sollten sich an einer präzisen Uhrzeit orientieren anstatt traditionell an den Gebetszeiten, die sich nach dem Sonnenstand richteten.

    Eine anekdotische Gemeinsamkeit konservativer, mehrheitlich sunnitischer Städte der Levante – Nablus in Palästina, Hama in Syrien oder Tripolis in Libanon – scheint heute die Vorliebe für Süßigkeiten zu sein. In Tripolis’ Qasr al-Helou, dem »Palast der Süßigkeiten«, geben sich Kinder und Erwachsene den Gaumenfreuden von Pistazien-Baklava oder mit Quark gefüllten und Rosensirup beträufelten Teigrollen hin. Manche sagen, hier gebe es die besten Süßigkeiten der ganzen arabischen Welt. Vielleicht ist der ausschweifende Genuss von Süßigkeiten eine etwas spießige Art, sich einer Leidenschaft hinzugeben, wenn andere Laster aus religiösen Gründen verpönt sind.

    Die Geschichte der Levante ist Teil der Geschichte des Mittelmeerraumes. Ihr Schicksal ist mit dem Schicksal Europas verknüpft. Das jüngste Beispiel dafür sind die Geflüchteten, die in Booten über ebendieses Mittelmeer nach Europa zu gelangen suchen. Heute ist weitgehend vergessen, dass während des Zweiten Weltkrieges Zehntausende aus Europa in Ägypten, Palästina oder Syrien Zuflucht fanden.

    Für mich steht die Levante auch für ein Lebensgefühl, das sich im Alltag äußert, in spontanen Gesprächen mit Fremden, in der großzügigen Gastfreundschaft und einem schwarzen Humor, mit dem man politische Situationen kommentiert, die einen eigentlich in die Verzweiflung treiben müssten. Man verirrt sich nie lange, weil immer jemand Zeit findet, um einem den Weg zu zeigen. Ich verbinde die Levante mit einer alltäglichen Improvisationsfähigkeit oder damit, dass man nie hungrig wird, weil man an jeder Ecke verlockende Imbissbuden findet.

    Es sind die Stunden, die man spontan mit Freunden in einem Café verbringen kann, ohne dass man sich im Voraus verabredet hätte. Vielleicht bestellt man eine Wasserpfeife, einen Schwarztee mit frischen Pfefferminzblättern, einen arabischen Kaffee oder einen italienischen Espresso, vielleicht spielt man eine Runde Backgammon, vielleicht sitzt man einfach zusammen. Manche kennen ein ähnliches Lebensgefühl vielleicht aus Süditalien oder Spanien – aus dem mediterranen Europa eben.

    Tripolis, das sind eigentlich zwei Städte, die zusammengewachsen sind. In Mina (arabisch für Hafen), das bis heute eine eigene Stadtverwaltung hat, entstand an der Küste vor Jahrtausenden eine erste urbane Siedlung – unter den Häusern von Mina liegt das phönizische und griechische Erbe von Tripolis begraben. Als im Mittelalter die Mameluken Tripolis von den Kreuzfahrern erobert hatten, bauten sie ein neues Stadtzentrum im Landesinnern, unterhalb der Zitadelle, welche die Kreuzfahrer einst zur Belagerung der Stadt errichtet hatten.

    Früher trennten weitläufige Orangenhaine den Hafendistrikt von der Innenstadt von Tripolis. Für den Bau moderner Wohnhäuser pflügte man in den sechziger Jahren die Orangenhaine um, die Mina von der Innenstadt trennten. Wegen des Duftes der Orangenbäume im Frühling nannte man Tripolis al-faiha’, »die Parfümierte«. Aus ihren Blüten stellt man Orangenwasser her, das für Süßigkeiten oder ein »weißer Kaffee« genanntes heißes Getränk verwendet wird. Die Soziologin Nahla Chahal erinnert sich daran, wie sie als Kind mit ihrer Familie an Wochenenden durch die Orangenhaine zum Meer spazieren ging. Heute trauern viele den Orangenplantagen nach. »Es gibt keinen einzigen Orangenbaum mehr!«, ruft Bilal Mohsen aus, Romanfigur im Tripolis von Jabbour Douaihys Le Quartier américain, als er seinem Sohn die Stelle zeigt, wo er einst im Bürgerkrieg syrischen Soldaten aufgelauert hat.

    Tripolis und Mina sind zwei historisch gewachsene Stadtzentren, die sich bis heute eine unterschiedliche Identität bewahrt haben. In der Altstadt von Tripolis fühlt man sich syrischen Binnenstädten wie Homs, Damaskus oder Aleppo nahe. Historisch haben die Städte viel gemeinsam. Alle waren sie Handelsstädte und administrative Zentren im Osmanischen Reich mit einer lokalen, sunnitisch-dominierten Elite von Notabeln und Statthaltern, die zum geografischen Syrien oder Bilad al-Sham gehörten.

    Durch seine geografische Nähe zu Homs und die Handelswege, welche die Stadt mit Aleppo verbanden, war Tripolis ein integraler Teil des syrischen Wirtschafts- und Kulturraumes. Und so fühlt man sich bei einem Spaziergang durch den Souk von Tripolis unweigerlich an die Souks von Aleppo oder Damaskus erinnert.

    Das Hafenviertel Mina lässt eher an einen italienischen Küstenort denken. Da sitzen die Männer auf Stühlen vor ihren Häusern entlang enger Gassen oder in ihrem Stammcafé und beobachten Passanten und Passantinnen, während die Jüngeren in Autos mit aufgedrehten Lautsprechern der Küste entlangfahren. An lauen Sommerabenden treffen sich Großfamilien in den Restaurants und essen Fisch und Mezze, Variationen von Vorspeisen, die im östlichen Mittelmeerraum Tradition haben und bei denen meist Olivenöl eine wichtige Zutat ist.

    Zahlreiche Restaurants in Mina servieren auch Alkohol, vor allem da, wo die lokale christlich-orthodoxe Gemeinde verwurzelt ist; in der Innenstadt von Tripolis hingegen ist der Verkauf von Alkohol heute nicht mehr üblich. An der Monot-Straße, einer kleinen Flaniermeile in Mina – es ist die einzige in der Stadt –, reihen sich einige Pubs und Bars aneinander. Am Abend füllen sich die Tische entlang dieser Gasse; Nachbarn treffen sich auf ein Bier oder einen Whisky.

    Gesprächspartner aus dem Hafenstädtchen Mina sehen sich gerne als progressiver an als ihre Mitbürger in Tripolis im Landesinneren. Sie heben die Koexistenz von Christinnen und Musliminnen hervor. Der christliche Anteil der Bevölkerung ist tatsächlich höher als in der Innenstadt. »Wir wollen, dass die Leute hier trinken oder beten können und dass alle frei sind«, sagt Elie Diab, ein lokaler Geschäftsmann. In Mina tragen die Männer im Sommer demonstrativ kurze Hosen, was in der islamischen Kultur verpönt ist.

    »In Tripolis schauen sie mich komisch an, wenn ich mit Shorts komme«, sagt der Bürgerrechtler und Universitätsprofessor Samer Annous, der in Mina wohnt. Bewohnerinnen behaupten, Mina sei weltoffener, weil es am Meer liege. Tripolis, so findet Samer Annous, sei verschlossener. Als ob es sich vor dem Meer und der Öffnung zur Welt fürchte. Historisch sei die Stadt im Landesinnern aus Angst vor dem Meer entstanden – um sich besser vor einem möglichen Angriff der Kreuzfahrer von dort aus schützen zu können.

    Man täte der Stadt aber Unrecht, spräche man von einem einfachen Gegensatz zwischen einem weltoffenen Mina am Meer und einem konservativen, engstirnigen Tripolis im Landesinneren und führte das auf eine historische Kontinuität zurück. So gab es in der Innenstadt von Tripolis früher ein reges Kulturleben, Kinos, Buchhandlungen und sogar Cabarets. Man fühlt sich dort auch heute noch wie in einer richtigen Stadt. Mina hingegen hat ein bisschen Dorfcharakter mit seinen Vierteln, in denen alle einander kennen und Fremde sofort ausgemacht werden.

    Mit der Verarmung von Tripolis, der Abwanderung von großen Teilen des lokalen Bürgertums und der Zunahme konservativer Religiosität, befeuert von Krieg, Geopolitik und von sozioökonomischen Problemen, hat das Kulturleben gelitten. Von einst etwa dreißig Kinos der Stadt ist heute keines mehr regulär in Betrieb. Immerhin öffnete eines von ihnen bis zur Pandemie seine Türen für ein jährliches Filmfestival.

    Der letzte große Entwicklungsschub in Tripolis liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. In den sechziger Jahren versuchte die libanesische Führung, die notorisch unzufriedene zweitgrößte Stadt des Landes wirtschaftlich aufzuwerten. Damals herrschte in der ganzen Region Aufbruchsstimmung. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser hatte eben die Suezkrise zu seinen Gunsten entschieden, und es formierte sich eine neue internationale Bewegung, die eine Emanzipation der Länder des sogenannten globalen Südens vom Imperialismus versprach und sich dem Panarabismus verschrieb, der Idee einer großen, geeinten arabischen Nation. Tripolis erlebte wie andere Städte der Region einen kosmopolitischen Aufschwung.

    In jener Zeit begann der Bau des Messegeländes von Tripolis, das niemand geringerer als der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer entworfen hatte, ein überzeugter Kommunist. Benannt ist es nach Rashid Karami, einem Spross der einst führenden Notabelnfamilie von Tripolis, der insgesamt achtmal Ministerpräsident Libanons war.

    Rashid Karami kam 1987 bei einem Anschlag ums Leben. Er war eine von vielen libanesischen Führungsfiguren, die einem Attentat zum Opfer fielen. Das Messegelände, nie richtig fertig gebaut, ist heute im Verfallen begriffen. Unter anderem lag das am Bürgerkrieg, der zwischen 1975 und 1990 im Land wütete. Inkohärente Budgets, technische Probleme und Korruption hatten schon zuvor den Bau verzögert, dessen Vollendung ursprünglich für 1966 geplant war. Im Bürgerkrieg quartierten sich Milizen auf dem Areal ein und dann die syrische Armee, die nach dem Krieg bis 2005 als Besatzungsmacht im Land bleiben sollte. In einer Ecke des Messegeländes, so erzählen Bewohner, hätten Schergen des syrischen Regimes Menschen exekutiert.

    Eigentlich ist das Areal für Besucherinnen geschlossen. Doch wenn man Glück hat, lässt einen der Wächter am Eingang trotzdem hinein. Es ist mit Abstand die größte Grünfläche in einer libanesischen Stadt; in Beirut sind selbst kleine Parks kaum zu finden. Auf über siebzig Hektaren erstreckt sich das Gelände. Zwischen Gartenanlagen stehen da ein großer Messepavillon und ein unfertiges Museum unter Spitzbogenarkaden, ein Beispiel dafür, wie die moderne Architektur traditionelle arabische Elemente aufgreift. Man findet ein experimentelles Theater, das ein bisschen wie ein Ufo aussieht, mit einer Kuppel aus Beton. Die Tribüne ist in den Boden versenkt, und Stufen mit Sitzreihen führen hinunter. Wer etwas hineinruft oder auf den Boden stampft, löst ein irres Echo aus, das einem Gänsehaut über den Körper jagt. Weiter hinten auf dem Gelände führt eine Brücke zu einer Freilichtbühne mit wiederum gestuften Plastiksitzreihen unter einer riesigen Betonarkade.

    Es ist ein faszinierendes architektonisches Denkmal und wäre ein öffentlicher Raum, der seinesgleichen sucht. Doch die Kosten für eine Restaurierung wären hoch – geschätzt vierzig Millionen US-Dollar –, und bisher will sie niemand übernehmen.

    Am Rand des Messegeländes steht heute das Quality-Inn-Hotel, dessen Lobby trotz stolzer Zimmerpreise wie die eines heruntergekommenen Provinzhotels aussieht. Manchmal werden hier politische Delegationen einquartiert und Konferenzen veranstaltet, nicht weil das Hotel mit Qualität seinem Namen gerecht würde, sondern eher weil es keine Alternative gibt und immer jemand jemanden kennt, der irgendwelche Deals einfädelt.

    Dennoch läuft das Hotel schlecht. Die Verwaltungsbehörde des Messegeländes wollte es 2019 mit Verweis auf Vertragsablauf und ausstehende Schulden seitens des Hotelbetreibers unter ihre Kontrolle bringen. Der Betreiber wirft jedoch der Behörde vor, sie habe ihren Teil des Vertrags nicht eingehalten, der sie zur Instandhaltung des Hotels und des Messegeländes sowie zur regelmäßigen Veranstaltung internationaler Messen verpflichtet hätte. Er habe das Hotel mit Gewalt unter seine Kontrolle zurückgebracht, sagen Bewohner. Der Konflikt um das Hotel ist beispielhaft für die Misswirtschaft und die bisweilen mafiösen Vorgänge in der lokalen Geschäftswelt.

    Der Krieg von 1975 bis 1990 setzte nicht nur dem Ausbau des Messegeländes ein Ende. Die Ölraffinerie beim Hafen wurde durch Artilleriefeuer zerstört. Auch die Eisenbahn liegt seither still – neben der Raffinerie steht ihr zerfallender Bahnhof. Essenzielle Dienstleistungen wie die Stromversorgung wurden seither kaum ausgebaut, denn die Politik ist meist vom Machtgerangel der einstigen Warlords und ihrer Verbündeten, die heute das Land regieren, paralysiert.

    Wirtschaftlich ist Tripolis von Syrien abhängig; dorthin geht die einzige Landverbindung neben der nach Beirut. Doch die Beziehungen zum Nachbarland waren schon bald nach der Grenzziehung zwischen den beiden Ländern von politischen Krisen und der Einführung von Zöllen belastet und heute vom Krieg, der in Syrien seit zehn Jahren tobt.

    Tripolis hat aber ironischerweise durch seine periphere Lage und seine wirtschaftliche Isolation sein Kulturerbe verhältnismäßig besser bewahrt als Beirut, das im Bürgerkrieg viel stärker beschädigt wurde. Dort verlief die einstige »grüne Linie«, die Libanons Hauptstadt während des Bürgerkrieges in einen christlichen Ost- und einen mehrheitlich muslimischen Westteil spaltete, mitten durch das historische Stadtzentrum.

    Stadtbewohnerinnen erzählen, dass der Beiruter Souk bei Kriegsende noch relativ intakt gewesen sei, dass er aber unmittelbar danach dem Erdboden gleichgemacht worden sei – vermutlich, weil jemand eine Investitionsgelegenheit im Rahmen des Wiederaufbaus sah. Seit Ende des Krieges hat die ungezügelte Immobilienspekulation Beirut bis aufs Unkenntliche verändert. Wohnhäuser mit kunstvollen Spitzbogenfenstern und ornamentierten Plattenböden, die im Krieg dem Zerfall überlassen waren, mussten eilig hingeklotzten Hochhäusern weichen. Im komplett neu gebauten glitzernden »Souk« von Beirut bieten internationale Labels Designermode für Reiche an. Es sind dieselben Labels, die man überall auf der Welt an jeder beliebigen Einkaufsstraße für gut Betuchte findet.

    Der Tripolitaner Souk aus mamelukischer Zeit hat den Bürgerkrieg und die Immobilienspekulation überlebt und wurde vor ein paar Jahren sogar restauriert – allerdings nicht sorgfältig, wie Bewohner murren. Im Zentrum von Tripolis stehen bis heute viele Häuser mit prunkvollen, von der italienischen Renaissance inspirierten Fassaden. Es ist gar kein Geld da, um an ihrer Stelle etwas Profitableres zu bauen. Die Gebäude sind jedoch in einem beklagenswerten Zustand.

    Bewohnerinnen fühlen sich mit dem historischen Erbe durchaus verbunden. Eine Facebook-Gruppe, deren Mitglieder regelmäßig historische Fotos von Tripolis und Aufnahmen historischer Gebäude posten, erfreut sich großer Beliebtheit. Aber niemand lebt gerne in Armut und mit schlechter Infrastruktur. So nähren die zerfallenden Prunkbauten die allgegenwärtige Nostalgie.

    Die Sehnsucht nach einer vergangenen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Blüte ist im Nahen Osten verbreitet, und in Tripolis ganz besonders. Ein Grund dafür mögen die schiere Geschwindigkeit und die Brutalität sein, mit der die Moderne in die Region eingebrochen ist. Der heutige Staat Libanon ist erst seit etwas über 75 Jahren unabhängig. Der Prozess der Modernisierung setzte im Wesentlichen erst vor zweihundert Jahren ein und stand unter dem Einfluss europäischer Kolonialmächte, die in der Region um Macht buhlten.

    Mit der Moderne verbinden deshalb viele auch ein Gefühl der Fremdbestimmung. Es wäre zwar absurd, wollte man bestreiten, dass viele Probleme der Region hausgemacht sind. Aber im letzten Jahrhundert wurde an Orten wie Paris, London, Washington oder Moskau kräftig über das Schicksal des Nahen Ostens mitentschieden.

    Die Kolonialzeit ist nur ein Beispiel dafür, ein anderes wäre der Kalte Krieg, der in diesem Teil der Welt oft ein heißer Krieg war. Die globale Geopolitik oder die Rivalität zwischen den nordatlantischen Alliierten und der Sowjetunion verwandelte in der Zeit viele Konflikte des Nahen Ostens in sogenannte Stellvertreterkriege, wobei die Bewaffnung und Unterstützung lokaler Konfliktparteien für die Großmächte der Wahrung des eigenen Einflusses in der Region diente – so auch in Libanon.

    In Tripolis ist die Sehnsucht nach der Vergangenheit auch mit dem Traum vom Anschluss an die Region, von der Überwindung der kolonialen Grenzen und davon, erneut zu einer bedeutenden Hafenmetropole aufzusteigen, verbunden. Einst identifizierte sich Tripolis vor allem mit dem Arabertum oder mit Syrien. In jüngerer Zeit haben Bewohnerinnen der Stadt vermehrt im Islam ein Banner für ihre Identität gefunden. Eine Skulptur in Form des arabischen Wortes allah für Gott, die Fundamentalisten während des Bürgerkrieges in den achtziger Jahren in der Stadt errichteten, wird man heute nicht mehr los; Versuche, das Wort »Gott« zu entfernen, lösen Proteste aus, denen sich in der mehrheitlich religiös-konservativen Stadt niemand offen zu widersetzen wagt.

    Auf dem Höhepunkt der kriegerischen Auseinandersetzungen im benachbarten Syrien wehte bei der Allah-Skulptur auch die schwarze Flagge des syrischen al-Qaida-Ablegers. Doch heute gibt es für diese Art von Sympathiebekundungen keinen Raum mehr. Aufständische und jihadistische Gruppen wurden aus dem Grenzgebiet zu Syrien vertrieben, während in Tripolis zahlreiche tatsächliche wie mutmaßliche Unterstützer im Gefängnis verschwanden.

    »Natürlich gingen sie zum Kämpfen nach Syrien, als dort rebelliert wurde, natürlich wollten sie sich Nasser anschließen, als eine arabische Einheit bestand. In der kollektiven politischen Imagination war Tripolis einst eine nasseristische Stadt; es gab für sie keinen Anführer außer Nasser. Jetzt weiß sie nicht mehr, wer sie ist oder zu wem sie gehört«, sagte die Soziologin Nahla Chahal in einem Gespräch 2017 über die Marginalisierung ihrer Heimatstadt und deren Streben nach regionalem Anschluss.

    In den Jahren nach dem Arabischen Frühling von 2011 breitete sich Resignation aus, in Tripolis, wie in vielen anderen Teilen der arabischen Welt. Nachdem die Volksaufstände fast überall entweder durch brutale Militärapparate erstickt worden waren oder sich mit dem Zutun der Regime in Bürgerkriege verwandelt hatten, war keine Kraft mehr da.

    Dann geschah das Unerwartete. Als sich die libanesische Bevölkerung im Herbst 2019 gegen die bestehenden Verhältnisse erhob, überschwemmte ein Meer von libanesischen Flaggen die Straßen und Plätze von Tripolis. Weder die Flaggen politischer Parteien noch islamistischer Bewegungen waren zu sehen. Die Menschen waren aktiv geworden und forderten politische Veränderungen – und zwar im Rahmen des libanesischen Nationalstaates. Tripolis schien sich endlich mit seiner libanesischen Identität versöhnt zu haben, just in dem Moment, da sich das Land auf den Abgrund zubewegte.

    Wo liegt der Nahe Osten?

    Ein geografisch vage definiertes Gebiet

    Für viele ist der »Nahe Osten« ein Begriff, der ein scheinbar klar definiertes Gebiet bezeichnet. Man denkt dabei vielleicht an endlose Konflikte, an das Heilige Land, an eine muslimisch-arabische Region, an Religiosität und Fanatismus oder an frauenfeindliche Gesellschaften. Wenn ich fremden Menschen erzähle, was mein Beruf ist, fragen sie oft als Erstes, wie das denn als Frau sei und ob ich »dort unten« ein Kopftuch trüge.

    Meistens trage ich kein Kopftuch. Gesetzlich vorgeschrieben ist es ja nur in Iran, der einzigen islamischen Republik in der Region. In Beirut überbieten sich manche Frauen mit tiefen Dekolletés und kurzen Miniröcken, was die Macher der US-amerikanischen Fernsehserie »Homeland« freilich nicht davon abhielt, dort auch der amerikanischen Heldin der Serie ein Kopftuch umzulegen. Zugleich sagt die Kleidung wenig darüber aus, wie patriarchal eine Gesellschaft ist, denn rechtlich sind die Libanesinnen ähnlich diskriminiert wie Frauen in anderen Ländern der Region. Aber von welcher Region ist hier eigentlich genau die Rede?

    Geografisch ist der Nahe Osten gar nicht so einfach zu bestimmen. In der Regel umfasst die Region, auch Mittlerer Osten (englisch »Middle East«) genannt, die Länder der Levante – Syrien, Libanon, Israel und die palästinensischen Gebiete, manchmal die Türkei –, Iran, den Irak, Jordanien, die Arabische Halbinsel – Saudi-Arabien, Jemen und die kleinen Golfmonarchien – und Ägypten. Manchmal sind die Maghreb-Staaten Nordafrikas und Lybien mitgemeint, obwohl der Maghreb nun gar nicht im Osten liegt – auf Arabisch heißt maghreb »wo die Sonne untergeht«, also Westen.

    Die USA unter George W. Bush führten 2004 den Begriff »Greater Middle East« ein, ein Jahr nach dem Einmarsch im Irak. Das geschah im Rahmen einer Initiative, die angeblich Reformen und Demokratisierung in mehrheitlich muslimische Länder von Nordafrika über den Sudan bis in die Levante, nach Afghanistan und nach Pakistan bringen sollte.

    Der Nahe Osten ist kein Kontinent wie Europa. Wir zählen Länder von Westasien ebenso wie welche von Nordafrika dazu. Es sind zwar mehrheitlich arabisch-muslimische Länder. Dennoch sind weder alle Länder mit muslimischer Mehrheit inbegriffen, noch sind alle dazugehörigen Länder arabischsprachig.

    Die arabische Sprache ist sicher prägend für die Region. Insbesondere im Arabischen Frühling 2011 haben die Protestbewegungen verschiedener arabischsprachiger Länder einander inspiriert. Daneben gibt es aber eine Vielzahl anderer Identitäten. Im Irak benutzt eine junge Generation sumerische Symbole in Abgrenzung von der iranischen und arabischen Einmischung in ihrem Land. Sudanesinnen betonen ihre afrikanische Identität, weil sie mit der Intervention der arabischen Nachbarn und der islamistischen Politik des gestürzten Langzeitherrschers Omar al-Bashir schlechte Erfahrungen gemacht haben. Als Besucherin in Iran wird einem oft unaufgefordert erläutert, dass die Perser den Arabern zivilisatorisch haushoch überlegen seien und dass Iran wenig mit dem arabischen Nahen Osten gemein habe. Viele Libanesinnen fühlen sich Europa kulturell näher als ihren arabischen Nachbarn. In Damaskus braucht es nicht viel, um einer Gesprächspartnerin eine Tirade über die angeblich rückständigen Saudis zu entlocken.

    Die Religion des Islam und ihr Kulturerbe sind auch prägende Faktoren der Region, für Muslime wie für Minderheiten. Viele Musliminnen finden positive, einigende Elemente der Identifikation im Islam. Minderheiten grenzen sich oft von der Mehrheitsreligion ab. Doch auch der islamische Kulturraum ist nicht deckungsgleich mit dem geografischen Gebiet des Nahen Ostens; man denke daran, dass Indonesien mit über zweihundert Millionen Einwohnerinnen weltweit das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung ist. Im Zeitalter der Globalisierung verfließen die Grenzen ohnehin mehr denn je.

    Der Nahe Osten ist auch kein politischer Zusammenschluss. Vielmehr haben die Beziehungen unter den verschiedenen Ländern oft feindseligen Charakter. Auf wirtschaftlicher Ebene ist die Region schlecht integriert. Laut dem Economist vom 22. Februar 2020 exportieren arabische Länder nur 16 Prozent ihrer Güter in andere Länder der Region – während die Quote unter asiatischen Staaten 52 Prozent beträgt und innerhalb der Europäischen Union 63 Prozent.

    Das Gebiet ist auch nicht durch eine gemeinsame Geschichte definiert, die älter als ein Jahrhundert ist. Das letzte große islamische Imperium, das bis 1918 Bestand hatte, war das Osmanische Reich. Aber die Balkanländer, die einst dazu gehörten, zählen nicht zum heutigen Nahen Osten. Andere Länder, die nicht von den Osmanen beherrscht wurden, Teile der Arabischen Halbinsel oder Iran etwa, werden hingegen mitgerechnet. Was also macht den Nahen Osten zur Region?

    Der Ursprung des englischen »Middle East« geht in die Zeit des britischen Imperialismus zurück. Es taucht im britischen Sprachgebrauch um 1900 auf, in Zusammenhang mit der Kolonie in Indien oder mit britischen Interessen am Persischen Golf – beziehungsweise am Arabischen Golf, nach arabischer Auffassung. Daneben gab es im Englischen auch den Begriff »Near East«. Etabliert waren die Begriffe damals aber nicht; noch die Karte des Sykes-Picot-Abkommens¹ von 1916 trug den Titel »Karte der Osttürkei in Asien, Syrien und Westpersien«.

    Erst in den sechziger Jahren, während des Kalten Krieges, fiel im Englischen die Definition von »Near East« mit der Definition von »Middle East« zusammen. Die beiden Begriffe bezeichneten praktisch ausschließlich Länder mit muslimischen Mehrheiten. Der Begriff trennt den Kulturraum des Mittelmeers in eine nördliche und eine südliche Hälfte, einen Teil mit christlicher und einen Teil mit muslimischer Mehrheit, Europa und den Rest. »Middle East« bezeichnete ein Gebiet, das im Zentrum geopolitischer Machtkämpfe zwischen den nordatlantischen »westlichen« Mächten und dem sowjetisch angeführten Ostblock stand.

    Insbesondere aus US-amerikanischer Sicht war der Middle East schon früh negativ konnotiert – von der Ölkrise über die Geiselnahme auf der amerikanischen Botschaft in Teheran bis zu den Anschlägen auf amerikanische Truppen in Libanon. Für die USA war diese Weltgegend ein feindseliger Ort, dem sie jedoch nicht den Rücken kehren konnten, zumal sie eine Zunahme von sowjetischem Einfluss verhindern, den Zugang zu Erdöl sichern und ihre israelischen Verbündeten unterstützen wollten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste der islamische Fundamentalismus den Kommunismus als wichtigstes Feindbild für die USA und ihre Verbündeten ab. Einst hatten sie Islamisten als Gegengewicht zu kommunistischen Bewegungen in der Region unterstützt. Nun, nach Ende des Kalten Krieges, folgte der sogenannte »Krieg gegen den Terror«.

    »Gott schuf den Nahen Osten und sagte: Es werde Breaking News!« So betitelte der libanesisch-britische Komiker und Architekt Karl Sharro sein satirisches Buch. Tatsächlich scheint die so vielseitige Region des Nahen Ostens vor allem den Ruf einer Region von Konflikten zu haben. Doch Gewalt ist keine historische Konstante, und Europa kann mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg in der Rangliste von Regionen, in denen es in der Moderne zu Gewaltexzessen kam, durchaus mithalten.

    Vielleicht eint die Länder des Nahen Ostens, dass sie im Fokus rivalisierender Hegemonialpolitik stehen. Mit dem Kalten Krieg und dem globalen Wettrüsten stiegen die globalen Waffenexporte um mehr als das Doppelte über einen Zeitraum von nur zehn Jahren, 1972 bis 1982, wie der Konfliktforscher Jacob Mundy festhält. 1982 gingen, laut Mundy, ganze 42 Prozent der weltweiten Waffenlieferungen in den Nahen Osten, wo die verfeindeten Weltmächte um Einfluss und Verbündete buhlten.

    Seit den siebziger Jahren fanden 40 Prozent aller internationalisierten Bürgerkriege, also lokalen Konflikte, in die sich internationale Mächte einmischen, im Nahen Osten statt. Die Region wurde zu einem Brennpunkt der Instabilität, was die Ölpreise in die Höhe trieb. Die führenden Waffenexporteure sind bis heute die nordatlantischen Mächte und ihr geopolitischer Rivale Russland. In jüngster Zeit sind die USA in der Region weniger direkt involviert. Ihre lokalen Verbündeten wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate versuchen sich selbst vermehrt in Führungsposition zu bringen. Die Emirate sind besonders ambitioniert; sie haben unlängst offizielle Beziehungen mit Israel aufgenommen. In Kooperation mit den USA unternehmen sie Militäreinsätze gegen al-Qaida im Jemen.

    Neben den Rivalitäten der Weltmächte hat sich im Nahen Osten auch eine regionale Politik der Einmischung etabliert. Zuletzt hat sich das im Arabischen Frühling von 2011 gezeigt, als in vielen arabischen Ländern Volksbewegungen den Sturz ihrer Regime forderten, inspiriert von der Jasminrevolution in Tunesien. In der Folge gab es eine Reihe von Interventionen, direkt und indirekt, militärisch oder finanziell, von regionalen Rivalen, die versuchten, die Umbrüche zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das führte mitunter zu Stellvertreterkriegen. So hat die iranisch-saudische Rivalität Bürgerkriege und lokale Konflikte angeheizt. Diese Rivalität hängt letztlich auch mit der US-amerikanischen Hegemonialpolitik zusammen, die unter anderem darauf ausgerichtet ist, Iran zu schwächen. Hegemoniale Politik hat die Entstehung des Nahen Ostens entscheidend geprägt und bestimmt die Geschicke in der Region bis heute.

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