Bye bye, Balu: Ich war ein deutsches Schneewittchen in St. Petersburg
Von Helga Winkler
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Über dieses E-Book
Sie erlebte mit, wie rasant sich die Stadt an der Newa im Laufe dieser Jahre in eine pulsierende Metropole verwandelte.
Sie begleitete den Begründer der russischen Hospizbewegung, von seinen Freunden Balu genannt, bei seiner Arbeit im Hospiz am Stadtrand von St. Petersburg. Mit Hilfe von Spenden kaufte sie einen dringend benötigten Krankenwagen und überführte ihn über die Ostsee nach St. Petersburg.
In welch bewegende, aber auch kuriose Situationen sie so manches Mal bei ihren Hilfsprojekten und Besuchen geriet, schildert sie mit unterhaltsamen Worten. Sie berichtet von den unkonventionellen Therapien, die Balu entwickelte, um den sterbenskranken Patienten ihren letzten Lebensabschnitt zu erleichtern.
Und sie erzählt, wie ihre russischen Freunde den deutschen Alltag wahrnahmen, wenn sie zum Auftanken bei ihr in Deutschland zu Gast waren.
Diese zu Herzen gehende Autobiografie, mit der die Autorin einen ihrer wichtigsten Lebensabschnitte schildert, ist nicht nur für Menschen interessant, die in der Hospizbewegung tätig sind. Sie berührt auch diejenigen Leser, die die deutsch-russischen Begegnungen und Freundschaften in friedlichen Zeiten erlebt haben und diese nun schmerzlich vermissen.
Helga Winkler
Helga Winkler, geb. 1948 in einer Kleinstadt an der Nordsee, lebte und arbeitete von 1989 bis 2006 in einer internationalen Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main. Daneben engagierte sie sich ehrenamtlich und eigenverantwortlich im sozialen und kulturellen Bereich und stieß erfolgreich mehrere gemeinnützige Projekte an. Sie lebt und arbeitet mit ihrem Mann in der Nähe ihrer Tochter und deren Familie in der Region Hannover.
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Buchvorschau
Bye bye, Balu - Helga Winkler
Die Autorin
Helga Winkler, geb. 1948 in einer Kleinstadt an der Nordsee, lebte und arbeitete von 1989 bis 2006 in einer internationalen Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main. Daneben engagierte sie sich ehrenamtlich und eigenverantwortlich im sozialen und kulturellen Bereich und stieß erfolgreich mehrere gemeinnützige Projekte an. Sie lebt und arbeitet mit ihrem Mann in der Nähe ihrer Tochter und deren Familie in der Region Hannover.
Für Johannes und Daniela
Grüble nicht,
was möglich ist und was nicht;
tu, was du mit deinen Kräften zustande bringst;
darauf kommt alles an.
Leo Tolstoi
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Erste Begegnung
Ankunft in St. Petersburg
Schneewittchen in St. Petersburg
Silvester
Ausflüge in die Umgebung
Das Hospiz
Eine Freundschaft bahnt sich an
Der russische Alltag
Abschied von St. Petersburg
Tagungsvorbereitungen
Die Tagung
Nach der Tagung
Das Projekt Krankenwagen
Victoria in Deutschland
Privat in St. Petersburg
Als Ehrengast auf dem Schiff
Isborsk, Pskow und Petschory
Balu in Frankfurt
Vortrag über die Arbeit im Hospiz
Balus Erinnerungen
Ab jetzt gemeinsam
Mit den Eltern nach St. Petersburg
Die Situation in Russland
Hochzeit in der Pfalz
Die Sache mit der Asche
Besuche hier und dort
Mit Freunden zu den Weißen Nächten
Glockentherapie und Rollenspiel
Lebensmittelvergiftung
Leben und Sterben
Abschied von Freunden
Versprechungen
Ein Herz für das Hospiz
Probleme über Probleme
Urlaub auf Russisch
Prolog
Ist es eigentlich nach dem Februar 2022 vertretbar und passend, von den guten Zeiten zu erzählen, in denen es noch Freundschaften zwischen Deutschen und Russen gab? Und ist es nicht so, dass gerade Freundschaften, auch zwischen Mann und Frau, oft stärker in Erinnerung bleiben und länger halten als Liebesgeschichten? Und dies erst recht, wenn ein gemeinsames Lebensthema diese Freundschaft wie ein roter Faden durchzieht? Das lässt einen nicht los! Deshalb habe ich, vor allem gerade jetzt, das Bedürfnis, von diesen tiefen Freundschaften zu erzählen, aber auch von den berührenden Begegnungen und Erlebnissen und von der Gastfreundschaft, die ich in den 1990er Jahren im fernen Russland erlebte. Möchte ich vielleicht einfach daran erinnern und davon berichten, dass es die ganz normalen, lieben, leidensfähigen Menschen mit dem großen Herzen gab, die ich nicht vergessen werde? Und möchte ich so sehr und gerne daran glauben, dass es sie noch immer gibt?
Erste Begegnung
Ich begegnete dem russischen Professor 1991 auf einem Kongress, bei dem philosophische, wissenschaftliche und religiöse Fragen behandelt wurden. Es war eine von vielen solcher Veranstaltungen, die ich in dieser Zeit besuchte. Ich hatte neben meiner beruflichen Tätigkeit in einer großen Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main eine Bibliothek ins Leben gerufen, in der interessierte Menschen Bücher mit Themen um Gott und die Welt ausleihen konnten. Auch bot ich Lesungen und Vorträge an, die gut besucht wurden. Indem ich an Veranstaltungen wie diese hier beschriebene teilnahm, erwartete ich Anregungen und Impulse für mein ehrenamtliches Engagement.
Der russische Gastredner war eingeladen worden, einen Vortrag über die Hospizarbeit in Russland zu halten. Er begann, und er hatte nach wenigen Sätzen – natürlich auf Russisch, die übersetzt wurden – nicht nur meine, sondern die Aufmerksamkeit aller Zuhörer erregt. Wie hatte er das erreicht? Er fiel einfach aus dem Rahmen seiner Vorredner, ohne deren Bemühungen und Anliegen schmälern zu wollen. Man spürte sofort, hier war jemand, dem allein sein Thema wichtig war. Hier stand er, der Professor aus dem fernen Russland, in seinem abgetragenen Anzug, mit etwas schütterem Haar. In seinem Auftreten wirkte er bescheiden und etwas unbeholfen. Aber was sein Thema betraf, so trug er dieses so selbstsicher und mit einer so großen Hingabe vor, dass er im Nu das Interesse der Tagungsteilnehmer geweckt und sie gefesselt hatte.
Sinn und Zweck des Lebens, das Sterben und der Tod, das waren Fragen, die auch mich beschäftigten, und es fiel mir daher nicht schwer, mit diesem sympathischen Redner am Rande der Veranstaltung ins Gespräch zu kommen. Ich wollte mehr erfahren von seinem Leben und seiner Arbeit in dem mir bis dahin recht unbekannten Land. Wir unterhielten uns auf Englisch, was ganz gut gelang, und im Laufe unserer Unterhaltung erzählte er mir nebenbei, dass er die russische Hospizbewegung gegründet habe. In seiner Heimatstadt St. Petersburg sei unter seiner Verantwortung das erste Hospiz Russlands entstanden, und er sei dort als Psychotherapeut tätig. Als wir uns am Ende der Veranstaltung voneinander verabschiedeten, lud er mich eindringlich und herzlich ein, nach St. Petersburg zu kommen, um ihn bei seiner Arbeit zu begleiten. Schon im Hinausgehen begriffen kehrte er nochmal zurück und erklärte mir: „… but you must know, the children gave me the name Balu!" Und er bot mir an, ihn wie seine Freunde ebenfalls Balu zu nennen. Verschmitzt verriet er mir auch, dass er nur alle vier Jahre Geburtstag habe, nämlich am 29. Februar!
In den folgenden Wochen schrieben wir uns Briefe, um in Kontakt zu bleiben. Bis allerdings die Post beim Empfänger ankam, dauerte es mindestens vier Wochen! Freitagabends konnte ich ihn allerdings auch telefonisch erreichen, denn an diesem Tag kamen seine Patienten zu ihm nach Hause, und danach nahm er sich einige Stunden frei. Aber diese Auslandsgespräche waren teuer, deshalb hielt ich mich damit etwas zurück, zumal Balu mitunter etwas länger brauchte, bis sich die passende englische Vokabel in seinem Kopf einfand. In jedem Gespräch wiederholte er seine Einladung an mich, und schließlich sagte ich zu. Mein Zögern hatte auf keinen Fall damit zu tun, dass ich nicht den Mut gehabt hätte, eine Reise in ein mir völlig unbekanntes Land und noch dazu nach Russland (!) zu unternehmen. Nein, Angst war mir fremd, ich war ein optimistisch eingestellter Mensch und ging immer davon aus, dass mir schon nichts Schlimmes passieren würde. Wenn sich für mich die Gelegenheit für eine neue Herausforderung ergab, die mich reizte, dann griff ich meistens zu. In diesem Fall musste ich allerdings erst einmal eine Lücke in meinem Terminkalender finden, bevor ich Balus Einladung annehmen konnte. Als das geklärt war, wählte ich den einfachsten Weg und buchte über das Reisebüro eine Pauschalreise. So konnte ich alle Formalitäten einschließlich Beschaffung des Touristenvisums dem Reisebüro überlassen und musste nicht Balu, der andernfalls mein russischer Gastgeber gewesen wäre, mit den Behördengängen belasten. Fast konnte ich es kaum glauben: Tatsächlich würde ich über Silvester in St. Petersburg sein!
Balu hatte mir verraten, dass er ein Romantiker sei und zur Entspannung von seiner schweren Hospizarbeit Märchen erdachte und niederschrieb. So erhielt ich entsprechend berührende Briefe von ihm:
„Ich hoffe, Dir die Schönheit von St. Petersburg zeigen zu können und seine Geschichten und seine phantastischen Plätze. Ich freue mich darauf, Dich in die Welt der Märchen entführen zu können und Dein Gesicht zwischen den Heldenfiguren zu finden.
Vielleicht gibt dies Anlass herauszufinden, wer Du bist, woher du kommst. Es sieht so aus, als wenn du aus Hoffmanns Erzählungen kommst …, oder vielleicht bist du eine Prinzessin aus Wilhelm Hauffs Märchen? Oder vielleicht aus historischen Geschichten? Sag es mir! Wenn Du es nicht erklären kannst, dann mag dies Anlass für eine neue Geschichte geben. Dann werde ich Dir den Rat geben, der Musik aus „Rheingoldvon Wagner zu lauschen oder vielleicht Richard Strauss oder Bruckner, und mir dann zu antworten, wer Du bist. So schließe ich jetzt und erwarte Deinen Brief und Deinen Besuch.
Wie schon erwähnt, arbeitete ich in dieser Zeit in Frankfurt am Main in einer internationalen Anwaltskanzlei. Die Partner und angestellten Rechtsanwälte hatten meistens ein offenes Ohr für soziale Projekte. Deshalb startete ich ein paar Wochen vor meiner Reise einen Spendenaufruf und befestigte den Aushang an die Eingangstür zu unserer Kantine, so dass ihn alle lesen konnten, wenn sie zum Mittagessen gingen:
An alle, die ein Herz für Russland haben:
Wer möchte zu Weihnachten Menschen beschenken, die es wirklich nötig haben?
Ich bin vom 29.12. bis 6.1. in St. Petersburg und werde u.a. auch ein paar Tage in einem Hospiz verbringen (dem einzigen in St. Petersburg), in dem krebskranke Menschen – auch Kinder – bis zu ihrem Tode betreut werden.
Vielleicht haben Sie Spielsachen zu Hause, die nicht mehr benötigt werden oder andere (nicht zu schwere) Dinge, die Sie verschenken würden? Es mangelt dort an allem. Der größte Hit für die Kinder sind z.B. Barbie-Puppen und alles, was damit zusammenhängt.
Bitte sprechen Sie mich gerne an.
Bald danach brachten mir die Kollegen aus der Warenzeichenabteilung alle dort gesammelten Musterspielsachen, Teddys und Kuscheltiere. Bald sah es in meinem Büro aus wie in einem Spielzeugladen.
Aber wirklich überraschte und berührte mich, was ich bald danach erfuhr: Zwei junge Anwälte hatten ohne mein Wissen eine interne Mitteilung mit Briefumschlag unter den Kollegen herumgehen lassen. Darin stand:
Sicherlich haben viele von uns schon den vor dem Kulinarium aushängenden Vermerk von Frau R. bezüglich der Hilfe für krebskranke Erwachsene und Kinder in einer Klinik in St. Petersburg gelesen. Obwohl wir an sich keine „Spendenfans" sind und in Sachen Rußlandhilfe auch schon einiges getan worden ist, meinen wir, dass dieser Fall eine Ausnahme ist und wir insbesondere durch Frau R. sichergehen können, dass das Geld auch dort ankommt, wo es wirklich gebraucht wird. Anbei befindet sich daher ein Kuvert mit Schlitz, in das jeder – wenn er mag – seinen Beitrag stecken