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Zwei Wahrheiten: Der neue Fall für Harry Bosch
Zwei Wahrheiten: Der neue Fall für Harry Bosch
Zwei Wahrheiten: Der neue Fall für Harry Bosch
eBook459 Seiten5 Stunden

Zwei Wahrheiten: Der neue Fall für Harry Bosch

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Über dieses E-Book

Seit er zwei Jahre zuvor vom LAPD zwangspensioniert wurde, arbeitet Harry Bosch als Freiwilliger für das unterfinanzierte San Fernando Police Department im Los Angeles County. In einer zum Büro umfunktionierten Zelle voller Aktenberge löst er ungeklärte Fälle. Als in einer Apotheke zwei Mitarbeiter, Vater und Sohn, erschossen werden, wird Bosch an den Tatort gerufen. Alles deutet auf einen Rachemord hin. Bosch und seine Kollegin Bella Lour­des nehmen die Ermittlungen auf – und stoßen auf eine Pill Mill, eine Klinik, die illegale Betäubungsmittel und verschreibungspflichtige Medikamente verkauft. Zur selben Zeit wird beim LAPD ein alter Fall neu aufgerollt. Der verurteilte Mörder Preston Borders, der seit dreißig Jahren in der Todeszelle sitzt, erhebt schwere Vorwürfe: Bosch soll bei seinen Ermittlungen Beweise gegen ihn gefälscht haben. Für Bosch beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Ihm bleiben neun Tage bis zur Anhörung, und er muss neue Beweise finden – um seinen Ruf zu schützen und einen Mörder hinter Gittern zu halten.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum20. Apr. 2023
ISBN9783311704089
Zwei Wahrheiten: Der neue Fall für Harry Bosch
Autor

Michael Connelly

Michael Connelly ist mit über 85 Millionen verkauften Büchern in 45 Sprachen einer der US-amerikanischen Krimi-Superstars. 1956 geboren, wuchs er in Florida auf, wo er als Journalist arbeitete, bis ihn die Los Angeles Times als Gerichtsreporter in die Stadt holte, in der sein literarisches Idol Raymond Chandler seine Romane spielen ließ, was Connelly ihm später gleichtun sollte. Im Kampa Verlag erscheinen neben den Fällen des legendären Ermittlers Harry Bosch und der Nachtschicht-Detective Renée Ballard auch Connellys Romane mit Jack McEvoy und Michael »Mickey« Haller. Connelly lebt in Kalifornien und in Florida.

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    Buchvorschau

    Zwei Wahrheiten - Michael Connelly

    Für Heather Rizzo

    Danke für den Titel und alles andere.

    Teil 1

    Die Capper

    1

    Bosch sah gerade in Zelle 3 des alten Gefängnisses von San Fernando die Akten aus einer der Schachteln für den Fall Esme Tavares durch, als eine Textnachricht von Bella Lourdes drüben im Detective Bureau einging.

    LAPD und D.A. kommen zu dir rüber. Trevino hat ihnen gesagt, wo du bist.

    Bosch war da, wo er am Wochenanfang meistens war: an seinem provisorischen Schreibtisch, einer Holztür, die er sich im Bauhof geborgt und auf zwei Stapel aus Aktenschachteln gelegt hatte. Nachdem er Lourdes ein kurzes Danke geschickt hatte, öffnete er die Notizen-App und aktivierte die Aufnahmefunktion. Er legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Schreibtisch und verdeckte es zum Teil mit einer Akte aus der Tavares-Schachtel. Für alle Fälle. Er hatte keine Ahnung, was die Staatsanwaltschaft und das Los Angeles Police Department, sein alter Arbeitgeber, an einem Montagmorgen schon in aller Frühe von ihm wollen könnten. Sie hatten nicht angerufen, um ihren Besuch anzukündigen. Fairerweise musste er zugeben, dass der Handyempfang hinter den Gitterstäben der Zelle praktisch gleich null war. Allerdings hatte so ein Überraschungsbesuch oft taktische Gründe. Nach Boschs Zwangspensionierung vor drei Jahren war sein Verhältnis zum LAPD, gelinde gesagt, angespannt, und sein Anwalt hatte ihm dringend geraten, zu seiner Absicherung alle Interaktionen mit der Polizei zu dokumentieren.

    Während er auf seine Besucher wartete, befasste er sich mit der Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er las die Aussagen durch, die in den Wochen nach Tavares’ Verschwinden zu Protokoll genommen worden waren. Er kannte sie bereits, glaubte aber, dass der Schlüssel für die Lösung eines alten Falls oft in den Ermittlungsakten zu finden war. Es war alles da, man musste es nur finden. Eine logische Diskrepanz, ein versteckter Hinweis, eine widersprüchliche Aussage, ein handschriftlicher Vermerk eines Ermittlers am Seitenrand – lauter Dinge, die Bosch in seinen mehr als vierzig Jahren bei der Polizei immer wieder bei der Aufklärung von Fällen geholfen hatten.

    Obwohl Esme Tavares offiziell bloß als vermisst galt – was nur daran lag, dass nie eine Leiche aufgetaucht war –, hatten sich in den letzten fünfzehn Jahren drei Schachteln mit Akten zu dem Fall angesammelt.

    Als Bosch zum San Fernando Police Department gestoßen war, um dort ehrenamtlich kalte Fälle zu bearbeiten, hatte ihm Chief Anthony Valdez, der schon fünfundzwanzig Jahre im Polizeidienst war, vor allem den Fall Esmeralda Tavares ans Herz gelegt; er meinte, er habe ihn schon damals als Ermittler nicht losgelassen und jetzt könne er sich als Polizeichef nicht mehr in dem Umfang damit beschäftigen, in dem er es gern täte.

    In den zwei Jahren, die Bosch inzwischen Teilzeit in San Fernando arbeitete, hatte er eine ganze Reihe von Fällen neu aufgerollt und beinahe ein Dutzend davon aufgeklärt – darunter auch Serienvergewaltigungen und -morde. Auf Esme Tavares kam er immer dann zurück, wenn er ein paar Stunden Zeit fand, um ihre Akte durchzugehen. Inzwischen ließ der Fall auch ihn nicht mehr los. Eine junge Mutter, die spurlos verschwunden war und ein schlafendes Baby in seinem Bettchen zurückgelassen hatte. Auch wenn sie weiterhin nur als »vermisst« galt, war Bosch bald klar geworden, was für den Chief und alle Ermittler, die sich vor ihm mit dem Fall befasst hatten, längst Gewissheit war. Esme Tavares war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur vermisst, sondern tot.

    Bosch hörte, wie die Tür zum Gefängnistrakt aufging und über den Betonboden vor den drei Gemeinschaftszellen Schritte näher kamen. Er traute kaum seinen Augen, als er sah, wer kurz darauf hinter den Gitterstangen auftauchte.

    »Hallo, Harry.«

    Es war seine ehemalige Partnerin Lucia Soto, die von zwei ihm unbekannten Männern in Anzügen begleitet wurde. Der Umstand, dass sie ihren Besuch nicht angekündigt hatte, verhieß jedoch nichts Gutes. Vom LAPD-Hauptquartier und vom D.A.’s Office Downtown waren es vierzig Minuten Fahrt nach San Fernando. Sie hätte also genügend Zeit gehabt, um ihm eine Nachricht zu schicken: Harry, wir kommen gleich bei dir vorbei. Daher nahm er an, dass ihr ihre zwei Begleiter einen Maulkorb angelegt hatten.

    »Lange nicht mehr gesehen, Lucia«, sagte Bosch. »Wie geht’s, Partner?«

    Es sah nicht so aus, als wollte einer von den dreien in Boschs Zelle kommen, selbst wenn sie nicht mehr als solche verwendet wurde. Er stand auf, fischte geschickt das Handy unter der Akte hervor und steckte es so in seine Hemdtasche, dass das Display seiner Brust zugewandt war. Er ging ans Gitter und streckte seine Hand hindurch. In den letzten zwei Jahren hatte er zwar immer wieder telefonisch oder per Textnachricht mit Soto kommuniziert, sich aber nie mit ihr getroffen. Ihr Aussehen hatte sich verändert. Sie hatte abgenommen und sah müde und ausgelaugt aus, ihre dunklen Augen wirkten bekümmert. Sie drückte seine Hand mehr, als dass sie sie schüttelte, und er fasste ihren festen Händedruck als Warnung auf: Sei vorsichtig.

    Bosch konnte sich bereits denken, wer von den zwei Männern wer war. Beide waren Anfang vierzig und trugen Anzüge von der Stange, wahrscheinlich von Men’s Wearhouse. Das Nadelstreifenjackett des linken Mannes wirkte von innen abgenutzt. Das konnte nur heißen, dass er darunter ein Schulterholster trug und die scharfe Kante des Schlittens seiner Waffe ausgiebig am Stoff geschabt hatte. Das Seidenfutter war vermutlich schon ganz durchgewetzt. In einem halben Jahr würde er den Anzug wegwerfen können.

    »Bob Tapscott«, stellte er sich vor. »Lucky Lucys neuer Partner.«

    Tapscott war schwarz, und Bosch fragte sich, ob er mit Horace Tapscott verwandt war, dem verstorbenen Musiker aus South L.A., der sich sehr für die Erhaltung der dortigen Jazzszene eingesetzt hatte.

    »Und ich bin Deputy District Attorney Alex Kennedy«, sagte der zweite Mann. »Wir würden gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten.«

    »Aber klar doch«, sagte Bosch. »Kommen Sie in mein Büro.«

    Er deutete auf die Umrisse der ehemaligen Gefängniszelle, die jetzt mit metallenen Aktenregalen ausgestattet war. Von ihrem früheren Dasein als Ausnüchterungszelle zeugte nur noch die lange Sitzbank an einer Wand. Um Platz für seine Besucher zu schaffen, machte sich Bosch daran, die darauf ausgebreiteten Akten aufeinanderzustapeln. Er war allerdings ziemlich sicher, dass sie sich nicht setzen würden.

    »Wir haben schon mit Captain Trevino gesprochen«, sagte Tapscott. »Er hat uns angeboten, die Einsatzzentrale drüben im Detective Bureau zu benutzen. Dort ist es etwas komfortabler. Einverstanden?«

    »Meinetwegen gern, wenn der Captain nichts dagegen hat«, sagte Bosch. »Worum geht es überhaupt?«

    »Preston Borders«, sagte Soto.

    Der Name ließ Bosch, der bereits auf die offene Tür der Zelle zusteuerte, kurz innehalten.

    »Gehen wir erst mal nach drüben«, sagte Kennedy rasch. »Dann können wir reden.«

    Soto bedachte Bosch mit einem Blick, der ihm zu vermitteln schien, dass in dieser Angelegenheit der D.A. das Sagen hatte. Bosch nahm seine Schlüssel und ein Vorhängeschloss vom Schreibtisch, verließ die Zelle und schob die Metalltür mit einem lauten Scheppern zu. Da der Schlüssel für die Zelle schon lange verschwunden war, schlang Bosch eine Fahrradkette um die Gitterstäbe und sicherte sie mit dem Vorhängeschloss.

    Sie verließen das alte Gefängnis und gingen über den Bauhof zur First Street. Während sie auf eine Lücke im Verkehr warteten, zog Bosch beiläufig das Handy aus seiner Tasche und schaute, ob irgendwelche Nachrichten eingegangen waren. Vor dem Eintreffen der Truppe aus Downtown hatte er weder von Soto noch sonst jemandem eine erhalten. Er ließ die Sprachaufnahme weiterlaufen und steckte das Handy wieder ein.

    Soto wandte sich an ihn, aber nicht wegen des Falls, der sie nach San Fernando geführt hatte.

    »Ist das wirklich dein Büro, Harry?«, fragte sie. »Haben sie dich wirklich in einer Arrestzelle untergebracht?«

    »Ja«, sagte Bosch. »Das war mal die Ausnüchterungszelle, und manchmal bilde ich mir ein, immer noch die Kotze riechen zu können, wenn ich sie am Morgen aufschließe. Angeblich haben sich dort im Lauf der Jahre fünf oder sechs Typen erhängt, weshalb es dort auch spuken soll. Aber weil sie die Akten der kalten Fälle in der Zelle aufbewahren, ist sie auch mein Arbeitsplatz. Die alten Beweismittelschachteln sind in den anderen beiden Zellen eingelagert. Ich komme also schnell an alles ran. Und normalerweise stört mich dort auch niemand.«

    Er hoffte, seine Besucher verstanden, was er damit meinte.

    »Haben sie hier denn gar kein Gefängnis?«, fragte Soto. »Bringen sie alle Verhafteten nach Van Nuys?«

    Bosch deutete über die Straße auf die Polizeistation, zu der sie unterwegs waren.

    »Nach Van Nuys kommen nur die Frauen«, sagte er. »Aber ein Männergefängnis haben wir. In der Station. Richtig gemütliche Einzelzellen. Ein paarmal habe ich schon in einer übernachtet. Deutlich besser als der Schlafraum im Police Administration Building, wo alle schnarchen.«

    Der Blick, den sie ihm zuwarf, schien zu sagen, dass er sich verändert haben musste, wenn er bereit war, in einer Gefängniszelle zu schlafen. Er zwinkerte und sagte: »Ich kann überall arbeiten, und ich kann überall schlafen.«

    Als sich im Verkehr eine Lücke auftat, überquerten sie die Straße und betraten die Station durch den Haupteingang. Zum Detective Bureau gab es auf der rechten Seite einen direkten Zugang. Bosch öffnete die Tür mit einem Kartenschlüssel und hielt sie den anderen auf.

    Der Raum dahinter war nicht größer als eine Einzelgarage. In seiner Mitte befanden sich eng aneinandergerückt drei Arbeitsplätze. Sie gehörten den Vollzeit-Detectives: Danny Sisto, Oscar Luzon, der vor Kurzem zum Detective befördert worden war, und Bella Lourdes, die erst seit zwei Monaten wieder zurück war, weil sie im Einsatz verletzt und deshalb für längere Zeit beurlaubt worden war. Die Wände des Raums waren gesäumt von Aktenschränken, einer Ladestation für die Funkgeräte, einem Tisch mit einer Kaffeemaschine und einer Druckerstation, über der mehrere Anschlagtafeln mit Dienstplänen und Bekanntmachungen angebracht waren. Außerdem hingen dort zahlreiche Steckbriefe von gesuchten oder vermissten Personen, darunter auch mehrere von Esme Tavares, die alle aus den letzten fünfzehn Jahren stammten.

    Ganz oben an der Wand war ein Poster von Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track, von denen die drei hier arbeitenden Detectives ihre Spitznamen hatten. Captain Trevinos Büro befand sich rechts von dem Büro, die Einsatzzentrale links. In einem dritten, an die Rechtsmedizin untervermieteten Raum waren zwei von deren Ermittlern untergebracht, die für das ganze San Fernando Valley und alle Bereiche nördlich davon zuständig waren.

    Alle drei Detectives saßen an ihren Schreibtischen. Sie hatten vor Kurzem einen großen Autodiebe-Ring aus L.A. ausgehoben und waren vom Anwalt eines der Verdächtigen spöttisch als Tick, Trick und Track bezeichnet worden. Doch sie fassten ihre Spitznamen als Auszeichnung auf.

    Bosch sah Lourdes über die Trennwand ihres Arbeitsplatzes linsen und nickte ihr zum Dank für die Warnung zu. Außerdem gab er ihr damit zu verstehen, dass bisher alles okay war.

    Bosch führte die Besucher in die Einsatzzentrale. Die Wände des schalldichten Raums waren mit Whiteboards und Flachbildschirmen bepflastert. In der Mitte stand ein Konferenztisch mit acht Lederstühlen. Der Raum war als Befehlsstelle für größere Ermittlungsverfahren, Einsätze von Spezialeinheiten und Gegenmaßnahmen bei Naturkatastrophen oder Unruhen gedacht. Da solche Vorfälle jedoch eher selten waren, wurde der Raum mit seinem großen Tisch und den bequemen Stühlen vorwiegend als Aufenthaltsraum genutzt. Entsprechend stark roch es dort nach mexikanischem Essen. Die kostenlosen Mahlzeiten, die ihnen der Inhaber von Magaly’s Tamales oben in der Maclay Avenue regelmäßig vorbeibrachte, wurden meistens in der Einsatzzentrale verputzt.

    »Nehmen Sie Platz«, sagte Bosch.

    Tapscott und Soto setzten sich auf eine Seite des Tisches, Kennedy nahm ihnen gegenüber Platz. Bosch ließ sich am Tischende nieder, von wo er alle drei Besucher im Blick hatte.

    »So«, begann er. »Was gibt’s?«

    »Zuerst sollten wir uns vielleicht in aller Form vorstellen«, ergriff Kennedy das Wort. »Detective Soto kennen Sie natürlich von Ihrer gemeinsamen Tätigkeit bei der Einheit Offen-Ungelöst. Detective Tapscott haben Sie gerade kennengelernt. Die beiden arbeiten mit mir an der Wiederaufnahme eines Mordfalls, für den vor fast dreißig Jahren Sie zuständig waren.«

    »Preston Borders«, sagte Bosch. »Wie geht’s Preston? Immer noch im Todestrakt von Q?«

    »Ganz genau.«

    »Warum interessieren Sie sich dann für den Fall?«

    Kennedy zog seinen Stuhl näher an den Tisch heran, verschränkte die Arme und stützte sich mit den Ellbogen darauf. Obwohl klar war, dass dieser Überraschungsbesuch bis ins Kleinste einstudiert war, begann er, mit den Fingern seiner linken Hand zu trommeln, als überlegte er, wie er Boschs Frage am besten beantworten sollte.

    »Ich bin der Conviction Integrity Unit zugeteilt«, antwortete Kennedy schließlich. »Sicher haben Sie schon von dieser Einheit gehört. Sie befasst sich mit Urteilen, die nachträglich angefochten werden. Und in einigen dieser Fälle habe ich wegen ihrer Erfahrung mit kalten Fällen die Detectives Tapscott und Soto hinzugezogen.«

    Bosch wusste, dass es die CIU, die erst nach seinem Ausscheiden beim LAPD ins Leben gerufen worden war, noch nicht lange gab. Ihre Gründung ging auf ein Wahlversprechen in einem erbittert geführten Wahlkampf zurück, in dem eine strengere Kontrolle der Polizei eine wichtige Rolle spielte. Daher hatte der neu gewählte D.A. – Tak Kobayashi – eine Einheit eingerichtet, die auf die augenscheinliche Zunahme von Fällen reagieren sollte, in denen wegen neuer forensischer Techniken überall im Land Hunderte von Häftlingen freigesprochen wurden. Während neue wissenschaftliche Erkenntnisse einerseits zu zuverlässigeren Ermittlungsmethoden führten, wurden zugleich bisher als unanfechtbar geltende alte Technologien zunehmend infrage gestellt, sodass sich für nicht wenige Unschuldige die Gefängnistüren wieder öffneten.

    Sobald ihm Kennedy den Namen seiner Einheit nannte, war für Bosch der Fall klar. Er wusste sofort, was Sache war. Borders, der mutmaßlich drei Frauen getötet hatte, aber nur wegen eines Mordes verurteilt worden war, nahm nach beinahe dreißig Jahren im Todestrakt einen letzten Anlauf auf seine Freilassung.

    »Soll das ein Witz sein?«, sagte Bosch. »Borders? Im Ernst jetzt? Sie nehmen sich diesen Fall tatsächlich noch mal vor?«

    Er schaute von Kennedy zu seiner ehemaligen Partnerin Soto.

    Er fühlte sich hintergangen.

    »Lucia?«, sagte er.

    »Harry«, sagte sie. »Hör dir erst mal an, was wir zu sagen haben.«

    2

    Bosch hatte das Gefühl, als rückten die Wände des Raums immer enger zusammen. Sowohl in seinen Gedanken als auch in der Realität hatte er Borders für immer aus dem Verkehr gezogen. Er rechnete zwar nicht damit, dass der sadistische Sexualmörder jemals die Giftspritze bekam, aber der Todestrakt war eine Hölle für sich, deutlich schlimmer, als unter gängigen Bedingungen einzusitzen. Borders verdiente die isolierte Unterbringung. Er war als Sechsundzwanzigjähriger nach San Quentin gekommen. Das bedeutete für ihn mindestens fünfzig Jahre Einzelhaft. Außer er hatte Glück. In Kalifornien starben im Todestrakt mehr Häftlinge durch Selbstmord als durch die Spritze.

    »Es ist nicht so einfach, wie Sie glauben«, sagte Kennedy.

    »Nein?«, sagte Bosch. »Und warum nicht?«

    »Die CIU ist verpflichtet, alle rechtmäßigen Anträge zu prüfen. Erst nach diesem ersten, internen Schritt wird die Sache ans LAPD oder andere Polizeibehörden weitergeleitet. Nur wenn ein Fall über einen bestimmten kritischen Punkt hinausgeht, wird die Polizei damit beauftragt, die erforderlichen Nachermittlungen durchzuführen.«

    »Und natürlich wird an diesem Punkt jeder Beteiligte auf strengste Geheimhaltung eingeschworen«, sagte Bosch und sah dabei Soto an. Sie wandte den Blick ab.

    »Unbedingt«, sagte Kennedy.

    »Ich weiß nicht, welche Beweise Ihnen Borders oder sein Anwalt vorgelegt haben«, sagte Bosch. »Aber sie sind nichts als Augenwischerei. Der Kerl hat Danielle Skyler umgebracht, alles andere ist Schwindel.«

    Kennedy antwortete nicht, aber an seinem Blick erkannte Bosch, dass er überrascht war, dass er sich noch an den Namen des Opfers erinnerte.

    »Ja, auch nach dreißig Jahren erinnere ich mich noch an ihren Namen«, sagte Bosch. »Auch an den von Donna Timmons und Vicky Novotney. Das sind die zwei Opfer, für deren Ermordung wir nach Auffassung Ihrer Kollegen von der Staatsanwaltschaft nicht genügend Beweise vorlegen konnten. Waren sie ebenfalls Teil dieser gründlichen Nachermittlungen, die Sie durchgeführt haben?«

    »Harry …«, versuchte ihn Soto zurückzupfeifen.

    »Borders musste keine neuen Beweise vorlegen«, sagte Kennedy. »Wir hatten sie bereits.«

    Das traf Bosch wie ein Schlag in die Magengrube. Er wusste, dass Kennedy die Sachbeweise zu dem Fall meinte. Das konnte nur heißen, dass es Beweise vom Tatort oder sonst woher gab, die Borders’ Schuld infrage stellten. Und das wiederum hieß, dass Bosch Fehler gemacht oder – noch schlimmer – in böser Absicht gehandelt und Beweise übersehen oder wissentlich zurückgehalten hatte.

    »Und worum geht es jetzt genau?«, fragte er.

    »Die DNA«, sagte Kennedy. »Beim Prozess 1988 hat sie noch keine Rolle gespielt. Damals war in Kalifornien DNA bei Strafrechtsfällen noch nicht zugelassen. Sie wurde erst ein Jahr später von einem Gericht oben in Ventura zum ersten Mal als Beweismittel anerkannt. Und in L.A. County hat es noch einmal ein Jahr länger gedauert.«

    »Wir haben keine DNA gebraucht«, sagte Bosch. »Wir haben Sachen des Opfers in Borders’ Wohnung gefunden.«

    Kennedy nickte Soto zu.

    »Wir waren in der Property Control und haben uns die Schachtel geben lassen«, sagte sie. »Den Ablauf kennst du ja. Wir haben Kleidungsstücke des Opfers zur serologischen Untersuchung ins Labor gebracht.«

    »Das Gleiche wurde auch vor dreißig Jahren gemacht«, sagte Bosch. »Allerdings haben sie damals nicht nach DNA, sondern nach genetischen Blutgruppenmarkern gesucht – und nichts gefunden. Willst du mir etwa erzählen …«

    »Sie haben Sperma gefunden«, sagte Kennedy. »Zwar nur eine sehr geringe Menge, aber trotzdem. Offensichtlich ist das Verfahren seit damals deutlich verbessert worden. Und was sie gefunden haben, stammt nicht von Borders.«

    Bosch schüttelte den Kopf.

    »Okay, ich sage erst mal nichts. Von wem dann?«

    »Von einem anderen Sexualtäter«, sagte Soto. »Lucas John Olmer.«

    Bosch hatte nie etwas von einem Olmer gehört. Er begann, fieberhaft nachzudenken, suchte nach einem Trick, einem möglichen Schwindel. Die Möglichkeit, er könnte falsch gelegen haben, als er Borders Handschellen anlegte, zog er keine Sekunde in Erwägung.

    »Olmer sitzt doch sicher auch in San Quentin«, sagte er schließlich. »Das Ganze ist …«

    »Nein, tut er nicht«, unterbrach ihn Tapscott. »Er ist tot.«

    »Ein bisschen kannst du uns schon glauben, Harry«, fügte Soto hinzu. »Wir haben es keineswegs darauf angelegt, dass es so ist. Olmer war nie in San Quentin. Er ist 2015 in Corcoran gestorben und kannte Borders nicht.«

    »Wir haben alles bis ins Kleinste nachgeprüft«, sagte Tapscott. »Die Gefängnisse sind fünfhundert Kilometer voneinander entfernt, und weder kannten sich die beiden, noch hatten sie eine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Vollkommen ausgeschlossen.«

    Das sagte Tapscott nicht ohne eine gewisse Da-siehst- du’s-Selbstgefälligkeit. Am liebsten hätte ihm Bosch eine aufs Maul gegeben. Soto kannte die Trigger ihres ehemaligen Partners und legte Bosch die Hand auf den Arm.

    »Das ist doch nicht deine Schuld, Harry«, sagte sie. »Das geht einzig und allein aufs Labor. Die Befunde liegen uns alle vor. Du hast recht – sie haben damals nichts gefunden. Sie haben es übersehen.«

    Bosch sah sie an und zog den Arm zurück.

    »Und das glaubst du? Ich nämlich nicht. Da hat Borders seine Hand mit im Spiel – irgendwie. Da bin ich ganz sicher.«

    »Wie denn, Harry? Auch wir haben uns den Kopf zerbrochen, wie er das hingekriegt haben könnte.«

    »Wer hat nach dem Prozess in die Box mit den Kleidern geschaut?«

    »Niemand. Der Letzte, der sie hatte, warst du. Die ursprünglichen Siegel mit deiner Unterschrift und dem Datum drauf waren noch intakt. Zeig ihm das Video.«

    Sie nickte Tapscott zu, der sein Handy herausholte und das Video aufrief. Er hielt das Display Bosch hin.

    »Das haben wir im Piper Tech aufgenommen«, sagte er.

    Das Piper Tech war ein riesiger Gebäudekomplex Downtown, in dem neben der Fingerabdruckabteilung und der Hubschrauberstaffel auch die Property Control Unit, die Asservatenkammer des LAPD, untergebracht war und dessen footballfeldgroßes Dach als Heliport benutzt wurde. Bosch wusste, dass im Archiv strenge Sicherheitsvorschriften galten. Nur vereidigte Officers durften Beweise von einem Fall einsehen und mussten dafür Dienstausweise und Fingerabdrücke vorlegen. Die Beweismittelschachteln durften nur in einem eigens dafür vorgesehenen Bereich geöffnet werden, der rund um die Uhr unter Videoüberwachung stand. Aber das Video, das er jetzt sah, hatte Tapscott mit seinem Handy aufgenommen.

    »Das war nicht das erste Mal, dass wir mit der CIU zu tun hatten«, sagte Tapscott. »Deshalb haben wir bei so etwas unsere eigenen Regeln. Einer von uns öffnet die Schachtel, die andere Person protokolliert alles. Uns interessiert nicht, dass sie dort ihre eigenen Kameras haben. Und wie Sie selbst sehen können, hat sich niemand an der Schachtel zu schaffen gemacht. Kein Siegel war verletzt.«

    Das Video zeigte, wie Soto die Schachtel in die Kamera hielt und in alle Richtungen drehte, sodass deutlich zu erkennen war, dass ihre Flächen und Kanten intakt waren. Die Ritzen waren mit den in den achtziger Jahren üblichen Etiketten verschlossen. Seit mindestens zwanzig Jahren verwendete das LAPD rotes Beweismitteltape, das Risse bekam und sich ablöste, wenn man sich daran zu schaffen machte. 1988 waren von der Polizei zur Versiegelung von Beweismittelboxen noch rechteckige weiße Aufkleber mit dem Aufdruck LAPD-ANALYSIERTE BEWEISMITTEL verwendet worden, die mit Unterschrift und Datum versehen waren. Aus der lustlosen Art, mit der Soto mit der Schachtel hantierte, schloss Bosch, dass sie das Ganze für reine Zeitverschwendung hielt. Zumindest bis zu diesem Punkt war sie noch auf seiner Seite.

    Tapscott ging mit der Kamera näher an die Siegel auf dem Kartondeckel heran. Auf dem mittleren Aufkleber konnte Bosch seine Unterschrift und das Datum sehen: 9. September 1988. Demnach musste das Etikett nach Prozessende angebracht worden sein. Bosch hatte damals alle Beweismittel in die Box zurückgelegt, diese versiegelt und für den Fall, dass das Urteil revidiert und die Sache neu aufgerollt wurde, in die Property Control zurückgebracht. Da bei Borders nie etwas in dieser Richtung unternommen worden war, hatte man die Schachtel vermutlich die ganze Zeit unangetastet an ihrem Platz im Regal gelassen und nie aussortiert. Bosch hatte sie nämlich deutlich sichtbar mit 187, dem kalifornischen Strafgesetzparagraphen für Mord, gekennzeichnet, was in der Asservatenkammer »Nicht wegwerfen« hieß.

    Als Tapscott die Kamera weiter über die Schachtel bewegte, sah Bosch, dass alle Ritzen, auch die am Boden, mit Beweismitteletiketten versiegelt waren, wie er das bis zur Einführung des roten Beweismitteltapes immer gemacht hatte.

    »Gehen Sie noch mal ein Stück zurück«, sagte Bosch zu Tapscott. »Ich würde gern die Unterschrift noch mal sehen.«

    Tapscott spulte das Video zu der Nahaufnahme des von Bosch unterschriebenen Etiketts zurück, und Bosch beugte sich vor, um sie sich genauer anzusehen. Die Unterschrift war verblichen und kaum mehr zu erkennen, aber sie sah echt aus.

    »Okay«, sagte Bosch.

    Tapscott ließ das Video weiterlaufen. Jetzt war auf dem Display zu sehen, wie Soto mit einem Teppichmesser, das mit einem Draht an einem Arbeitstisch befestigt war, die Etiketten durchtrennte und die Schachtel öffnete. Als sie die einzelnen Beweisstücke herausnahm, darunter auch die Kleidung des Opfers und einen Umschlag mit seinen Fingernagelschnipseln, nannte sie jedes zu seiner vorschriftsmäßigen Dokumentierung beim Namen. Unter den aufgezählten Gegenständen war auch ein Seepferdchenanhänger, der als Hauptbeweis gegen Borders gedient hatte.

    Schon bevor das Video ganz zu Ende war, zog Tapscott das Handy ungeduldig zurück, hielt die Aufnahme an und steckte es ein.

    »So geht das noch endlos weiter«, bemerkte er dazu. »Niemand hat sich an der Schachtel zu schaffen gemacht, Harry. Es war alles schon drinnen, als Sie sie nach dem Prozess versiegelt haben.«

    Bosch war sauer, dass er nicht die Gelegenheit erhielt, sich das Video in voller Länge anzusehen. Irgendetwas an Tapscott – einem Fremden, der ihn mit dem Vornamen ansprach – stieß ihm sauer auf. Aber er schluckte seinen Ärger hinunter und sagte eine Weile nichts. Gleichzeitig ließ er zum ersten Mal den Gedanken zu, dass er mit seiner langjährigen festen Überzeugung, einen sadistischen Mörder für immer aus dem Verkehr gezogen zu haben, falsch liegen könnte.

    »Wo wurde sie gefunden?«, fragte er schließlich.

    »Was?«, fragte Kennedy.

    »Die DNA«, sagte Bosch.

    »Ein winziger Punkt auf der Pyjamahose des Opfers«, sagte Kennedy.

    »1987 war der natürlich leicht zu übersehen«, fügte Soto hinzu. »Wahrscheinlich haben sie damals nur Schwarzlicht verwendet.«

    Bosch nickte.

    »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.

    Soto sah Kennedy an. Diese Frage musste er beantworten.

    »Für Mittwoch in einer Woche ist in Saal eins-null-sieben eine Verhandlung über einen Haftprüfungsantrag angesetzt«, sagte der Staatsanwalt. »Zusammen mit Borders’ Anwälten werden wir einen Antrag an Judge Houghton stellen, das Urteil aufzuheben und Borders aus dem Todestrakt zu entlassen.«

    »Das ist doch Wahnsinn«, stöhnte Bosch.

    »Außerdem hat Borders’ Anwalt die Stadt in Kenntnis gesetzt, dass er eine Zivilklage einreichen wird«, fuhr Kennedy fort. »Wir haben uns bereits mit dem City Attorney’s Office in Verbindung gesetzt. Dort hoffen sie, sich auf einen Vergleich einigen zu können. Wir bewegen uns hier wahrscheinlich ziemlich weit oben im siebenstelligen Bereich.«

    Bosch senkte den Blick auf den Tisch. Er konnte niemandem in die Augen schauen.

    »Und ich muss Sie warnen«, fügte Kennedy hinzu. »Wenn es nicht zu einem Vergleich kommt und Borders vors Bundesgericht zieht, kann er Sie persönlich belangen.«

    Bosch nickte. Das wusste er bereits. Wenn Borders eine Grundrechtsklage anstrengte und die Stadt nicht für Bosch einsprang, war er für sämtliche Schäden persönlich haftbar. Da Bosch vor zwei Jahren die Stadt verklagt hatte, ihm seine Pensionsansprüche wieder in vollem Umfang zuzuerkennen, war es sehr unwahrscheinlich, dass sich im City Attorney’s Office jemand finden würde, der sich dafür einsetzte, ihn von Borders’ Schadenersatzansprüchen zu entlasten. Bei all dem drängte sich immer mehr der Gedanke an seine Tochter in den Vordergrund. Bis auf eine Lebensversicherung, die ihr nach seinem Tod zustand, konnte ihm alles genommen werden.

    »Es tut mir wirklich leid«, sagte Soto. »Wenn es irgendeine andere …«

    Sie sprach nicht weiter, und er schaute langsam zu ihr auf.

    »Neun Tage«, sagte er.

    »Neun Tage?«

    »Dann ist die Verhandlung. So lange habe ich Zeit, um herauszufinden, wie er das geschafft hat.«

    »Harry, wir arbeiten jetzt schon fünf Wochen an dieser Sache. Da gibt es nichts. Das alles ist schon passiert, bevor jemand Olmer überhaupt auf dem Schirm hatte. Wir wissen nur, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht im Gefängnis war und dass er sich in L.A. aufgehalten hat – wir haben entsprechende Beschäftigungsunterlagen gefunden. Aber DNA bleibt DNA. Auf ihrem Schlafanzug. DNA eines Manns, der später wegen mehrerer Entführungen und Vergewaltigungen verurteilt worden ist. In allen Fällen ist er in die Wohnungen seiner Opfer eingebrochen – wie im Fall Skylers. Nur ohne Mord. Nimm einfach nur mal die Fakten. Kein Staatsanwalt im Land würde sich damit die Finger schmutzig machen und anders an die Sache rangehen.«

    Kennedy räusperte sich.

    »Wir sind heute zum Zeichen unseres Respekts für Sie hergekommen, Detective. Und wegen der vielen Fälle, die Sie gelöst haben. Wir wollen uns in dieser Angelegenheit nicht gegen Sie stellen.«

    »Und Sie glauben nicht, dass jeder andere Fall, den ich gelöst habe, davon betroffen sein wird?«, sagte Bosch. »Wenn Sie diesem Kerl die Gefängnistür öffnen, können Sie sie gleich jedem anderen aufmachen, den ich hinter Gitter gebracht habe. Selbst wenn Sie es aufs Labor schieben – es wird nichts an der Sache ändern. Es wird auch alles andere in Zweifel gezogen.«

    Bosch lehnte sich zurück und sah seine alte Partnerin an. Er war einmal ihr Mentor gewesen. Sie musste wissen, was das für ihn bedeutete.

    »Es ist, wie es ist«, sagte Kennedy. »Wir haben eine klare Richtlinie. ›Besser, hundert Schuldige kommen frei, als dass ein Unschuldiger im Gefängnis sitzt.‹«

    »Verschonen Sie mich bloß mit diesem verhunzten Benjamin-Franklin-Scheiß«, sagte Bosch. »Wir haben Beweise gefunden, die Borders mit allen drei verschwundenen Frauen in Verbindung gebracht haben, und die Staatsanwaltschaft hat zwei davon fallen gelassen, weil irgendeine Rotznase von Ankläger gemeint hat, das würde nicht reichen. Irgendwas an der Sache ist faul. Ich möchte diese neun Tage, um meine eigenen Ermittlungen anzustellen, und ich möchte Zugang zu allem, was Sie haben, und wissen, wie Sie vorgegangen sind.«

    Als er das sagte, sah er zwar Soto an, aber es war Kennedy, der ihm antwortete.

    »Kommt überhaupt nicht in Frage, Detective. Wir tun Ihnen mit unserem Besuch nur einen Gefallen. Dieser Fall gehört Ihnen nicht mehr.«

    Bevor Bosch etwas einwenden konnte, ertönte ein lautes Klopfen, und die Tür ging auf. Bella Lourdes stand da. Sie winkte ihn nach draußen.

    »Harry«, sagte sie. »Wir müssen sofort reden.«

    In ihrem Ton schwang eine Dringlichkeit mit, die Bosch nicht ignorieren konnte. Er schaute die anderen am Tisch Sitzenden an und stand auf.

    »Augenblick noch«, sagte er. »Wir sind hier noch nicht fertig.«

    Dann ging er zur Tür. Lourdes winkte ihn ganz nach draußen und schloss die Tür hinter ihm. Er stellte fest, dass der Bereitschaftsraum inzwischen leer war – niemand saß an seinem Schreibtisch, die Tür des Captains stand offen und sein Schreibtischstuhl war leer.

    Und Lourdes war sichtlich aufgewühlt. Sie strich sich mit beiden Händen ihr kurzes dunkles Haar hinter die Ohren. Seit die kleine, stämmige Ermittlerin wieder in den Dienst zurückgekehrt war, machte sie das inzwischen immer, wenn sie nervös war.

    »Was gibt’s?«

    »Bei einem Raubüberfall auf eine Farmacia in der Ladenstraße hat es zwei Tote gegeben.«

    »Zwei Tote? Kollegen?«

    »Nein, Angestellte. Zwei Eins-acht-siebener. Der Chief möchte, dass alle hinfahren. Bist du hier fertig? Soll ich dich mitnehmen?«

    Bosch schaute zur geschlossenen Tür der Einsatzzentrale zurück und dachte darüber nach, was dort drinnen gesagt worden war. Was sollte er deswegen unternehmen? Wie sollte er damit umgehen?

    »Mach schon, Harry. Ich muss los. Kommst du mit oder nicht?«

    Bosch sah sie an.

    »Okay, lass uns fahren.«

    Sie gingen rasch zu dem Ausgang, der direkt zum seitlichen Parkplatz hinausführte, wo Ermittler und Führungskräfte parkten. Er zog das Handy aus seiner Hemdtasche und schaltete die Sprachaufnahme aus.

    »Willst du denen da drinnen nicht Bescheid sagen?«, fragte Lourdes.

    »Die können mich mal«, sagte Bosch.

    3

    Die Kommune San Fernando war gerade mal sechs Quadratkilometer groß und von allen Seiten von der City of Los Angeles umgeben. Für Harry Bosch war sie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, der winzige Ort und der Job, den er gefunden hatte, als seine Zeit beim LAPD zu Ende ging, obwohl er der festen Überzeugung war, dass er sehr wohl noch etwas zu bieten und eine Mission zu erfüllen hatte, nur anscheinend keinen Ort, an dem er das konnte. Nachdem wegen der Budgetkürzungen in den Jahren nach der Finanzkrise von 2008 ein Viertel seiner vierzig Officers entlassen worden war, bemühte sich das San Fernando Police Department aktiv um die Aufstellung einer Freiwilligentruppe aus pensionierten Polizisten, die in allen Einsatzbereichen aushelfen konnten, angefangen beim Streifendienst über die Kommunikation bis hin zu kriminalpolizeilichen Ermittlungen.

    Als Chief Valdez sich mit Bosch in Verbindung setzte und ihm erzählte, dass er eine ehemalige Haftzelle voller kalter Fälle hätte, aber niemanden, der sie aufarbeitete, war das für ihn wie ein Rettungsring, der einem Ertrinkenden zugeworfen wurde. Bosch hatte damals allein gelebt und keinerlei Verpflichtungen gehabt, denn zum einen war damals seine Tochter gerade zu Hause ausgezogen, um aufs College zu gehen, zum anderen war er vom LAPD, dem er fast vierzig Jahre lang gedient hatte, mehr oder weniger vor die Tür gesetzt worden. Aber vor allem fand er, dass seine Tage noch keineswegs gezählt waren. Nach all den Jahren im Polizeidienst hätte er nie damit gerechnet, eines Abends beim LAPD zur Tür rauszugehen und am nächsten Morgen nicht wieder zum Dienst kommen zu dürfen.

    In einem Lebensabschnitt, in dem die meisten Männer anfingen, Golf zu spielen, oder sich ein Boot zulegten, hatte Bosch noch nicht das Gefühl, mit seinem Berufsleben abgeschlossen zu haben. Er war jemand, der

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