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Glutnacht: Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch
Glutnacht: Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch
Glutnacht: Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch
eBook506 Seiten5 Stunden

Glutnacht: Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch

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Über dieses E-Book

Seit vier Jahren ist Harry Bosch im Ruhestand. Nun muss der ehemalige Detective des LAPD seinen einstigen Mentor John Jack Thompson zu Grabe tragen. Von ihm hat Bosch zu Beginn seiner Karriere gelernt, dass jedes Leben zählt, dass es keine Toten erster und zweiter Klasse gibt. Ein Credo, das Bosch immer beherzigt hat. Thompsons Witwe übergibt Bosch eine Akte, die ihr Mann offensichtlich entwendet und zwanzig Jahre unter Verschluss gehalten hat: Sie dokumentiert die Ermittlungen im Mordfall eines schwulen Junkies, der als Polizeispitzel tätig war. Warum hat Thompson die Akte an sich genommen, als er das LAPD verließ? Da Bosch offiziell nicht mehr selbst ermitteln darf, bittet er Detective Renée Ballard um Hilfe. Gemeinsam machen sich der pensionierte Cop und die junge ehrgeizige Polizistin an die Arbeit, und zum ersten Mal kommen Bosch Zweifel an der Integrität seines verstorbenen Mentors: Hat Thompson die Akte gestohlen, um im Ruhestand an dem Fall weiterzuarbeiten? Oder im Gegenteil: Wollte er, dass der Mord niemals aufgeklärt wird?
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum28. Juli 2022
ISBN9783311703488
Glutnacht: Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch
Autor

Michael Connelly

Michael Connelly ist mit über 85 Millionen verkauften Büchern in 45 Sprachen einer der US-amerikanischen Krimi-Superstars. 1956 geboren, wuchs er in Florida auf, wo er als Journalist arbeitete, bis ihn die Los Angeles Times als Gerichtsreporter in die Stadt holte, in der sein literarisches Idol Raymond Chandler seine Romane spielen ließ, was Connelly ihm später gleichtun sollte. Im Kampa Verlag erscheinen neben den Fällen des legendären Ermittlers Harry Bosch und der Nachtschicht-Detective Renée Ballard auch Connellys Romane mit Jack McEvoy und Michael »Mickey« Haller. Connelly lebt in Kalifornien und in Florida.

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    Buchvorschau

    Glutnacht - Michael Connelly

    Für Titus Welliver,

    der Harry Bosch Leben eingehaucht hat.

    Halt die Ohren steif.

    BOSCH

    1

    Bosch war spät dran und musste ein gutes Stück vom Grab entfernt parken. Sein Gehstock versank tief im weichen Untergrund, als er, sorgsam darauf bedacht, auf kein Grab zu treten, über den Friedhof humpelte. Als er endlich die Trauergäste von John Jack Thompsons Beerdigung sah, merkte er, dass man am Grab des ehemaligen Detective nur stehen konnte, und das wollte er seinem Knie sechs Wochen nach der OP noch nicht zumuten. Deshalb zog er sich in den nahen Garden of Legends zurück und setzte sich auf eine Betonbank, die Teil von Tyrone Powers Grab war. Weil es eindeutig eine Bank war, hielt er das für okay. Er musste daran denken, wie ihn seine Mutter als Kind ab und zu ins Kino mitgenommen hatte, um Tyrone Power zu sehen. Alte Filme, die jetzt in den Programmkinos am Beverly Boulevard gezeigt wurden. Der gut aussehende Schauspieler, den Bosch als Zorro und als den verdächtigten Amerikaner in Zeugin der Anklage in Erinnerung hatte, war sozusagen im Dienst gestorben, als er in Spanien beim Dreh einer Fechtszene einen Herzinfarkt erlitt. Bosch war das immer schon als guter Abgang erschienen – bei einer Sache, die man gern tat.

    Thompsons Begräbnis dauerte eine halbe Stunde. Bosch war zu weit vom Grab entfernt, um hören zu können, was gesagt wurde. Aber er konnte es sich denken. John Jack – so hatten ihn alle genannt – war ein guter Mann gewesen und hatte dem Los Angeles Police Department vierzig Jahre lang gedient, erst als Streifenpolizist, dann als Detective. Er hatte viele Übeltäter aus dem Verkehr gezogen und Generationen von Detectives beigebracht, wie man das machte.

    Einer von ihnen war Bosch, der dieser Legende vor mehr als drei Jahrzehnten als frischgebackener Mordermittler der Hollywood Division als Partner zugeteilt worden war. Unter anderem hatte ihm John Jack beigebracht, wie man beim Verhör einen Lügner durchschaute. John Jack hatte immer gemerkt, wenn jemand log. Einmal verriet er Bosch, dass nur ein Lügner einen Lügner erkennen konnte. Wie er zu dieser Einsicht gelangt war, hatte er ihm allerdings nie gesagt.

    Die beiden waren lediglich zwei Jahre lang ein Team, denn Bosch lernte rasch, und John Jack wurde gebraucht, um den nächsten neuen Mordermittler auszubilden. Lehrer und Schüler waren jedoch über die Jahre hinweg in Verbindung geblieben. Bosch hatte auf Thompsons Abschiedsfeier eine Rede gehalten, in der er erzählte, wie John Jack bei ihren Ermittlungen einmal den Lieferwagen einer Bäckerei anhielt, weil dieser an einer roten Ampel rechts abgebogen war, ohne vorher vollständig angehalten zu haben. Auf Boschs Frage, warum sie wegen eines derart läppischen Verkehrsverstoßes die Suche nach einem Mordverdächtigen unterbrächen, erklärte ihm John Jack, dass er und seine Frau Margaret zum Abendessen Gäste hätten und er sich um den Nachtisch kümmern müsse. Er stieg aus ihrem zivilen Streifenwagen, ging zu dem Lieferwagen, zückte seine Dienstmarke und erklärte dem Fahrer, er habe gerade einen Zwei-Kuchen-Verstoß begangen. Da er es aber nicht übertreiben wollte, gab sich John Jack mit einem Kirschkuchen zufrieden und kam damit zum Auto zurück.

    Auch wenn John Jack Thompsons legendärer Ruf in den zwanzig Jahren seit seiner Pensionierung zunehmend verblasst war, konnte sich die Trauergemeinde sehen lassen. Viele der Anwesenden kannte Bosch persönlich, weil er in seiner langen Dienstzeit beim LAPD selbst mit ihnen zusammengearbeitet hatte. Er vermutete, dass es beim anschließenden Empfang in John Jacks Haus ähnlich voll sein und sich die Zusammenkunft bis spät in den Abend hineinziehen würde.

    Bosch, dessen Generation den Abnutzungskrieg mehr und mehr verlor, hatte an zu vielen Beerdigungen pensionierter Detectives teilgenommen, um sich an alle erinnern zu können. Diese stach jedoch insofern heraus, als die LAPD-Ehrengarde mitsamt der Dudelsackpfeifer teilnahm. Das war eine Verneigung vor John Jacks einstigem Ansehen bei der Polizei. Mit feierlichem Ernst schallte »Amazing Grace« über den Friedhof und über die Mauer, die ihn von den Paramount Studios trennte.

    Als der Sarg ins Grab hinabgelassen war und die ersten Trauergäste zu ihren Autos aufbrachen, ging Bosch zu Margaret, die immer noch mit einer gefalteten Flagge im Schoß dasaß. Sie lächelte Bosch an.

    »Harry, also hast du meine Nachricht bekommen«, begrüßte sie ihn. »Danke, dass du gekommen bist.«

    »Das wäre ja noch schöner«, sagte Bosch.

    Er beugte sich zu ihr hinab, küsste sie auf die Wange und drückte ihr die Hand.

    »Er war ein guter Mann, Margaret«, sagte er. »Ich habe viel von ihm gelernt.«

    »Ja, das war er«, sagte sie. »Und du warst einer seiner Lieblinge. Er war sehr stolz darauf, dass du so viele Fälle gelöst hast.«

    Bosch wandte sich von ihr ab und schaute ins Grab hinunter. John Jacks Sarg schien aus Edelstahl zu sein.

    »Er hat ihn selbst ausgesucht«, sagte Margaret. »Er fand, er sieht aus wie eine Kugel.«

    Bosch grinste.

    »Tut mir leid, dass ich ihn nicht mehr besucht habe«, sagte er. »Bevor es mit ihm zu Ende gegangen ist.«

    »Mach dir deswegen bloß keine Gedanken, Harry«, sagte sie. »Du hattest doch die Probleme mit deinem Knie. Wie geht es dir eigentlich damit?«

    »Es wird von Tag zu Tag besser. Lange werde ich den Stock nicht mehr brauchen.«

    »Als sich John Jack sein Knie hat machen lassen, war das wie ein neues Leben für ihn. Das war vor fünfzehn Jahren.«

    Bosch nickte nur. Ein neues Leben hielt er für ziemlich optimistisch.

    »Kommst du nachher noch vorbei?«, fragte Margaret. »Ich habe nämlich was für dich. Von ihm.«

    Bosch sah sie an.

    »Von ihm?«

    »Du wirst schon sehen. Etwas, das ich nur dir geben würde.«

    Nicht weit vom Grab entfernt sah Bosch zwei Stretchlimousinen, vor denen mehrere Angehörige warteten.

    »Soll ich dich zur Limo rüber begleiten?«, fragte Bosch.

    »Das wäre nett, Harry«, sagte Margaret.

    2

    Am Vormittag hatte Bosch bei Gelson’s einen Kirschkuchen abgeholt und sich deshalb zur Beerdigung verspätet. Jetzt trug er ihn in den Bungalow in der Orange Grove Avenue, wo John Jack und Margaret über fünfzig Jahre lang gelebt hatten. Er stellte ihn zu den anderen Platten und Schüsseln auf den Esszimmertisch.

    Im Haus herrschte großes Gedränge. Nach allen Seiten grüßend und ein paar Hände schüttelnd, schob sich Bosch auf der Suche nach Margaret zwischen den Gästen hindurch. Er fand sie in der Küche, wo sie gerade mit Topflappen eine heiße Kasserolle aus dem Ofen holte. Um sich zu beschäftigen.

    »Harry«, sagte sie, »hast du den Kuchen mitgebracht?«

    »Ja«, sagte er. »Ich habe ihn auf den Tisch gestellt.«

    Sie öffnete eine Schublade und reichte Bosch einen Tortenheber und ein Messer.

    »Was wolltest du mir geben?«, fragte Bosch.

    »Jetzt sei doch nicht so ungeduldig«, sagte Margaret. »Erst mal schneidest du den Kuchen, und dann gehst du in John Jacks Arbeitszimmer hinter. Den Flur runter links. Es ist auf dem Schreibtisch. Du kannst es nicht übersehen.«

    Bosch ging ins Esszimmer und teilte den Kuchen mit dem Messer in acht Stücke. Dann bahnte er sich wieder einen Weg durch das Gedränge im Wohnzimmer in den Flur, der zu John Jacks Arbeitszimmer führte. Dort war er früher oft gewesen. In den Jahren, als sie gemeinsam ermittelt hatten, war Bosch nach einer langen Schicht nicht selten noch zu einem von Margaret zubereiteten späten Abendessen und einer Strategiebesprechung zu John Jack mitgekommen. Manchmal hatte er danach auch noch ein paar Stunden auf der Couch in John Jacks Arbeitszimmer geschlafen, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Sogar ein paar frische Sachen zum Wechseln hatte er dort deponiert. Und Margaret hatte ihm immer ein frisches Handtuch ins Gästebad gelegt.

    Die Tür des Arbeitszimmers war zu, und obwohl er wusste, dass es leer war, klopfte er.

    Er öffnete die Tür und betrat ein kleines, vollgestopftes Arbeitszimmer mit Regalen an den zwei Seitenwänden und einem Schreibtisch unter dem Fenster. Die Couch an der Wand gegenüber dem Fenster war immer noch da. Auf der grünen Schreibtischunterlage lag ein zehn Zentimeter dicker blauer Plastikordner.

    Ein Mordbuch.

    BALLARD

    3

    Ungerührt betrachtete Ballard, was von den Überresten noch zu sehen war. Aus dieser Nähe war der Geruch von Petroleum und verbranntem Fleisch kaum auszuhalten, aber das schreckte sie nicht ab. Bis zum Eintreffen der Brandermittler war sie für den Tatort verantwortlich. Die Nylonplane des Zelts war von der Hitze geschmolzen und dann auf das Opfer gefallen. An den Stellen, wo sich die Flammen nicht ganz durchgefressen hatten, umhüllte die Plane die Leiche. Der Tote wirkte vollkommen ruhig und gelöst, und Ballard fragte sich, wie er unter diesen Umständen hatte weiterschlafen können. Aber sie wusste, dass bei der Obduktion der Alkohol- und Drogengehalt in seinem Blut bestimmt würde. Vielleicht hatte er nicht das Geringste gespürt.

    Obwohl sie wusste, dass nicht sie für die weiteren Ermittlungen zuständig sein würde, holte sie ihr Handy heraus und machte Fotos von der Leiche und vom Tatort, einschließlich mehrerer Nahaufnahmen des umgekippten Campingheizstrahlers, des mutmaßlichen Brandauslösers. Dann öffnete sie die Wetter-App ihres Handys und stellte fest, dass für Hollywood 11 Grad Celsius als aktuelle Außentemperatur angegeben waren. Das würde sie in ihrem Bericht vermerken und an die Brandermittler des Fire Department weiterleiten.

    Sie machte einen Schritt zurück und blickte sich um. Es war 3:15 Uhr morgens, und die Cole Avenue war wie ausgestorben, sah man von den Obdachlosen ab, die aus den Zelten und Pappkartonhütten gekommen waren, die den Gehsteig entlang dem Hollywood Recreation Center säumten. Mit großen Augen verfolgten sie die Ermittlungen, die über den Tod eines der Ihren angestellt wurden.

    »Wieso ist das bei uns gelandet?«, fragte Ballard.

    Stan Dvorek, der Sergeant der Streifenpolizei, der sie angefordert hatte, kam zu ihr. Er war schon länger bei der Late Show, der Nachtschicht, als sonst jemand in der Hollywood Division – über zehn Jahre. Andere in der Schicht nannten ihn deshalb »The Relic«, das Relikt, allerdings nie in seinem Beisein.

    »Das FD hat uns angerufen«, sagte er. »Sie hatten es von ihrer Notrufzentrale. Ein Autofahrer hat das Feuer gesehen und bei ihnen gemeldet.«

    »Haben sie den Namen des Anrufers?«, fragte Ballard.

    »Hat er nicht angegeben. Er hat es nur gemeldet und ist einfach weitergefahren.«

    »Na, super.«

    Zwei Feuerwehrautos waren noch da. Sie waren aus der nur drei Straßen entfernten Station 27 angerückt, um das brennende Zelt zu löschen. Die Löschteams warteten darauf, zu dem Vorfall befragt zu werden.

    »Die Feuerwehrleute übernehme ich«, sagte Ballard. »Kannst du mit deinen Leuten vielleicht mit einigen der anderen Leute hier reden, fragen, ob jemand was gesehen hat?«

    »Ist das nicht Sache der Brandermittler?«, fragte Dvorek. »Wenn wir jemanden finden, der was Brauchbares beizusteuern hat, müssen die doch nur noch mal mit ihm reden.«

    »Wir waren als Erste am Tatort, Devo. Wir müssen es korrekt durchziehen.«

    Ballard ging einfach weg und beendete damit die Debatte. Dvorek war zwar der Leiter der Streife, aber für den Tatort war sie verantwortlich. Solange nicht feststand, dass es sich bei dem tödlichen Brand um einen Unfall handelte, war die Brandstelle für sie ein Tatort.

    Sie ging zu den wartenden Feuerwehrmännern und fragte, welches der beiden Teams zuerst eingetroffen war. Dann fragte sie die sechsköpfige Besatzung des ersten Feuerwehrautos, was sie gesehen hatten. Sie hatten wenig brauchbare Informationen für sie. Das Feuer, das das Zelt zerstört hatte, war bei ihrer Ankunft schon fast von selbst ausgegangen. Niemand hatte in der Umgebung des brennenden Zelts oder im angrenzenden Park jemanden gesehen. Keine Zeugen, keine Verdächtigen. Um die letzten Flammen zu löschen, hatte ein Feuerlöscher aus dem Einsatzfahrzeug genügt, und da das Opfer eindeutig tot gewesen war, wurde es nicht mehr ins Krankenhaus gebracht.

    Danach ging Ballard ein Stück die Straße hinauf und hinunter und hielt nach Überwachungskameras Ausschau. Das Obdachlosenlager verlief entlang der Basketballplätze des öffentlichen Parks, auf denen es keine Kameras gab. Auf der Westseite der Cole Avenue standen einstöckige Lagerhallen von Firmen, die Requisiten und Kameraequipment an Film- und Fernsehstudios verliehen. Ballard sah zwar ein paar Überwachungskameras, aber die waren entweder Attrappen, oder sie waren so angebracht, dass die von ihnen erfassten Bereiche für die Ermittlungen nicht hilfreich waren.

    Als sie an die Brandstelle zurückkehrte, sah sie Dvorek mit zwei seiner Streifenpolizisten reden. Ballard kannte sie vom Morgenappell in der Hollywood Division.

    »Irgendwas Brauchbares?«, fragte sie.

    »Das Übliche«, sagte Dvorek. »›Nichts gesehen‹, ›Nichts gehört‹, ›Ich weiß von nichts‹. Reine Zeitverschwendung.«

    Ballard nickte. »Es musste trotzdem sein.«

    »Wo bleiben eigentlich die Brandermittler?«, maulte Dvorek. »Wir haben auch noch anderes zu tun.«

    »Letzter Stand ist, dass sie unterwegs sind. Sie sind nicht rund um die Uhr besetzt. Deshalb mussten sie erst ein Team aus den Betten holen.«

    »Na, super. Sollen wir etwa die ganze Nacht hier rumstehen? Hast du den Rechtsmediziner schon rausgetrommelt?«

    »Ebenfalls schon unterwegs. Wahrscheinlich kannst du mit der Hälfte deiner Leute schon mal abziehen. Aber lass einen Wagen hier.«

    »Alles klar.«

    Dvorek entfernte sich, um seinen Leuten neue Anweisungen zu erteilen. Ballard ging zur Brandstelle zurück und betrachtete das Zelt, das wie ein Leichentuch über den Toten geschmolzen war. Dabei bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie eine Frau und ein Mädchen aus einem Unterschlupf krochen, der aus einer an der Umzäunung eines Basketballplatzes befestigten blauen Plastikplane bestand. Ballard ging rasch auf sie zu und lotste sie von der Leiche fort.

    »Das willst du sicher nicht sehen«, sagte sie zu dem Mädchen. »Komm lieber hier rüber.«

    Sie führte die beiden auf dem Gehsteig ans Ende des Lagers.

    »Wieso? Was ist passiert?«, fragte die Frau.

    Ballard behielt das Mädchen im Auge, als sie antwortete.

    »Jemand ist in seinem Zelt verbrannt«, sagte sie. »Haben Sie was gesehen? Es ist vor etwa einer Stunde passiert.«

    »Wir haben geschlafen«, sagte die Frau und deutete auf das Mädchen. »Sie muss am Morgen in die Schule.«

    Das Mädchen sagte noch immmer nichts.

    »Warum sind Sie nicht in einem Heim?«, fragte Ballard. »Hier ist es doch nicht sicher. Das Feuer hätte sich ausbreiten können.«

    Sie schaute von der Mutter zur Tochter.

    »Wie alt bist du?«

    Das Mädchen hatte große braune Augen und braunes Haar und war leicht übergewichtig. Die Frau stellte sich vor das Mädchen und antwortete an seiner Stelle.

    »Bitte, nehmen Sie sie mir nicht weg.«

    Ballard sah den flehentlichen Blick in den braunen Augen der Frau.

    »Das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich will nur, dass ihr nichts passiert. Sind Sie ihre Mutter?«

    »Ja. Sie ist meine Tochter.«

    »Wie heißt sie?«

    »Amanda – Mandy.«

    »Wie alt?«

    »Vierzehn.«

    Ballard beugte sich zu dem Mädchen hinab, um mit ihm zu reden. Es hatte den Blick gesenkt.

    »Mandy? Bei dir alles okay?«

    Das Mädchen nickte.

    »Möchtest du, dass ich versuche, für dich und deine Mutter einen Platz in einem Heim für Frauen und Kinder zu bekommen? Dort hättet ihr es besser als hier.«

    Mandy blickte zu ihrer Mutter hoch, als sie antwortete.

    »Nein. Ich will mit meiner Mutter hierbleiben.«

    »Ich werde euch nicht trennen. Ich würde dich und deine Mutter dort unterbringen, wenn du möchtest.«

    Das Mädchen schaute Rat suchend zu seiner Mutter hoch.

    »Wenn Sie mich da reinstecken, nehmen sie sie mir weg«, sagte die Mutter. »Das weiß ich ganz genau.«

    »Nein, ich will hierbleiben«, sagte das Mädchen rasch.

    »Na schön«, sagte Ballard. »Dann werde ich nichts unternehmen, aber ich finde nicht, dass Sie hier leben sollten. Das ist für Sie beide nicht sicher.«

    »In den Heimen ist man auch nicht sicher«, sagte die Mutter. »Dort stehlen sie einem alles.«

    Ballard zog eine Visitenkarte heraus und gab sie ihr.

    »Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte sie. »Ich habe die Schicht nach Mitternacht. Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen.«

    Die Mutter nahm die Karte und nickte. Ballards Gedanken kehrten zu dem Fall zurück. Sie drehte sich um und deutete auf die Brandstelle.

    »Haben Sie ihn gekannt?«, fragte sie.

    »Flüchtig«, sagte die Mutter. »Er war die meiste Zeit für sich.«

    »Wissen Sie, wie er heißt?«

    »Ed, glaube ich. Eddie, hat er gesagt.«

    »Okay. War er schon lange hier?«

    »Ein paar Monate. Er hat gesagt, vorher war er drüben in der Blessed Sacrament Church, aber dann ist es ihm dort zu voll geworden.«

    Ballard wusste, dass die Blessed Sacrament Church am Sunset Boulevard die Obdachlosen in der Säulenhalle vor dem Eingang campieren ließ. Sie fuhr oft daran vorbei und wusste, dass es dort nachts immer sehr voll war. Aber nach Tagesanbruch, bevor die Gottesdienste begannen, waren alle Zelte und provisorischen Unterschlüpfe wieder verschwunden.

    Nachts, wenn die Neonreklamen und der Glitter erloschen, war Hollywood ein anderer Ort. Diese Veränderung konnte Ballard jeden Abend beobachten. Dann wurde es ein Ort für Raubtiere und ihre Beute und nichts dazwischen, ein Ort, wo die Besitzenden hinter ihren verriegelten Türen in Sicherheit waren und die Habenichtse frei herumstreiften. Ballard kamen dann immer die Worte eines Nachtschichtpoeten in den Sinn. Er nannte sie »menschliche Steppenläufer, vom Wind des Schicksals verweht«.

    »Hatte er hier mit irgendwem Ärger?«, fragte sie.

    »Nicht, dass ich wüsste«, sagte die Mutter.

    »Haben Sie ihn gestern Abend gesehen?«

    »Nein, ich glaube nicht. Er war nicht hier, als wir uns schlafen gelegt haben.«

    Ballard beobachtete Amanda, ob sie vielleicht eine Reaktion zeigte. Aber sie wurde von einer Stimme gestört.

    »Detective?«

    Ballard drehte sich um. Es war einer von Dvoreks Streifenpolizisten. Er hieß Rollins. Er war neu bei der Hollywood Division, sonst hätte er sie nicht so förmlich angesprochen.

    »Was ist?«

    »Die Brandermittler sind jetzt hier. Sie …«

    »Okay. Komme gleich.«

    Sie wandte sich wieder der Frau und ihrer Tochter zu.

    »Danke«, sagte sie. »Und denken Sie dran, Sie können mich jederzeit anrufen.«

    Als Ballard zu der Leiche und den Brandermittlern zurückging, musste sie an den Spruch von den Steppenläufern denken. Er stand auf der Field-Interview-Karte eines Officer, von dem Ballard später erfuhr, dass er zu viele von den deprimierenden dunklen Stunden Hollywoods mitbekommen hatte. Er hatte sich das Leben genommen.

    4

    Die Brandermittler der Feuerwehr hießen Nuccio und Spellman. Vorschriftsmäßig trugen sie blaue Overalls mit dem LAFD-Logo auf der Brusttasche und dem Schriftzug BRANDURSACHENERMITTLUNG auf dem Rücken. Nuccio war der ranghöhere der beiden und erklärte Ballard, dass er die Ermittlungen leitete. Beide Männer schüttelten ihr die Hand, bevor Nuccio erklärte, dass von jetzt an sie die Ermittlungen übernähmen. Darauf setzte Ballard sie darüber in Kenntnis, dass sie bei einer vorläufigen Inaugenscheinnahme des Obdachlosenlagers keine Zeugen aufgetan und in der Cole Avenue keine auf die Brandstelle gerichteten Überwachungskameras entdeckt hatte. Außerdem wies sie die Brandermittler darauf hin, dass bereits ein Team der Rechtsmedizin sowie ein Kriminaltechniker des LAPD-Labors zur Brandstelle unterwegs waren.

    Das schien Nuccio nicht groß zu interessieren. Er reichte Ballard eine Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse und bat sie, ihm den Totenschein zu schicken, sobald sie ihn nach ihrer Rückkehr in die Hollywood Station ausgestellt hatte.

    »Mehr nicht?«, fragte Ballard. »Ist das alles, was Sie brauchen?«

    Sie wusste, dass die Brandermittler des LAFD eine gründliche polizeiliche Ausbildung durchlaufen hatten und bei jedem Todesfall in Verbindung mit einem Brand vollwertige Ermittlungen anstellen konnten. Sie wusste aber auch, dass sie in ähnlicher Konkurrenz mit dem LAPD standen, wie ein kleiner Bruder häufig mit seinem größeren. Die Brandermittler standen nicht gern im Schatten des LAPD.

    »Das ist alles«, sagte Nuccio. »Schicken Sie mir Ihren Bericht, dann habe ich Ihre Mailadresse und kann Ihnen Bescheid geben, was bei der Sache herauskommt.«

    »Kriegen Sie noch heute Morgen«, sagte Ballard. »Sollen die Streifenpolizisten noch bleiben?«

    »Klar. Einer oder zwei wären sicher hilfreich. Damit sie uns den Rücken freihalten.«

    Ballard ging zu Rollins und seinem Partner Randolph, die an ihrem Wagen auf weitere Anweisungen warteten. Sie sagte ihnen, sie sollten hierbleiben und den Tatort während der Ermittlungen des LAFD sichern.

    Dann rief Ballard mit ihrem Handy im Büro des Schichtleiters der Hollywood Division an und gab durch, dass sie in die Station zurückfahren wollte. Der Lieutenant hieß Washington und war erst vor Kurzem von der Wilshire Division nach Hollywood versetzt worden. Obwohl er auch davor schon in Schicht drei gearbeitet hatte, wie die Nachtschicht offiziell hieß, musste er sich noch an die Abläufe in der Hollywood Division gewöhnen. In den meisten Divisions war nach Mitternacht nicht mehr viel los. Das war in Hollywood anders. Deshalb hieß die Nachtschicht hier die Late Show.

    »Das LAFD braucht mich nicht mehr, L.T.«, sagte Ballard.

    »Wonach sieht das Ganze aus?«, fragte Washington.

    »Als ob der Typ im Schlaf seinen Heizstrahler umgestoßen hätte. Aber wir haben keine Zeugen oder Kameras in der Nähe. Jedenfalls haben wir bis jetzt noch keine gefunden, und die Typen vom Fire Department machen nicht den Eindruck, als würden sie allzu genau suchen.«

    Washington schwieg eine Weile, dann traf er eine Entscheidung.

    »Gut, dann kommen Sie zurück und schreiben Ihren Bericht, Ballard. Wenn sie meinen, alles allein machen zu müssen, sollen sie eben.«

    »Alles klar«, sagte Ballard. »Dann fahre ich jetzt los.«

    Sie legte auf und ging zu Rollins und Randolph, um ihnen zu sagen, dass sie in die Station zurückfuhr und sie ihr Bescheid geben sollten, wenn sich etwas Neues ergab.

    Um vier Uhr morgens brauchte sie nur fünf Minuten zurück in die Station. Der Parkplatz war verlassen, als sie ausstieg und zum Hintereingang ging. Sie schloss ihn mit ihrem Kartenschlüssel auf und nahm den längeren Weg zum Bereitschaftsraum der Detectives, um vorher im Büro des Schichtleiters vorbeizuschauen und sich bei Washington zu melden. Das war erst seine zweite Stationierung, und er war noch dabei, sich einzuleben. Um sich mit ihm vertraut zu machen, ging Ballard in jeder Schicht ganz bewusst zwei-, dreimal durch das Büro des Schichtleiters. Genau genommen war ihr Chef Terry McAdams, der Detective Lieutenant der Division, aber weil er tagsüber Dienst hatte, bekam sie ihn so gut wie nie zu sehen. Infolgedessen war eigentlich Washington ihr Vorgesetzter, und deshalb wollte sie eine gute Beziehung zu ihm aufbauen.

    Washington saß an seinem Schreibtisch und schaute auf den Einsatz-Monitor, auf dem die GPS-Standorte sämtlicher Polizeieinheiten der Division zu sehen waren. Er war ein großer Afroamerikaner mit glatt rasiertem Schädel.

    »Wie läuft’s?«, fragte Ballard.

    »Alles ruhig so weit«, sagte Washington.

    Er starrte mit zusammengekniffenen Augen auf einen bestimmten Punkt des Bildschirms. Ballard stellte sich an die Seite seines Schreibtischs, damit auch sie darauf schauen konnte.

    »Was gibt’s?«, fragte sie.

    »Da sind drei Streifenwagen an der Ecke Seward/Santa Monica«, sagte Washington. »Und keiner meldet sich.«

    Ballard deutete auf den Monitor. Die Division war in 35 Zonen unterteilt, die wiederum sieben festen Fahrzeugbezirken zugeordnet waren. Das hieß in der Praxis, dass in jedem Fahrzeugbezirk immer mindestens ein Streifenwagen im Einsatz sein musste. Zusätzlich dazu gab es Wagen von Supervisoren wie Sergeant Dvorek, die im gesamten Divisionsgebiet Überwachungsaufgaben nachkamen. »An dieser Stelle grenzen drei Fahrzeugbezirke aneinander«, sagte sie. »Und außerdem steht dort rund um die Uhr ein Seafood-Truck. Deshalb können dort alle Code sieben machen, ohne ihre Zonen verlassen zu müssen.«

    »Ach so«, sagte Washington. »Danke, Ballard. Gut zu wissen.«

    »Kein Problem. Ich wollte mir im Aufenthaltsraum Kaffee machen. Möchten Sie auch einen?«

    »Ich wusste zwar nichts von diesem Seafood-Truck, Ballard, aber ich weiß über Sie Bescheid. Sie brauchen mir keinen Kaffee zu holen. Das kann ich auch selber machen.«

    Die Antwort überraschte Ballard, und am liebsten hätte sie Washington gefragt, was er über sie wusste, tat es dann aber doch nicht.

    »Alles klar«, sagte sie stattdessen nur.

    Sie ging den Hauptgang hinunter und blickte nach links in den Flur, der zum Bereitschaftsraum der Detectives führte. Wie erwartet war er leer. Sie schaute auf die Wanduhr. Noch über zwei Stunden bis Schichtende. Damit blieb ihr reichlich Zeit, um den Bericht über den verbrannten Obdachlosen zu schreiben. Sie steuerte auf das Abteil in der rechten hinteren Ecke zu, das sie normalerweise benutzte. Von dort hatte sie den ganzen Raum im Blick und konnte sofort sehen, wenn jemand hereinkam.

    Als sie zu dem Zeltbrand gerufen wurde, hatte sie ihren Laptop offen auf dem Schreibtisch stehen gelassen. Sie schaute sich eine Weile um, bevor sie sich setzte. Jemand hatte die Einstellung an dem kleinen Radio verändert, das sie normalerweise an ihrem Arbeitsplatz stehen hatte. Es war nicht wie üblich auf den Nachrichtensender KNX 1070 gestellt, den sie meistens hörte, sondern auf KJAZ 88.1. Außerdem hatte jemand den Laptop auf die Seite geschoben und einen verblichenen blauen Ordner – ein Mordbuch – auf den Schreibtisch gelegt. Sie schlug es auf. An der Inhaltsangabe klebte eine Haftnotiz.

    Sag bloß nicht, du kriegst nie was von mir.

    B

    PS: Jazz ist besser für dich als Nachrichten.

    Ballard entfernte die Haftnotiz, denn sie verdeckte den Namen des Opfers.

    John Hilton – geb. 17.1.66; gest. 3.8.90

    Sie brauchte die Inhaltsangabe nicht, um den Abschnitt mit den Fotos zu finden. Sie schlug mehrere Kategorien von Berichten auf den Stahlbügeln des Ordners um, bis sie zu den Fotos in ihren Sichthüllen kam. Sie zeigten die Leiche eines jungen Mannes mit einer Schusswunde hinter dem rechten Ohr, der über den Vordersitz eines Autos gesunken war.

    Nachdem sie die Fotos eine Weile studiert hatte, klappte sie den Ordner wieder zu. Dann holte sie ihr Handy heraus, sah eine Nummer nach, rief sie an und schaute auf die Uhr, während sie wartete. Fast sofort ging ein Mann dran, und er hörte sich nicht so an, als hätte sie ihn gerade aus tiefstem Schlaf gerissen.

    »Hier Ballard«, sagte sie. »Warst du heute Nacht hier in der Station?«

    »Ähm, ja«, sagte Bosch. »Ich habe vor etwa einer Stunde vorbeigeschaut. Du warst nicht da.«

    »Ich war auf einem Einsatz. Und woher kommt dieses Mordbuch?«

    »Man könnte vermutlich sagen, es war vermisst. Gestern war ich auf einer Beerdigung – mein erster Partner als Mordermittler. Er hat mich damals angelernt. Ist also schon ein paar Jahre her. Und jetzt ist er gestorben, und ich war auf seiner Beerdigung, und danach, bei ihm zu Hause, hat mir seine Frau – seine Witwe – das Buch gegeben. Sie wollte, dass ich es zurückgebe. Deshalb habe ich das getan. Ich habe es dir zurückgegeben.«

    Ballard klappte den Ordner wieder auf und las die Zusammenfassung über der Inhaltsangabe.

    »George Hunter war dein Partner?«, fragte sie.

    »Nein«, sagte Bosch. »Mein Partner war John Jack Thompson. Es war ursprünglich gar kein Fall von ihm.«

    »Es war kein Fall von ihm, aber als er in Rente gegangen ist, hat er das Mordbuch gestohlen.«

    »Also, ich weiß nicht, ob ich hier gleich von ›stehlen‹ reden würde.«

    »Wie würdest du es denn nennen?«

    »Ich würde sagen, er hat die Ermittlungen zu einem Fall übernommen, an dem niemand mehr gearbeitet hat. Lies einfach mal die Chrono. Dann wirst du sehen, dass sich einiger Staub darauf angesammelt hat. Der Detective, der den Fall ursprünglich hatte, ist wahrscheinlich in Rente gegangen, und dann hat sich niemand mehr dafür interessiert.«

    »Wann ist Thompson in Rente gegangen?«

    »Im Januar 2000.«

    »Also echt, so lange hatte er das Mordbuch bei sich rumliegen? Fast zwanzig Jahre?«

    »Sieht ganz so aus.«

    »Das finde ich aber ganz schön scheiße.«

    »Ich will John Jack keineswegs verteidigen, aber wahrscheinlich hat er sich eingehender mit dem Fall befasst, als das in der Einheit Offen-Ungelöst jemals jemand getan hätte. Dort machen sie fast ausschließlich DNA-Fälle, und bei diesem spielt DNA keine Rolle. Folglich hätten sie diesen hier einfach verstauben lassen, wenn John Jack das Mordbuch nicht mitgenommen hätte.«

    »Du weißt also, dass es keine DNA gibt? Und die Chrono hast du dir auch schon angesehen?«

    »Ja, hab ich. Ich habe mir das Buch sofort vorgenommen, als ich von der Beerdigung nach Hause gekommen bin, und sobald ich es durchhatte, habe ich es dir vorbeigebracht.«

    »Und warum hast du es mir gebracht?«

    »Weil wir eine Abmachung haben. Oder hast du das schon wieder vergessen? Wir wollten gemeinsam an Fällen arbeiten.«

    »Und jetzt willst du den hier mit mir machen?«

    »Gewissermaßen.«

    »Was soll das heißen?«

    »Bei mir tut sich gerade einiges. Gesundheitlich, meine ich. Und ich weiß nicht, wie viel …«

    »Was tut sich bei dir gesundheitlich?«

    »Ich habe gerade ein neues Kniegelenk bekommen, und jetzt stecke ich gerade mitten in der Reha, und es könnte zu Komplikationen kommen. Deshalb weiß ich nicht, wie weit ich mich aktiv an den Ermittlungen beteiligen kann.«

    »Und deshalb kippst du den Fall jetzt mir über. Du verstellst mein Radio und kippst mir diesen Fall über.«

    »Nein. Ich will dir natürlich helfen, und ich werde dir auch helfen. John Jack war mein Lehrmeister. Er war derjenige, der mir die Grundregel beigebracht hat.«

    »Und was ist das für eine Grundregel?«

    »Man muss jeden Fall persönlich nehmen.«

    »Wie bitte?«

    »Wenn du jeden Fall persönlich nimmst, wirst du stinksauer. Das entfacht ein Feuer in dir. Es verschafft dir den Biss, den du brauchst, um jedes Mal von Neuem bis zum Schluss durchzuhalten.«

    Ballard dachte darüber nach. Sie verstand, was er sagen wollte, wusste aber auch, dass es nicht ganz ungefährlich war, nach diesem Motto zu leben und zu arbeiten.

    »Hat er wirklich gesagt ›jeden Fall‹?«, fragte sie.

    »›Jeden Fall‹«, sagte Bosch.

    »Dann hast du also gerade alles von Anfang bis Ende gelesen?«

    »Ja. Hat etwa sechs Stunden gedauert. Mit ein paar Unterbrechungen. Ich muss immer wieder ein bisschen rumgehen, mein Knie bewegen.«

    »Und wieso hat John Jack genau diesen Fall persönlich genommen?«

    »Keine Ahnung. Das hat sich mir bisher nicht erschlossen. Aber ich weiß, dass er es irgendwie geschafft hat, jeden Fall persönlich zu nehmen. Wenn du herausfindest, was es war, gelingt es dir vielleicht, den Fall zu lösen.«

    »Wenn ich es finde?«

    »Na ja, wenn wir es finden. Aber wie gesagt, ich habe bereits gesucht.«

    Ballard schlug wieder die einzelnen Abschnitte um, bis sie zu den Fotos in den Klarsichthüllen kam.

    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Kommt mir alles ein bisschen arg unwahrscheinlich vor. Wenn George Hunter den Fall nicht lösen konnte und dann auch John Jack Thompson nicht, weshalb soll es uns dann plötzlich gelingen?«

    »Weil du das gewisse Etwas hast«, sagte Bosch. »Dieses Feuer. Wir haben es im Kreuz, diesem Jungen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

    »Komm mir bloß nicht mit deiner blöden Gerechtigkeitsnummer. Verarschen kann ich mich auch alleine, Bosch.«

    »Okay, dann eben nicht. Aber würdest du wenigstens die Chrono mal lesen und in das Buch reinschauen, bevor du eine endgültige Entscheidung triffst? Wenn du das tust und dann sagst, dass du nicht weitermachen willst, kein Problem. Liefere das Buch meinetwegen ab oder gib es mir zurück. Dann arbeite ich allein daran. Wenn ich die Zeit dazu finde.«

    Zunächst antwortete Ballard nicht. Sie musste erst überlegen. Sie wusste, die korrekte Vorgehensweise wäre, das Mordbuch der Einheit Offen-Ungelöst zu überstellen, ihnen zu erklären, wie es nach Thompsons Tod in ihren Besitz gelangt war, und es dabei zu belassen. Aber wie Bosch gesagt hatte, hatte das höchstwahrscheinlich zur Folge, dass der Fall ins Archiv wanderte und dort verstaubte.

    Sie sah sich wieder die Fotos an. Ihr erster Eindruck war, dass es sich um einen aus dem Ruder gelaufenen Drogendeal handelte. Das Opfer fährt vor, zahlt und bekommt statt einem Ballon Heroin – oder was sonst die Droge seiner Wahl war – eine Kugel in den Kopf.

    »Eine Sache wäre da allerdings noch«, sagte Bosch.

    »Und die wäre?«, fragte Ballard.

    »Die Kugel. Falls sie noch bei den Beweismitteln ist. Du musst sie in NIBIN eingeben und sehen, was dabei herauskommt. Diese Ballistik-Datenbank hat es 1990 noch nicht gegeben.«

    »Trotzdem, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas dabei herauskommt?«

    Sie wusste, dass in dieser nationalen Datenbank die unverwechselbaren Eigenschaften von Geschossen und Patronenhülsen gespeichert waren, die an Tatorten gefunden worden waren, aber sie war alles andere als ein vollständiges Archiv. Um einen Vergleich vornehmen zu können, mussten Daten zu einem bestimmten Projektil unter Verweis auf dieses Projektil eingegeben werden. Allerdings hinkten die meisten Polizeibehörden, darunter auch das LAPD, bei diesem Archivierungsprozess noch gewaltig hinterher. Dennoch gab es dieses Archiv für Projektile seit Beginn des Jahrtausends, und der Umfang der gespeicherten Daten nahm beständig zu.

    »Besser als nichts ist es trotzdem«, sagte Bosch.

    Ballard erwiderte nichts. Sie betrachtete das Mordbuch und fuhr mit einem Fingernagel über den Rand der Dokumente, sodass ein scharfes schnarrendes Geräusch entstand.

    »Okay«, sagte sie schließlich. »Ich werde mal reinschauen.«

    »Gut«, sagte Bosch. »Sag mir Bescheid, was

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