Am Rand von EuropaCity: Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #9
Von Yves Mettler
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Über dieses E-Book
Das Heft erzählt die Entstehungsgeschichte der Europacity, welche bis kurz vor ihrer Fertigstellung so gut wie keine öffentliche Auseinandersetzung hervorgerufen hat. Eine Stimmencollage dokumentiert die Sicht auf die Europacity aus der Perspektive der angrenzenden Stadtviertel. Im Textbeitrag der Politologin Teresa Pullano geht es um die Zusammenhänge zwischen einem historisch-kulturellen Europabild und Formen des ökonomischen und politischen Kapitals, so wie sie sich in der Europacity zeigen.
Die Recherchen und Erfahrungsberichte wurden im Rahmen des künstlerischen Projekts „Am Rand von EuropaCity“ (2018/19) erarbeitet, welches durch Prozesse des ‚kollektiven Zuhörens‘ Anwohner*innen, Künstler*innen und Theoretiker*innen miteinander ins Gespräch brachte.
Yves Mettler
Yves Mettlers Arbeiten zielen darauf ab, einen Sinn für die heutigen globalen Urbanisierungsprozesse zu schaffen. Sein Werk reicht von Interventionen im öffentlichen Raum bis hin zu Klanginstallationen. Die Werke bilden ein narratives Gefüge, das der städtischen Umwelt einen vielstimmigen, emotionalen und oft humorvollen Ausdruck verleiht. Seit 2002 entwickelt er eine Forschungs- und Kunstpraxis rund um urbane Orte, die „Europaplatz” heissen. 2021 veröffentlichte Urbanomic sein Buch Atlas Europe Square. 2018-2019 organisierte er zusammen mit Achim Lengerer und Alexis Hyman Wolff das Projekt “Am Rand von EuropaCity” in Berlin. Seine Arbeiten wurden auf der Kaunas Biennale (2021), im Hamburger Bahnhof, Berlin (2017), Bozar, Brüssel (2016), Kunsthaus Langenthal (2012), Bawag Contemporary Vienna (2009). Er besitzt einen MFA der Kunstakademie Wien, einen MA in Kunsttheorie und Sprache, EHESS, und ein Kunst und Politik MFA von Bruno Latours Pilotprojekt an Sciences-PO, Paris. Er ist Mitgründer und -herausgeber seit 2002 der Kunstzeitschrift ztscrpt.net.
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Buchvorschau
Am Rand von EuropaCity - Yves Mettler
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer, Yves Mettler
Europacity: Namen tragen Erwartungen!
Yves Mettler
Unbequeme Grenzen
Alexis Hyman Wolff
Stimmencollage
Am Rand von EuropaCity oder die unmögliche Erfahrung
Teresa Pullano
Soundarchiv
Gilles Aubry
,Trauer des Zugangs‘, 25’01’’, Soundcollage von Gilles Aubry, zusammengestellt aus dem Audiomaterial, das während des Projekts Am Rand von EuropaCity entstanden ist.
Europaplatz, 2019
Einleitung
Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer, Yves Mettler
Seit den neunziger Jahren stehen Städte unter dem Druck der sich in Europa verbreitenden neoliberalen Standortpolitiken. Von der Finanzwelt vorangetrieben, den nationalen Regierungen und der EU getragen, schlug sich die neoliberale Agenda in den jeweiligen Ländern unterschiedlich nieder. In deutschen Städten wurden mit der Privatisierung der Deutschen Bahn viele defunktionalisierte Industrie- und Bahnflächen der Verwertung zugeführt. Die größtenteils privatwirtschaftlich bestimmte Stadtentwicklung verschärft heute die soziale Krise dieser innerstädtischen Bereiche. In diesem Kontext nimmt der über 40 Hektar große, neue Stadtteil namens Europacity, der nördlich des Berliner Hauptbahnhofes gebaut wird und bis 2024 fertiggestellt werden soll, die Rolle eines emblematischen Beispiels dieser Krise ein. In der Europacity spiegeln sich die ökonomischen und politisch widersprüchlichen Kräfte eines urbanen Investitionsmodells, dessen abstrakte Versprechen sowie konkrete, vielfältig ausufernde Konsequenzen für die Stadt Berlin.
Bemerkenswert an dieser mitten in der Stadt gelegenen Baustelle, deren Fläche fast doppelt so groß ist wie der Potsdamer Platz, scheint ihre ‚dröhnende öffentliche Lautlosigkeit‘ zu sein. Die Verhandlung des städtebaulichen Vertrags zwischen dem Berliner Senat, der Deutschen Bahn und später dem Immobilienunternehmen CA Immo fanden völlig vorbei an einer breiteren medialen Öffentlichkeit statt. Seither wird der im Jahr 2008 verabschiedete Masterplan für das Gebiet kontinuierlich umgesetzt. Auch konnte die Europacity nur durch die von der Immobilienwirtschaft und der Senatsverwaltung geförderte Erzählung einer mit der Stadt unverbundenen Brache durchgesetzt werden – einer abgeschnittenen, vermeintlich geschichtslosen Leerstelle, die es zu ‚füllen‘ galt.
Durch die Architektur, die Verkehrsplanung und die Abwesenheit von öffentlichen Einrichtungen wie Behörden, Schulen oder Theatern verstärkt das Bauvorhaben die durch die Geschichte und Topografie des Geländes bedingte städtische ‚Insellage‘.
Im Jahr 2017 umkreisten wir diese riesige Baustelle mit der Frage „Was ist die Europacity?" und stellten im Gegensatz hierzu fest: Die Europacity wird gerade nicht auf einer leeren Brachfläche und in einem städtischen Vakuum gebaut, sondern grenzt inmitten der gewachsenen Stadt an die Stadtteile Mitte, Wedding und Moabit. Sie wächst zwischen dem Bayer-Areal und der Charité, zwischen dem Landesamt für Einwanderung und dem Sozialgericht. Am Rand der Europacity befindet sich die Scharnhorststraße, auch das ‚Ende der Welt‘ genannt, der Sprengelkiez und die Lehrter Straße.
Um die Europacity und ihre Nachbarschaften verstehen und verorten zu können, nahmen wir uns vor, den Menschen, der städtischen Umgebung und den hier neu entstehenden sozialen Grenzlinien ‚zuzuhören‘. In diesem Zusammenhang erschien uns die Namensgebung durch die im Jahr 2001 für die Veräußerung der Bahnimmobilien gegründete Vivico Real Estate und die arbiträre Weiterverwendung des Europabegriffs durch die aus der Vivico hervorgegangene CA Immo provokant. Denn die sozialen Ausschlussmechanismen, die sich an den hohe Mieten und der signifikanten Anzahl an Eigentumswohnungen in der Europaciy zeigen, verweisen indirekt auf die Politiken des Ausschlusses und der Ausgrenzung an den EU-Außengrenzen.
Diese doppelte Metapher der Ausgrenzung rund um ‚Europa‘ wurde zur titelgebenden Idee und Fragestellung unseres Projektes Am Rand von EuropaCity: Was befindet sich an den Grenzen der Europacity, wer wird ein- und wer wird ausgeschlossen durch dieses Großprojekt in der Mitte der Stadt? Zwischen März 2018 und dem 26. Mai 2019, dem Tag der Europawahl, organisierten wir eine Reihe von öffentlichen Spaziergängen, Workshops und künstlerischen Aktionen. Es ging uns darum, in Zusammenarbeit mit Nachbar*innen der Europacity und von uns eingeladenen Theoretiker*innen einen Raum für die kritische Thematisierung dieses neuen Stadtteils zu öffnen.
Am Rand von EuropaCity nimmt die Stadt, wie von Henri Lefebvre 1968 in Le droit à la ville formuliert, als ein sich immer veränderndes „gemeinschaftlich produziertes soziales Artefakt"¹ wahr, deren Erzählungen nicht von vornherein festgelegt sind, sondern von jedem einzelnen gemeinsamen Spaziergang, in jeder Begegnung und jedem Gespräch erzeugt werden. Für uns ist die Stadt niemals eine abgeschlossene Entität. Deshalb muss man sie – auch gerade als aktive Nachbarschaft – ständig neu betrachten und interpretieren, um das Feld des Handelns nicht anderen zu überlassen. Denn eine Stadt ist von vielen und für viele gemacht; sie ist das Ergebnis unzähliger täglicher Mikrointeraktionen: Alle nehmen auf die ein oder andere Art an der Stadt teil und prägen hierdurch die städtische Gesellschaft. Sich die Zeit zu nehmen, dem, was die Stadt bietet, ihrer urbanen Kakofonie zuzuhören, und nicht einfach nur den vorgegebenen Pfaden zu folgen, erlaubte es, sich den Effekten und Konsequenzen einer Stadtplanung, die ein Investorenprojekt von der Größe der Europacity zugelassen und begrüßt hat, anzunähern.
Dieses Heft entstand aus dem Wunsch heraus, unserem Projekt des ,Zuhörens‘ an den Rändern der Europacity ein Fortwirken zu ermöglichen und gleichzeitig die Reflexion über alternative Räume und nachbarschaftliche Initiativen weiterzuführen. Die Zusammenarbeit mit den Berliner Heften zu Geschichte und Gegenwart der Stadt ermöglicht es uns, die Europacity in den Diskurs über Berlins aktuelle Entwicklungen einzubringen. Diese Ausgabe bietet deshalb eine Reihe von Beiträgen, die helfen sollen, die Europacity kritisch zu situieren.
Yves Mettlers Text Europacity: Namen tragen Erwartungen! beschreibt die Entstehungsgeschichte der Europacity – von der Geschichte des Geländes über die unterschiedlichen Planungs- und Bauphasen bis hin zu den beteiligten Akteur*innen und deren Agenden, die Mettler sowohl ästhetisch als auch sozio-politisch einzuordnen versucht. Zusätzlich führt er in das künstlerische Projekt Am Rand von EuropaCity ein. Der Beitrag Stimmencollage beinhaltet Zitate von Anwohner*innen und Teilnehmenden, die während der Veranstaltungen, den Spaziergängen und in weiteren Interviews aufgenommen wurden. Der Text Unbequeme Grenzen von Alexis Hyman Wolff reflektiert die mit Am Rand von EuropaCity gemachten Erfahrungen und die Zusammenarbeit mit den Teilnehmenden. Im abschließenden Essay Am Rand von EuropaCity oder die unmögliche Erfahrung beschreibt die Politologin und Philosophin Teresa Pullano anhand von Jacques Derridas Text L’autre cap von 1991 die Zusammenhänge zwischen der Konzeption eines historisch-kulturellen Europabildes und den Formen ökonomischen und politischen ‚Kapitals‘, wie sie sich in der Europacity zeigen. Zwei Fotostrecken vermitteln einerseits einen bildlichen Eindruck der Europacity und ihrer Ränder in den Jahren 2008 bis 2021 und dokumentieren andererseits die im Rahmen von Am Rand von Europa-City entstandene Plakatserie sowie die künstlerische Intervention am Tag der Europawahl 2019.
Am Rand von EuropaCity konnte nur durch die Unterstützung der vielen Projektbeteiligten sowie an den Veranstaltungen Teilnehmenden realisiert werden, denen wir hier unseren herzlichsten Dank ausdrücken möchten. In erster Linie bei der sich früh herausgebildeten Kerngruppe unter Beteiligung des Künstlers Uwe Bressem, des Betreibers des Café Moab Martin Pohlmann, von Jürgen Schwenzel und Susanne Torka vom B-Laden, des Weddingers Norbert Oblotski und von Beate Wild, Wissenschaftlerin am Museum Europäischer Kulturen. Weiterhin gilt unser Dank für die gute Zusammenarbeit der Kulturfabrik, insbesondere Thomas Martin, Dr. Jutta Schramm und Robin Hirsinger, Silvia Raco vom Lehrter Café sowie Peter Kapsch vom Moabiter Ratschlag. Für ihre in den Interviews geteilten Einsichten bedanken wir uns bei Marion Pottmeier vom Kleinen Laden, bei Matthias Sauerbruch, Architekt an der Lehrter Straße, und Claudia Schwarz vom SprengelHaus Wedding. Für ihre Beiträge im Rahmen des Projektes danken wir Manuela Bojadžijev, Professorin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Rainer Hehl, Professor für Entwerfen und Baukonstruktion am Institut für Architektur der Technischen Universität Berlin, Teresa Pullano, Professorin am Europainstitut der Universität Basel, und Claudia Weber, Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Wir bedanken uns zudem bei Claudia Firth für die Vorbereitung und Durchführung des Workshops zum kollektiven Zuhören in der Kulturfabrik Moabit sowie bei Niina Lehtonen Braun, Stella Braun, Olivia Mettler und Alexander Wolff für die Mitgestaltung der Plakate beim Plakat-Workshop. Unser Dank gilt auch den Berliner Heften zu Geschichte und Gegenwart der Stadt und dem Verlag EECLECTIC. Für die Förderung des Projektes danken wir der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Schlussendlich geht unser Dank an den Soundkünstler Gilles Aubry, der alle Phasen von Am Rand von EuropaCity aufgenommen und archiviert hat.
1 Henri Lefebvre, Das Recht auf Stadt, Hamburg 2016, S. 82.
Tegeler Straße/Lynarstraße, 2018
Europacity: Namen tragen Erwartungen!
Yves Mettler
Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 bedeutete das Ende des Kalten Krieges. Im Zuge dessen etablierte sich in Europa der Neoliberalismus, und die Städte entdeckten sich als touristische Attraktionen neu, wie etwa Barcelona mithilfe der Olympischen Spiele 1992. Die Städte befinden sich seither im Wettbewerb um Sichtbarkeit und Attraktivität. Politik und Wirtschaft sind darin eng verzahnt, indem die Regierungen diese Konkurrenz sowohl im eigenen Land wie auch im globalen Kontext anheizen – ein Phänomen, das man unter dem Begriff Standortpolitik¹ zusammenfassen kann. 2006 verwandelte sich Berlin von einer historischen Hauptstadt, von einem Geheimtipp zu einer globalen Hauptstadt:² ein Knotenpunkt der globalen Ökonomie, Kultur und Politik und damit auch der globalen Investoren.³ Es war das Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Zu diesem Anlass erfand Berlin Public Viewing, welches das Brandenburger Tor und die Straße des 17. Juni zu einer gigantischen Sportbar werden ließ.