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Nymphenfluch: Queere Fantasy
Nymphenfluch: Queere Fantasy
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eBook715 Seiten9 Stunden

Nymphenfluch: Queere Fantasy

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Über dieses E-Book

Wann immer eine Nymphe die Königsstadt betritt, drohen ihr Folter und Tod.
Der Fluch, welchen die Nymphen einst der Legende nach über die Menschen brachten, macht inzwischen auch vor dem Königshaus nicht Halt. Es erscheint Kronprinz Kielo wie ein Wink des Schicksals, dass sein Assassine Jaro ausgerechnet jetzt die Nymphe Arolyn in die Stadt bringt. Doch statt ihn dem Leid von Kerker und Folter preiszugeben, geht Kielo andere Wege: Er lässt sich auf eine Affäre mit Arolyn ein, um so sein Vertrauen zu gewinnen und eine Möglichkeit zu finden, den Fluch zu brechen.
Während Kielo und Arolyn sich in verwirrende Gefühle und Intrigen verstricken, ist Jaro einer Verschwörung gegen das königliche Regime auf der Spur. Als engster Vertrauter des Kronprinzen sollte es seine oberste Priorität sein, das Königshaus zu schützen. Als er jedoch erkennt, dass ausgerechnet Luana – seine Schwester und Kielos Geliebte – die Fäden innerhalb der Verschwörung zieht, gerät seine Loyalität ins Wanken. Luana und die Rebellen schenken der einfachen Bevölkerung nach langem Leiden unter dem Fluch endlich wieder so etwas wie Hoffnung. Gleichzeitig jedoch bedroht die Rebellion das Königshaus – und damit auch Kielo.
"Dark-Queer-Romance-Fantasy-Power!" (Leserin)
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum25. Mai 2023
ISBN9783958695214
Nymphenfluch: Queere Fantasy

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    Buchvorschau

    Nymphenfluch - Jennifer Heck

    1 – Jaro

    Eins muss dir immer bewusst sein, wenn du die Stadt verlässt: Das Land will dich töten.

    Schon als kleiner Junge hatte Jaro dies von seinem Vater eingetrichtert bekommen. Und es stimmte.

    Wenn dich nicht der Sumpf verschlingt, reißen dich die Schakale, Alligatoren oder Steinlöwen in Stücke. Und solltest du das alles wider Erwarten überstehen, kann dich immer noch der Fluch treffen.

    Der Fluch … Jaro tastete nach dem Stein an seiner Halskette. Solange er ihn trug, war er sicher. Ebenso wie ihm kein Tier etwas antun konnte, solange er seine Messer bei sich hatte. Er brauchte sich hier draußen keine Sorgen zu machen. Kein Sumpfschakal konnte einem Assassinen etwas antun, dazu war Jaro Ausbildung zugut gewesen. Seine Sinne waren so geschärft, dass er sich im Sumpf außerhalb von Nórstad problemlos zurechtfinden konnte. Der Boden schmatzte gierig unter seinen Schritten, ohne dass seine Füße versanken. Ein langer Stock war Jaros ständiger Begleiter. Mit diesem tastete er vorsichtig die Gewässer ab, bevor er sich fortbewegte. Gerade zu dieser Jahreszeit waren die Sumpfgebiete besonders tückisch und man wusste nie, was einen erwartete. Die Zeit des Warmen Regens neigte sich dem Ende zu, die Sümpfe waren durch den langanhaltenden Niederschlag die Hügel hochgekrochen, tiefe Seen hatten sich ausgebreitet. All das würde gefrieren, sobald die Kalte Dürre eintraf. Jaro konnte es kaum erwarten. Er hasste die Regenzeit, wenn sich die Feuchtigkeit an der Kleidung festbiss und der Sumpf durch den Regen und die Wärme noch abstoßender roch als ohnehin schon.

    Er kam nur langsam voran. In den Sümpfen musste jeder Schritt bedacht gesetzt werden und Eile war keine gute Idee. Jaro wusste, dass Kielo ungeduldig auf seine Rückkehr wartete. Für den Kronprinzen war das, was Jaro herausfinden sollte, von großer Bedeutung – nicht nur für ihn, für die gesamte Stadt war es wichtig. Und Jaro mochte es, wichtig zu sein. Er war stolz, der Vertraute des Prinzen zu sein; ihn seinen Freund nennen zu dürfen. Noch nie hatte jemand aus einem der äußeren Ringe der Stadt Zutritt zum Palast gehabt. Noch nie war jemand so hoch aufgestiegen, wie er und seine Schwester Luana. Sie und Kielo zeigten sich selten gemeinsam außerhalb des Palastes, dennoch hatte sich die Nachricht, der Kronprinz habe ein Verhältnis mit einem Mädchen aus dem dritten Ring, damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Jaros Stellung am Königshof lag bis heute im Dunkeln. Sicher, die meisten wussten, dass er ein enger Vertrauter Kielos war, aber wie weit seine Befugnisse tatsächlich reichten, konnten sie nur erahnen. Natürlich gab es Gerüchte. Viele Gerüchte. Jaro kannte den Namen, den sich die Leute hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten, wenn er an ihnen vorbeiging. Sie nannten ihn den Bluthund des Kronprinzen

    Doch er war viel mehr als das. Kielo vertraute ihm. Er hatte Jaro allein auf diese Mission geschickt und er würde ihn nicht enttäuschen. Aber es brachte nichts, sich zu beeilen. Eile führte zu Fehlern – und Fehler konnte man sich hier im Sumpf nicht leisten.

    Die Sonne hing tief, tauchte die Berge in der Ferne in geisterhaftes, helles Licht. Nicht mehr lange und die Nacht würde ihren dunklen Mantel über der Welt ausbreiten. Bis dahin wollte Jaro zumindest den Wald erreicht haben, der am Fuße des Othar-Gebirges begann. Eine Nacht im Sumpf war das Letzte, worauf er an diesem Tag Lust hatte.

    Ein klagender Laut mischte sich unter die Klänge des Sumpfes. Jaro hielt inne. Er kannte sich gut genug aus, um zu wissen, welche Geräusche hierher gehörten – und welche nicht. Da war der Gesang der Zikaden, die knarrenden Laute der zahlreichen Sumpffrösche, die um diese Jahreszeit überall verbreitet waren, selbst in den Abwasserkanälen der Stadt. Das jammernde Geräusch wurde lauter, je näher Jaro dem Rand des Sumpfes kam. Kein ihm bekanntes Tier gab solche Töne von sich. Seine linke Hand strich wachsam über den Knauf des Messers, das an seinem Gürtel hing. Wenn das Jammern nicht bald verstummte, würde es die Schlammbeißer anlocken, Sumpfschakale, die nur darauf warteten, von menschlichem Blut zu kosten. Es wäre wohl klüger, sich dem Ursprung des Geräuschs nicht zu nähern, doch es lag auf seinem direkten Weg und ein Umweg würde ihn wertvolle Zeit kosten.

    Jaro strich sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft in diesen Gefilden war drückend. Sie brachte zudem einen zunehmend stärker werdenden Gestank mit sich. Nur der Tod roch wie der Tod. Jaro ahnte nun, was ihn weiter vorne im Sumpf erwarten würde.

    Eine Frau kniete im Dreck. Ihr Oberkörper wippte vor und zurück, immer wieder. Der Kopf war in den Nacken gefallen, ihr Mund weit aufgerissen. Aus eben diesem drang jenes abgehackte, klagende Geräusch. Aus tiefster Seele stieg es aus ihr hervor, ein Laut der Verzweiflung, ein Klang des nahen Endes. Zu ihren Füßen lagen zwei tote Kinder. Jaro konnte nicht erkennen, wie alt die beiden waren. Er konnte nicht sehen, woran sie gestorben waren. Er wollte es auch nicht. Das Land fand viele Wege, um zu töten.

    Um vor Anbruch der Nacht den Wald zu erreichen, durfte er sich nicht aufhalten lassen, doch Jaro blieb wie angewurzelt stehen. Es war nicht das erste Mal, dass er dem Tod ins Auge blickte. Er selbst hatte ihm mehrfach gedient. Dennoch verlor das Bild des Todes nie seinen Schrecken. Viele zerbrochene Familien endeten auf ähnliche Weise, ihre toten Körper wurden eins mit dem Sumpf. Wenn er gnädig war, verschluckte er sie, gab ihnen ein Grab aus Schlamm und Moder. Doch wenn nicht, blieben sie ein Mahnmal am Wegesrand, Nahrung für die wilden Tiere. Leichen verwesten zu dieser Jahreszeit nur langsam.

    Jaro ging einen Schritt auf die Frau zu. Ihr Klagen verstummte in dem Moment, als sie ihn erblickte. Ein wildes Flackern erfüllte ihre blutunterlaufenen Augen.

    »Herr …« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. »Herr, meine Kinder und ich … wir sind auf dem Weg nach Vonna. Führt ihr uns dorthin, ja? Wir machen nur eine kurze Rast. Nur eine kurze Rast …« Sie wiegte das tote Mädchen auf ihrem Schoß hin und her, begann leise ein Lied zu summen.

    Die Lippen des Mädchens waren blau, eingetrockneter Schaum klebte an ihrem Mundwinkel. Ihr toter Blick richtete sich entrückt in den Himmel. Das Weiß in ihren Augen war ebenso blutunterlaufen wie das in den Augen ihrer Mutter.

    »Ihr seid doch längst angekommen«, erwiderte Jaro sanft. Er ging einen weiteren Schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ihr seid längst in Sicherheit.«

    Sein Messer glitt durch den Oberkörper der Frau, stieß dabei kaum auf Widerstand und durchbohrte ihr Herz. Sie hatte nicht einmal Zeit, erschrocken zu keuchen. Das Leben und der Schmerz verließen gleichzeitig ihren Körper. Am Ende sah sie beinahe friedlich aus.

    Jaro ließ den toten Leib der Frau zu Boden gleiten, dabei fiel ein Stein aus ihrer Hand, silbrig glänzend. Jaro ging in die Hocke, streifte das blutige Messer an der Kleidung der Toten ab und hob den Stein auf. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die glatt geschliffene Oberfläche. Der Stein ähnelte jenem, der um seinen Hals hing. Nur war dieser schwerer und wurde nicht so schnell warm bei Körperkontakt. Es musste sich um das Duplikat eines Fluchbrechers handeln. Vermutlich hatte die Frau ihn auf einem der Schwarzmärkte gegen ihr gesamtes Hab und Gut getauscht. Wut stieg in Jaro auf. Die Händler spielten mit den Hoffnungen und den Leben der Verzweifelten. Er warf den Stein weit hinaus in den Sumpf. Mit einem Platschen verschwand er unter der Wasseroberfläche. Er hatte weder die Mutter noch ihre Kinder geschützt. Sie waren dem Fluch zum Opfer gefallen. Jaro beugte sich hinab und schloss der Frau die Augen. Auch wenn sie sich erst im Anfangsstadium befunden hatte, war sie bereits verloren gewesen. Die Krankheit hätte sich in ihr genauso ausgebreitet wie bei ihren Kindern. Es gab keine Heilung. Am Ende wäre sie an ihrer eigenen Spucke erstickt. Wenn sie nicht vorher die Schakale gefunden hätten. So oder so, Jaro hatte ihr einen gnädigen Tod geschenkt.

    Mit der untergehenden Sonne kam ein frischer Wind auf; der erste Vorbote der Kalten Dürre. Jaro knöpfte seinen Mantel weiter zu. Er konnte es nicht abwarten, die Sümpfe endlich hinter sich zu lassen. Im Wald warteten zwar andere Gefahren, doch alles war besser als dieser stinkende Moder und die ständig nassen Füße. Er erreichte die Spitze eines Hügels. Hier war der Boden fester, sicherer. Für einen Moment hielt er inne, atmete tief durch. Er drehte sich nicht um, wollte im Licht der Abendsonne nicht noch einmal die Leichen der Familie sehen, die er nicht dem Moor übergeben, sondern den Tieren überlassen hatte. Mit vollen Mägen würden sich die Sumpfschakale nicht die Mühe machen, ihn zu jagen.

    Das Bild der Mutter mit ihren toten Kindern wollte seine Gedanken nicht mehr verlassen. Solche Schicksale gab es zu viele in diesem Land. Nórstad galt als der einzig sichere Ort in Skagar. Jaro hörte die Stimme seines Vaters im Kopf: Die Stadt bedeutet Sicherheit, das Land verspricht Gefahr. Doch es war nicht das Land außerhalb der Stadtmauern, das seine Eltern und so viele andere Menschen umgebracht hatte. Der Fluch fand seinen Weg durch die mit Fluchbrechern verstärkten Mauern– und das immer häufiger in den letzten Jahren. Es konnte jeden treffen, auch in den inneren Stadtkreisen. Wer erste Symptome zeigte, dessen gesamte Familie wurde aus Nórstad verwiesen, aus Angst, sie könnten den Fluch weiterverbreiten. Der Stadt verwiesen zu werden, war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. In der letzten Zeit gab es da jedoch dieses Gerücht …

    Jaro seufzte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Es hieß, dass es außerhalb der Stadt ein Dorf gäbe, in dem die Leute überlebten. Indem sie der Fluch nicht treffen konnte. Sie nannten es Vonna, ein Alt-skagaeisches Wort für Hoffnung. Auch die Frau mit den toten Kindern hatte sich an diese Hoffnung geklammert. Dabei war sie längst infiziert gewesen. Was hatte es ihr also gebracht? Jaro schüttelte den Kopf. Er würde dieses Dorf suchen und würde herausfinden, ob und wie sie überlebten. Und dann würde er Kielo davon berichten.

    Ein Schrei durchschnitt die Stille. Jaro blieb stehen, presste die Lippen zusammen. Nicht noch einmal. Nicht noch einmal einer Familie beim Sterben zusehen. Die Schreie waren begleitet von knurrenden und bellenden Geräuschen. Schlammbeißer. Die Sumpfschakale nutzten die Dämmerung für ihre Jagd.

    Von seiner erhöhten Position aus sah Jaro das Feuer einer Fackel aufleuchten. Wer auch immer sich da gegen die Schakale zur Wehr setzte, er stellte sich nicht dumm an. Feuer war äußerst wirkungsvoll, um die Tiere auf Distanz zu halten. Doch die Raubtiere waren hartnäckig – und sie waren im Vorteil. Der beständige Nieselregen würde dafür sorgen, dass die Fackel seinen Träger nicht lange schützen konnte. Und wenn sie die einzige Waffe war, die die Person bei sich trug … Jaro fluchte. Der Fackelträger und die Schakale befanden sich rechts von ihm, der Wald auf der anderen Seite.

    »Bei Nórstads schützenden Mauern, du kannst nicht alle retten«, grollte er sich selbst an, doch seine Füße führten ihn bereits den Hügel hinab.

    Als kleiner Junge hätte sich Jaro nie erträumt, einmal als Assassine dem Kronprinzen persönlich unterstellt zu sein. Aber er hatte schon immer eine eigentümliche Beziehung zur Gefahr gehabt. Er liebte das prickelnde Gefühl, das Pochen der Aufregung, die sich in seinen Adern ausbreitete. Wenn er in Kielos Auftrag unterwegs war, fühlte er sich … lebendig.

    Auch jetzt war er hellwach und voller Leben, während er sich in anbrechender Dunkelheit den Schakalen und ihrer Beute näherte. Der Wind stand zu seinen Gunsten, sie würden ihn nicht gleich bemerken. Es waren drei. Mit dieser Anzahl konnte er es aufnehmen. Jaro zog eines seiner Messer. Im Licht des Feuerscheins konnte er zum ersten Mal den Angegriffenen sehen. Es war ein junger Mann und er war allein. Instinktiv machte er einiges richtig, stand mit dem Rücken zu einem kahlen Baum und hielt die Fackel vor sich. Bei einem Schakalangriff war es wichtig, nicht wegzurennen. Stattdessen sollte man den Augenkontakt mit ihnen suchen, durfte keine Angst zeigen. Das gelang dem jungen Mann nicht so gut. Er blutete aus einer Wunde am Bein und zitterte am ganzen Körper. Die Schakale waren siegesgewiss.

    Es war einfach, die Anführerin auszumachen. Das große Weibchen wagte sich als erstes vor, versuchte, nach dem verletzten Bein des Mannes zu schnappen. Doch die Fackel hielt es im letzten Moment davon ab. Keuchend drückte sich der Fremde an den Baum. Die Flamme flackerte schwach, der Regen nahm zu. Der Kampf würde nicht mehr lange dauern.

    Jaro handelte schnell. Er warf einen Stein ins Dickicht gegenüber, lenkte so die Aufmerksamkeit der Schakale von dem Fremden ab, und nutzte den Moment, um an die Seite des Mannes zu eilen und sich schützen vor ihn zu stellen. Dem ersten Schakal, der ihn ansprang, stach er das Messer in die Schnauze. Jaulend sprang er zurück. Ohne ihn den Blick von ihm zu wenden, zog Jaro ein weiteres Messer aus dem Gürtel und warf. Die Klinge traf die Rudelführerin direkt ins Auge, bohrte sich tief in ihren Schädel. Tot brach das Tier zusammen. Ein weiteres Messer traf den nächsten Angreifer in die Flanke, es war nicht gut gezielt, erfüllte jedoch seinen Zweck. Die Schakale suchten winselnd das Weite.

    Der Fremde keuchte. »Das war … Danke.«

    Jaro trat rasch von ihm weg, zog das Messer aus dem toten Schakal. Aufmerksam lauschte er, ob sich noch mehr Angreifer in der Nähe befanden. Erst als er sich sicher war, drehte er sich zu dem Mann um.

    »Du schuldest mir ein Messer.«

    Von der Fackel war nur eine schmale Flamme übrig. Sie warf ein flackerndes Licht auf den Fremden. Er war ein Stück größer als Jaro und so schlank, dass er schon fast als zierlich gelten konnte. Sein Gesicht hatte etwas, das Jaros Blick bannte. Helle blaue Augen, hohe Wangenknochen – der Kerl sah gut aus.

    Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich schulde dir mehr als das. Ich verdanke dir mein Leben.«

    Etwas an dem Fremden irritierte Jaro. Vielleicht war es die perfekte Symmetrie seines Gesichtes. Es wirkte so makellos, dass sich Jaros Blick automatisch auf die Suche nach Fehlern machte – und keinen fand. Er zuckte mit den Schultern. »Du wirst hier draußen genug Gelegenheiten bekommen, um zu sterben. Wer bist du?«

    Der Mann zögerte. Es war dieses Zögern, das Jaro endgültig davon überzeugte, dass dieser Kerl nicht aus Skagar stammen konnte. Seine Kleidung, seine Haltung und die Art, wie er manche Silben anders betonte; alles an ihm wirkte fremd – und gleichzeitig interessant. Jaro trat einen Schritt näher, die Hand wachsam auf ein Messer an seinem Gürtel gelegt.

    »Mein Name ist Arolyn.«

    Selbst sein Name klang ungewöhnlich, aber angenehm melodisch. Jaro blieb wachsam, ließ ihn nicht aus den Augen.

    »Woher kommst du, Arolyn?«

    Dieser strich sich das glatte, dunkle Haar aus dem Gesicht. Er versuchte, selbstsicher zu wirken, sah aber noch genauso in die Enge getrieben aus, wie zuvor bei den Schakalen. Was machte ihn nervös?

    Er lächelte unsicher. Etwas an diesem Lächeln erreichte Jaro tief in seinem Inneren. Es wirkte ansteckend, einladend …

    »Man hört es mir an, nicht wahr?«

    Jaro runzelte die Stirn, sagte nichts.

    Das Lächeln des Fremden vertiefte sich. Er kam auf ihn zu, gewann immer mehr von seiner Selbstsicherheit zurück. Er hatte einen eleganten Gang, voller Leichtigkeit. Doch Jaro kam es ebenfalls so vor, als würde er mit jedem seiner Schritte eine Mauer um sich herum aufbauen. In seinen Fingern hielt er die Fäden einer Geschichte, die er zu spinnen begann.

    »Ich habe einen langen Weg hinter mir. Ich komme aus Corfjall, dem Land südlich von Skagar.«

    »Ich weiß, wo Corfjall liegt«, unterbrach Jaro ihn. »Was sucht jemand aus Corfjall in unserem Land? Seit Jahren hat uns niemand mehr besucht. Nennen sie es nicht mehr verflucht?«

    »Das tun sie auch immer noch«, erwiderte Arolyn mit einem Schulterzucken. »Ich bin gekommen …«, er leckte sich zögernd über die Lippen, »um das Land besser kennenzulernen. Als Gesandter. Ich bin auf dem Weg nach Nórstad.«

    Jaro musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Dass er aus einem anderen Land kam, erklärte seinen Akzent, vielleicht auch seine Kleidung. Aber es erklärte nicht, wie er allein durch das halbe Land gewandert war, an den Nirhall-Wasserfällen vorbei, durch Waldausläufer des Othar-Gebirges, bis tief hinein in die Sumpfgebiete vor der großen Hauptstadt Nórstad.

    »Ich war nicht allein.« Arolyn sah an Jaro vorbei, presste die Lippen kurz aufeinander. »Ich habe meine Begleiter auf dem Weg … verloren. Euer Land kann erbarmungslos sein.«

    Jaro nickte langsam. »Ein Wunder, dass du überhaupt so weit gekommen bist.«

    »Wirst du mich nach Nórstad begleiten?« Arolyn lächelte einladend, legte ihm die Hand auf den Arm.

    »Nein.« Jaro schüttelte die Hand ab, blickte in die Richtung, in die ihn sein Weg führte. Er war zu sehr vom Weg abgekommen, um den Wald vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, schickte nur noch ein sanftes Glimmen über den Himmel. »Mein Weg führt mich in die entgegengesetzte Richtung.«

    »Die entgegengesetzte Richtung?« Arolyn folgte Jaros Blick. »Was gibt es dort?«

    »Das geht dich nichts an.« Jaro entschärfte seine Worte mit einem schmalen Lächeln. Er würde Arolyn sicher nichts von dem Auftrag des Kronprinzen erzählen. Je weniger Menschen von den Gerüchten über dieses Dorf wussten, desto besser. Er wandte sich ab, ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Zumindest den nächsten Hügel könnte er noch erreichen, bevor die Dunkelheit alles verschlang. Dort würde er sich ein Nachtlager errichten.

    »Lässt du mich jetzt einfach hier stehen?« Arolyns Stimme klang amüsiert und empört zugleich. Vielleicht auch ein wenig furchtsam.

    Jaro zuckte mit den Schultern und lief weiter. »Ich habe dir dein Leben gerettet. Was du jetzt damit anstellst, ist deine Sache.«

    Arolyn folgte ihm. Ein Grinsen schlich sich auf Jaros Gesicht. Natürlich tat er das. Was sollte er auch sonst tun? Er wurde noch nicht schlau aus dem Fremden, wusste nicht, ob er die Wahrheit erzählte – aber er war interessant. Und an einem Lagerfeuer war schon so manches Geheimnis zum Vorschein gekommen.

    2 – Arolyn

    Wenn Arolyn ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte er sich eingestehen müssen, dass er sich in einer wirklich blöden Situation befand: mehrere Meilen fernab seiner Heimat, umgeben von angriffslustigem Getier, in einem ebenso unberechenbaren Sumpfgebiet und in Gesellschaft eines Fremden, der offensichtlich hervorragend mit Messern umgehen konnte.

    Das Problem war, dass Ehrlichkeit nicht unbedingt zu Arolyns herausragendsten Tugenden zählte. Es war nicht so, dass er anderen gern und oft Lügen erzählte. Vielmehr bestand sein Kontakt zu Menschen vornehmlich darin, ihnen Dinge nicht zu erzählen und stattdessen Geheimnisse zu entlocken, die sicher nicht für Arolyn bestimmt waren. Doch abgesehen davon, dass er im Auftrag seines Volkes handelte, wenn er in die Erinnerungen Fremder eintauchte, war es auch seine gleichsam geheimste wie offensichtlichste Leidenschaft, eben dies zu tun. Er liebte die Momente, in denen sich die fremden Sinnbilder vor seinem inneren Auge manifestierten und zu seinen eigenen Gedanken wurden. Die Momente, in denen nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist mit dem eines anderen verschmolz.

    Gerade jetzt jedoch war das Einzige, das zu schmelzen – oder eher zu versengen – drohte, sein Haar, das gefährlich nahe über den Flammen des kleinen Feuers baumelte, welches sein neuer Begleiter entfacht hatte, und über welches Arolyn sich auf der Suche nach Wärme gebeugt hatte.

    »Vorsicht«, raunzte Jaro ihn prompt an, als Arolyn bereits den Kopf zurückzog. Schnaufend ließ er sich in sicherem Abstand zum Feuer auf den steinigen Boden fallen und legte seinen Lederbeutel neben sich ab. Er gab vor, in die Flammen zu schauen, doch aus dem Augenwinkel musterte er Jaro.

    Im Profil wirkte sein Gesicht ein wenig kantiger, als es tatsächlich war. Die Kieferlinie trat hervor, im unstet flackernden Schein zeigten sich Fältchen um die Augen. Arolyn fiel es stets schwer, das Alter von Menschen anhand ihres Aussehens zu schätzen. Zwar gruben sich Lebensjahre und Erlebnisse in deren Mimik ein, doch wirkliche Auskunft darüber, wie weit sie auf ihrem Lebensweg geschritten waren, gaben lediglich ihre Erinnerungen. So oder so … hätte er sich festlegen müssen, hätte er diesen Jaro auf Ende Zwanzig geschätzt.

    Nachdenklich sog Arolyn seine Unterlippe zwischen die Zähne, während er Jaro weiter musterte. Diese kleinen Falten erzählten von einem Leben voller Entbehrungen und Sorgen. Und dennoch war er sich auf merkwürdige Weise sicher, dass sie nicht nur von schweren Gedanken, sondern auch von Momenten warmen Lachens in Jaros Gesicht gegraben worden waren.

    Jaro besah sich konzentriert den Sumpffrosch, den er zuvor gefangen hatte und den er mit gekonnten Griffen häutete. Ja, der Umgang mit Messern schien dem Mann durchaus vertraut, und obwohl er Arolyn nicht direkt ansah, war dieser sich gewiss, dass Jaro seine Blicke sehr wohl bemerkte.

    Irgendetwas an Jaro mahnte ihn zur Vorsicht. Sie waren Fremde. In einem Land, in dem jeder gut daran tat, auf das eigene Leben acht zu geben. Nahe einer Stadt, in der im Zweifelsfall selbst der beste Freund geopfert wurde, wenn es der einzige Ausweg war, den eigenen Kopf zu retten. So zumindest besagten es die Gerüchte, die Arolyn bislang über Nórstad und dessen Bewohner vernommen hatte.

    Gerüchte … Kaum mehr als Getuschel hinter vorgehaltener Hand. Etwas, das Arolyn wirklich verabscheute. Sein Volk hatte es sich vor Jahrhunderten zur Aufgabe gemacht, Wissen jedweder Art zusammenzutragen und dieses in den Tiefen ihres verzweigten Bibliothekensystems zu bewahren. Gerüchte halfen niemandem weiter. Arolyn wollte Fakten. Er wollte in Erfahrung bringen, was genau es mit der düsteren Stadt und deren noch düstereren Bewohnern auf sich hatte. Und weshalb keine einzige Nymphe, die jemals einen Fuß in die inneren Kreise Nórstads gesetzt hatte, von dort zurückgekommen war.

    »Hast du keinen Proviant dabei?« Jaros Stimme riss Arolyn aus seinen Grübeleien. Flüchtig huschte sein Blick zu dem inzwischen gehäuteten Sumpffrosch, der auf einem dünnen Stock aufgespießt über dem Feuer brutzelte. Obwohl zwischen Arolyn und Jaro eine spürbare Distanz herrschte, war er aus irgendeinem Grund davon ausgegangen, dass Jaro seine Beute mit ihm teilen würde. Vielleicht schlichtweg deshalb, weil der ihm doch das Leben gerettet hatte. Aber auch wenn Jaro etwas dagegen zu haben schien, dass Arolyn von einem Rudel Sumpfschakale in Stücke gerissen wurde, schien es ihn nicht zu stören, wenn er verhungert.

    »Natürlich«, gab Arolyn leicht pikiert zurück und zog den Lederbeutel heran, in dem er neben einer dünnen Decke und einigen Heilkräutern auch ein wenig Hartkäse und Brot bei sich trug. Jaro beobachtete jede seiner Bewegungen, schien jedoch nicht zu befürchten, Arolyn könne ein Messer hervorzaubern und ihn angreifen. Vielmehr machte er den Eindruck, als zweifle er daran, dass Arolyn überhaupt in der Lage war, sich selbst mit Nahrung zu versorgen. Er schnaubte. Wie hätte er denn bitte ohne jegliche Jagdkenntnisse den weiten Weg von Corfjall bis nach Skagar zurücklegen sollen – oder eben den weiten Weg aus dem Othar-Gebirge?

    Hastig bohrte Arolyn seinen Blick tiefer in das Innere des Beutels. Nein, Lügen zu erzählen lag ihm nicht. Dinge verschweigen konnte er viel besser.

    »Hältst du es eigentlich für sinnvoll, hier draußen ein Feuer zu machen?« Mit einer Hand wies Arolyn um sich, ganz so als müsse er Jaro daran erinnern, wo genau sie sich befanden.

    Von der Hügelkuppe aus hatten sie einen guten Rundumblick über das sumpfige Land. Oder vielmehr: Sie hätten einen Überblick gehabt, wäre es indessen nicht stockfinstere Nacht geworden. Mit dem Lagerfeuer unter dem niedrigen Felsunterschlupf, unter den sie sich kauerten, saßen sie hier oben wie auf dem Präsentierteller.

    »Weshalb nicht?«

    Arolyn bemerkte das feine Schmunzeln, das bei Jaros Worten um dessen Lippen spielte.

    »Weil die Flammen meilenweit zu sehen sind und wilde Tiere und Feinde anlocken könnten?«

    Jaro nickte bedächtig, drehte den Frosch auf dem Stock einmal um die Achse.

    »Kein dummer Einwand – für corfjallische Verhältnisse.«

    »Was soll das denn heißen?«

    »Dass in Corfjall mit Sicherheit anderes Getier lebt als hier, rund um Nórstad. Schakale und Löwen werden vom Licht angezogen, da gebe ich dir recht. Doch sie werden sich uns nicht weiter als bis auf etwa zehn Fuß nähern. Du hast selbst gesehen, wie abschreckend Feuer auf die wirkt.«

    Irritiert blinzelte Arolyn in die zuckenden Flammen. Eine vage Furcht stieg in seinen Eingeweiden auf.

    »Das heißt, wir werden nachher hier herumliegen und versuchen zu schlafen, während die Raubtiere nur wenige Fuß von uns entfernt sind?«

    »Möglich.« Jaro zuckte scheinbar unbeeindruckt mit den Schultern. »Wobei nur einer von uns schlafen wird. Das Feuer darf nicht ausgehen. Niemals.«

    »Sonst …« Arolyn zögerte kurz. »Vergiss es, ich will es nicht wissen.«

    »Na dann.« Wieder dieses Schmunzeln auf Jaros Lippen, das in Arolyn den merkwürdigen Drang weckte, sie berühren zu wollen. Um den unterschwelligen Spott fortzuwischen, wozu sonst?

    Energisch biss er in die Brotscheibe, kaute einmal, zweimal, ehe er ein kleines Stückchen Käse hinterher schob. Jaro indessen zog den Frosch am Stock aus dem Feuer und begann, vorsichtig an einem der dunkel gerösteten Beine zu nagen. Arolyn beobachtete ihn dabei misstrauisch. Er selbst mochte den nussigen Geschmack von Fröschen, allerdings nur von denen, die in den glasklaren Seen der Tropfsteinhöhlen Othallas lebten. Die sumpfige Variante erschien ihm weit weniger essenswert.

    »Sind die nicht verseucht?«, fragte er mit einem vielsagenden Seitenblick.

    Jaro hielt inne, ehe er energisch weiterkaute. »Nein, womit sollten sie verseucht sein?«

    »Mit … keine Ahnung. Immerhin liegen in diesen Sümpfen allerlei tote Tiere herum.«

    Im flackernden Flammenschein konnte er beobachten, wie sich Jaros Miene binnen weniger Herzschläge verfinsterte.

    »Nicht nur tote Tiere«, murmelte er an einem weiteren Bissen vorbei. »Aber nein, die Frösche, die man in den Sümpfen fängt, sind ungefährlich. Die aus der Kanalisation sollte man allerdings nicht unbedingt zu sich nehmen – zumindest nicht in rohem Zustand.«

    »Kanalisation? In der Stadt?«

    »Ja.«

    »Du kommst aus Nórstad?«

    Ein winziges Zögern, doch dann bestätigte Jaro mit einem Nicken, was Arolyn ohnehin geahnt hatte. Er war versucht, weiter nachzuhaken, um herauszufinden, woher genau Jaro stammte, doch er verkniff sich die Nachfrage. Er wollte nicht zu neugierig wirken – obwohl er genau das war.

    »Wie ich schon sagte: Mein Weg führt mich nach Nórstad.«

    »Hast du einen Passierschein?«

    »Einen …? Nein.«

    »Dann wird dein Weg vor den Stadtmauern enden. Ohne gültigen Passierschein wird niemand in die Stadt gelassen.«

    Arolyn schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet und er hätte sich in diesem Moment gern selbst geohrfeigt. Wie naiv konnte man sein? Es war gerade mal ein paar Tage her, dass er die unterirdischen Hallen Othallas verlassen hatte. In diesen Stunden hatte er es bereits geschafft, beinahe von Schakalen zerfleischt zu werden, und nun sollte das Risiko, das er auf sich genommen hatte, sich aus der Nymphenstadt zu entfernen, umsonst gewesen sein?

    Natürlich gab es Wege nach Nórstad hinein. Geheime und verbotene Wege. Einige seiner Brüder und Schwestern gingen diese Wege auf ihren Beutezügen nach Wissen. Doch sie führten eben nur in die äußeren Ringe der Stadt. Zu den niedrigen Schichten. Arolyn hingegen wollte in die innersten Ringe. Zu den Adeligen und Wohlhabenden. Und um dorthin zu gelangen, musste er einen offiziellen Weg gehen – für den er einen Passierschein brauchte. Bei Othars Grotten, er hatte wirklich geglaubt, seine Tarnung als ein Gesandter Corfjall würde ausreichend sein, um Nórstad betreten zu dürfen.

    »Und wo und wie bekomme ich einen solchen Passierschein?«

    Jaro ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Kaute ausgiebig auf seinem letzten Bissen Sumpffrosch, ehe er sich seufzend mit dem Rücken gegen einen der großen, flachen Steine lehnte. Draußen vor der Höhle prasselte der Regen wieder heftiger nieder, ein rauer Wind trieb die Hitze der Flammen tiefer hinein in den provisorischen Unterschlupf.

    »Wenn du keine Verbindungen zum Herrscherhaus oder wenigstens zum höheren Adel hast …«, Jaro legte eine demonstrative Pause ein, in der er die letzten Fetzen Froschfleisch vom Stock zupfte, »… nirgendwo.«

    Arolyn gab sich alle Mühe, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Dennoch konnte er sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen.

    »Und wozu bin ich dann den weiten Weg von Corfjall hierhergekommen? Habe meine Begleiter den Sümpfen übergeben?«

    Neben ihm zuckte Jaro zum wiederholten Mal mit den Schultern. Das Schicksal von Arolyns – zugegebenermaßen nicht existenten – Begleitern schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.

    »Ich kann dir nicht helfen«, meinte er schließlich – und Arolyn glaubte ihm kein Wort. »Ich kann dir lediglich einen gut gemeinten Rat geben: Kehr um, geh nicht noch tiefer in die Sümpfe hinein. Dort wartet nichts auf dich. Kein Weg in die Stadt jedenfalls. Höchstens der Tod.«

    Arolyn schluckte trocken. Seine Stimme klang rau in seinen eigenen Ohren, als er murmelte: »Du könntest mich begleiten und …« … mir erneut das Leben retten.

    Er sprach es nicht aus. Und Jaro antwortete ihm auch nicht auf die Bitte, die in seinen Worten mitgeschwungen hatte.

    ***

    »Brauchst du Hilfe?« In einer beiläufigen Geste deutete Jaro in Richtung von Arolyns Bein. An die Stelle, an der sich ein feiner Riss in seiner Hose zeigte. Sein Oberschenkel ziepte und brannte.

    »Keine Ahnung. Kennst du dich mit derartigen Wunden aus?« Zweifelnd sah Arolyn zu Jaro auf, der anscheinend gerade eher im Sinn gehabt hatte, noch einmal in den Regen hinauszugehen, um was auch immer zu tun. So zumindest deutete Arolyn es, dass er sich soeben die Kapuze seines langen Mantels übergestreift hatte.

    »Gut genug, um zu wissen, dass du dich schon viel eher um dein Bein hättest kümmern sollen«, grollte Jaro. Der Umstand, dass sein Gesicht dank der Kapuze in tiefen Schatten lag, verlieh seiner Gestalt etwas Bedrohliches. Dennoch fühlte Arolyn sich in seiner Gegenwart zunehmend sicherer. »So etwas kann sich schnell entzünden«, setzte Jaro überflüssigerweise hinzu und entlockte ihm damit ein erneutes Schnauben.

    »Ach ja? Entschuldige bitte, dass ich mich nicht mitten im Sumpf ausziehen und an meiner Wunde herumfummeln wollte.«

    »War das ein: ja, bitte?« Jaro klang giftig, dennoch hätte Arolyn schwören können, dass bei seinen Worten wieder dieses leicht spöttische Lächeln um seinen Mund zuckte. Sehen konnte er es jedoch nicht. Schade. Aus irgendeinem Grund fand Arolyn zunehmend Gefallen an Jaros Mimik. Dieser Kerl erschien ihm einerseits geheimnisvoll, fast schon ein wenig abweisend und andererseits erweckte er den Eindruck, als könne man mit ihm ausgelassen lachen und wunderbar tiefsinnige Gespräche führen, wenn man ihn nur gut genug kannte. Wie passend, dass es zu Arolyns Leidenschaften gehörte, Menschen binnen weniger Augenblicke besser kennenzulernen und tiefer in ihre Seelen hineinzublicken als der beste Freund, geschweige denn der Liebhaber oder die Liebhaberin es gekonnt hätten.

    Jaro ging mit einem tiefen Seufzen vor ihm in die Hocke. »Lass mich mal sehen«, murmelte er, während er die Hände ausstreckte und seine Finger in den Riss im Stoff schob.

    Arolyn zuckte zurück. »Verflucht! Könntest du es bitte unterlassen, meine Kleidung in Stücke zu reißen?«

    Unter dem Rand der Kapuze hinweg traf ihn ein stechender Blick. Das helle Braun wirkte im Feuerschein wie flüssiger Honig, gleichsam bargen die Iriden eine Kälte, die Arolyn einen Schauer das Rückgrat hinab schickte.

    »Und könntest du es unterlassen, dieses Wort ohne Sinn und Verstand zu gebrauchen? Bitte!«

    »Welches Wo– … Argh!« Zischend sog er den Atem ein, als Jaro wenig sanft die Wundränder abtastete. »Meinst du verflucht?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Entschuldige, ich vergaß, dass ihr in diesem Land eine etwas … schwierige Beziehung zu Flüchen habt. Welches Wort benutzt ihr denn dann?«

    »Du hast davon gehört, ja?«, hakte Jaro nach und Arolyn war sich in diesem Moment nicht sicher, ob Jaro tatsächlich vergessen hatte, dass er selbst es vor Stunden erwähnt hatte, oder ob er Arolyn einfach auf die Probe stellen wollte. Er selbst wusste anscheinend weniger über Nórstad, als er angenommen hatte. Auch über diesen Fluch wusste er nicht besonders viel. In den Aufzeichnungen der Bibliothek hatte er kaum etwas dazu gefunden und es daher als nicht wichtig erachtet. »Und im Übrigen benutzen wir dieses Wort auch – aber nicht wegen Kleinigkeiten wie einer zerrissenen Hose. Dein Bein könnte zerfetzt sein, wäre ich nicht gewesen – das wäre ein Grund, zu fluchen.«

    Arolyn schnaufte, Wie konnte man sich an einem einzelnen Wort nur so aufhängen? »Jeder hat davon gehört. Bis weit über die Landesgrenzen Skagars hinaus.« Auch wenn er nicht so recht wusste, was es mit diesem Fluch auf sich hatte. Dieser Gedanke war es, der trotz des Schmerzes in seinem Bein den vagen Zweifel in Arolyn aufsteigen ließ, ob er sich nicht doch ein wenig zu überstürzt auf die Reise nach Nórstad gemacht hatte. Er wusste einiges über das Land, über die Stadt und auch über Corfjall, von wo er zu stammen vorgab. Er wusste all das, was er bei seinen Beutezügen nach Wissen herausgefunden und anschließend einem der Wissensbewahrer weitergegeben hatte und all jenes, was er in den Schriften der Bibliothek gefunden hatte. Aber wusste er genug, um einen Einheimischen zu täuschen? Einen, der so geschickt mit Messern und Verstand umgehen konnte? Arolyn wagte es, zu bezweifeln. Allein Neugier und Abenteuerlust verboten es ihm, ohne jedes Fünkchen neu gewonnenen Wissens in seine Heimat zurückzukehren.

    »Und was treibt dich dann in dieses Land?«

    Ertappt biss Arolyn sich auf die Zunge und dankte heimlich den Schakalen für die Wunde an seinem Bein, die dafür sorgte, dass Jaro konzentriert auf seinen Oberschenkel anstatt in sein Gesicht starrte.

    »Geschäfte«, antwortete er vage.

    Unter der Kapuze drang ein Lachen hervor. »Verstehe. Aber lass dir gesagt sein, dass du dir eine bessere Begründung ausdenken solltest, ehe du Nórstads Mauern erreichst. Wenn du sie überhaupt erreichst. Der Kronprinz wird sich kaum dazu herablassen, eine Genehmigung für einen Passierschein zu unterzeichnen, wenn es lediglich um Geschäfte geht?«

    »Das bedeutet … Verfl–! Das brennt!«

    Wieder ein mitleidloses Lachen, während Jaro ein paar Tropfen aus einem kleinen Fläschchen, das er aus seinem Mantel hervorgeholt hatte, in die Wunde träufelte.

    »Natürlich brennt es. Aber es wird helfen.«

    Arolyn öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne einen Ton von sich zu geben. Stattdessen streckte er eine Hand aus, wollte nach der Kapuze greifen, doch ehe er den Stoff berühren konnte, schnellten Finger vor und packten sein Handgelenk.

    Gute Reflexe, schoss es ihm durch den Kopf, während sein Blick den Jaros fand. Seine Augen hatten tatsächlich die Farbe von Honig, der in Bewegung zu sein schien. Jaro fixierte ihn, ohne zu blinzeln, in seinen Augen jedoch war nichts auch nur annähernd ruhig.

    »Kannst …«, Arolyn räusperte sich, »kannst du nicht wieder diese blöde Kapuze abziehen?«

    »Warum sollte ich?«

    »Tu’s doch einfach.« Mit einem Ruck versuchte er sein Handgelenk zu befreien und war überrascht, als Jaro ihn tatsächlich losließ. Noch überraschter allerdings, als dieser sich die Kapuze vom Kopf streifte und damit die kurzgeschorenen blonden Haare zum Vorschein brachte.

    »Dort, wo ich herkomme, tragen Frauen und Männer ihr Haar stets lang«, sinnierte Arolyn leise und wusste dabei selbst nicht einmal so genau, weshalb er dies erzählte. Im Übrigen war es nicht gelogen, auch wenn er mit dort, wo ich herkomme, sicher nicht irgendeine Stadt in Corfjall, sondern Othalla meinte.

    Jaro entgegnete nichts. Hockte nur stumm, mit dem Tinkturfläschchen in der Hand, vor Arolyn und musterte ihn. Durchdringend. Intensiv. Blütenhonig verdunkelte sich zu Waldhonig – und in Arolyns Innerem wallte hitzige Neugier auf.

    Halb aus echtem Interesse und halb aus über Jahren einstudierter Routine heraus, streckte er wieder die Hand aus. Langsam dieses Mal. Berührungen waren nichts Ungewöhnliches für ihn, aber er war darauf gefasst, dass Jaro ihm erneut auf energische Art Einhalt gebieten würde. Doch er tat es nicht. Stattdessen ließ er geschehen, dass Arolyn mit den Fingerkuppen über die stoppelkurzen Haare fuhr. Sie kitzelten seine Handinnenflächen, warmer Atem strich über sein Gesicht. Arolyn fröstelte, zog die Schultern nach oben. Draußen vor dem Felsüberhang prasselte noch immer der Regen auf das Gestein. Die Flammen neben ihnen knackten.

    Ein erneuter Atemhauch streifte ihn, dieses Mal seine Lippen. Betont langsam und hörbar sog er den Atem ein. Jaro roch gut. Ein wenig nach Schweiß und den Sümpfen, aber auch nach Wind auf der Haut. Nach Mut, Eigensinn und vor allem einem stets gefüllten Badezuber. Nicht direkt nach Seife, aber eben auch nicht wie jemand, der sich jede Ration sauberen Wassers einteilen musste. Kurzum: Er roch wie einer aus den inneren Kreisen der Stadt. Oder zumindest glaubte Arolyn, dass reiche Städter so riechen mussten.

    Zaghaft verstärkte er den Druck seiner Finger. Gerade so weit, dass er nicht auf Gegenwehr stieß. Im Honigbraun blitzte es. Arolyn hielt dem Blick stand.

    »Ich habe«, flüsterte er so leise, dass er sich sicher war, Jaro würde ihn über das Knacken der Flammen und das Prasseln des Regens gerade noch verstehen, »mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt.«

    Dieses Mal war Jaro es, der zischend Luft holte. Das und ein kaum merkliches Verengen der Augen zeigte Arolyn deutlich, dass sein Gegenüber sehr wohl verstand, auf welche Form des Dankes er anspielte. Was es jedoch bedeuten würde, seinen Dank anzunehmen, das konnte Jaro nicht einmal ahnen. Kein Mensch tat das. Und in diesem Moment tat es Arolyn beinahe ein wenig leid, seinem Retter dieses Geheimnis verschweigen zu müssen. Doch wenn er Jaro schon nicht dazu bringen konnte, ihn nach Nórstad zu begleiten, konnte er ihm wenigstens ein paar Erinnerungen entlocken. Vielleicht waren immerhin diese zu etwas zu gebrauchen.

    »Ein Dank ist nicht von Nöten.« Jaros Stimme – zu kühl und zu bestimmend – ließ Arolyn ein winziges Stück zurückzucken. Mit festem Griff löste Jaro Arolyns Hand aus seinem Nacken.

    »Aber …«

    »Diese Art von Dank ist nicht von Nöten.« Abrupt erhob Jaro sich und deutete auf Arolyns Bein. »Du solltest es bis zum Morgengrauen noch ein oder zweimal mit der Tinktur behandeln. Dann wird es in wenigen Tagen heilen.«

    Mit diesen Worten streifte er sich in einer raschen Bewegung die Kapuze über den Kopf und tastete sich gebeugten Schrittes am Fels entlang zum Ausgang der kleinen Höhle.

    ***

    Der Sonnenaufgang in den Sümpfen war kein richtiger Sonnenauf­gang. Nebel hing über der meilenweiten Moorlandschaft, ging nahtlos in das Grau des Himmels über, aus dessen Wolken sich noch immer feine Tröpfchen lösten und einen feuchten Film auf Arolyns Haut hinterließen, als er aus der provisorischen Lagerstätte kroch. Angestrengt blinzelte er gegen das grelle Morgenlicht. Die Sonne schaffte es kaum durch das dichte Gewirr aus Wasserdampf und Nieselregen und dennoch stachen ihre Strahlen in seine Augen. Sie waren nun einmal empfindlich. Viel zu empfindlich!

    Bei Othars Grotten!

    Mit einem Mal stand Arolyn senkrecht auf der Hügelkuppe. Erschrocken kniff er die Augen zusammen und legte eine Hand darüber. Sie sollten nicht so empfindlich sein!

    Er lauschte angestrengt auf die Geräusche aus dem Inneren der Höhle. Nur das leise Prasseln des Feuers, sonst nichts. Keine Schritte hinter ihm. Hoffentlich – oh, bitte, hoffentlich – lag Jaro noch lang ausgestreckt auf seinem Lager. So wie eben, als Arolyn sich aufgerichtet und ausgiebig gestreckt hatte. Tiefe Atemzüge hatten suggeriert, dass Jaro schlief, was jedoch nicht hätte sein dürfen, da er die letzte Wache gehabt hatte.

    Im Stillen in sich hineinfluchend, tastete Arolyn sich halb blind vom Tageslicht die wenigen Schritte zurück, bis er endlich wieder Gestein an seinen Händen spürte. Noch einmal lauschte er. Nichts.

    Zögerlich bückte er sich zurück unter die Felsen. Zweimal blinzelte er. Die Helligkeit der Flammen war weitaus besser zu ertragen als das Zwielicht des Sumpfs.

    Gehetzt sah er zu Jaro, der tatsächlich reglos unter seiner Decke auf dem nackten Geröllboden lag. Er atmete tief und gleichmäßig. Nur gut, dass keine Sumpfschakale in der Nähe zu sein schienen. Doch selbst die waren gerade Arolyns kleinste Sorge.

    An Jaro vorbei schlich er zu seinem eigenen Lager, kniete darauf nieder und wühlte mit fahrigen Fingern in dem Lederbeutel. Quälende Sekunden verstrichen, ehe er endlich die kleine Phiole aus nahezu unzerbrechlichem Othar-Kristall fand. Sekundenlang umklammerte er sie, überlegte fieberhaft, was er sagen sollte, wenn Jaro bemerkte, mit was er da herumhantierte.

    Augenkrankheit, wiederholte er einem Mantra gleich in seinem Kopf, eine einfache Augenkrankheit.

    Ein letzter prüfender Blick über die Schulter. Jaro rührte sich noch immer nicht, kein Flattern der Lider verriet ein nahes Erwachen. Hastig öffnete Arolyn die Phiole, legte den Kopf in den Nacken und träufelte sich einige Tröpfchen in jedes Auge. Wie jedes Mal brannte das alkoholbasierte Gemisch ein wenig auf der Netzhaut. Das anfängliche Brennen verschwand jedoch rasch, machte einem Kribbeln Platz. Doch auch dieses verflog binnen weniger Atemzüge. Zurück blieb die beruhigende Gewissheit, wieder wie ein ganz normaler Mensch auszusehen. Oder wenigstens wie ein Mensch aus einem fernen Land.

    Noch einmal atmete Arolyn tief durch, ließ die Phiole zurück in den Beutel gleiten und drehte sich im Sitzen um. Absichtlich starrte er einige Sekunden lang direkt in die lodernden Flammen, doch nichts geschah. Kein auffälliges Tränen, keine Lichtempfindlichkeit.

    Neben sich vernahm er einen brummenden Laut. Jaro schien langsam aufzuwachen und Arolyn bemühte sich um eine nichtssagende Miene. Mit einem herzhaften Gähnen streckte Jaro sich auf seinem Lager.

    »Ich muss eingeschlafen sein«, nuschelte er scheinbar mehr zu sich selbst als zu Arolyn, was diesem ein schiefes Grinsen entlockte.

    »Gut nur, dass die Schakale anscheinend keinen morgendlichen Hunger hatten.«

    »Keine Sorge«, Jaro rappelte sich hoch, »ich wäre schon aufgewacht, hätten sich welche zu nahe an uns herangewagt.«

    »Mhm, sicher.«

    »Und du? Weshalb bist du bereits wach?«

    »Ich möchte früh aufbrechen.« Wenigstens diese Lüge ging ihm leicht über die Lippen. »Ich habe ja noch ein gutes Stück Weg vor mir.«

    Jaro gab ein unbestimmtes Brummen von sich, rieb sich einmal über die kurzen Haare, ehe er Arolyn fixierte.

    »Du willst immer noch nach Nórstad, hmm?«

    »Natürlich.«

    Arolyn hielt Jaros Blick stand, obwohl es ihn alle Mühe kostete, nicht nervös zu blinzeln. Allein der Gedanke, tatsächlich einen Weg in die Stadt und vielleicht sogar in die inneren Ringe zu finden, versetzte ihn in Unruhe. Aber mehr noch beschäftigte ihn die Sorge, weder das eine noch das andere zu schaffen.

    »Na gut«, brummte sein Gegenüber und erhob sich ruckartig. »Ich habe es mir überlegt. Du schuldest mir ein Messer und einen Dank. Nicht diese Art von Dank, damit wir uns richtig verstehen. Ich bin nicht scharf darauf, abzuwarten, wie du gedenkst, deine Schulden einzulösen, dazu bin ich zu beschäftigt. Aber ich kenne jemanden, der sicher einige Ideen hat, wie du dich nützlich machen kannst. Und ganz zufällig ist dieser jemand auch einer von denen, die ein Gesandter wie du vermutlich sucht.«

    Jaro verstummte und Arolyn wagte es obgleich dieser Ansprache kaum zu atmen, geschweige denn, nachzuhaken. Konnte es sein, dass …?

    »Was denn?«, setzte Jaro sichtlich amüsiert hinzu. »Willst du nicht einmal wissen, wohin ich dich zu geleiten gedenke?«

    Arolyn schluckte trocken. Blinzelte. Jeder verfluchte Weg in die Stadt wäre ihm recht gewesen und das, obwohl er um die Gefahren wusste. Um die allgemeinen, die jedem drohten, der Nórstad betrat, und auch um die, die nur den Nymphen drohten, wenn sie als solche erkannt wurden.

    »Wohin?« Seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren, seltsam rau und atemlos. »Wohin wirst du mich bringen?«

    Jaro hielt seinen Blick, ehe er flüchtig lächelte und sich in einem Schwung die Kapuze über den Kopf streifte.

    »Zum Kronprinzen.«

    3 – Jaro

    Der Nebel, der die Stadt wie ein geisterhaftes Wesen umfangen hielt, lichtete sich für einen Moment. Einzelne Sonnenstrahlen stahlen sich durch das dichte Wolkennetz, ließen die Dächer des Palastes glitzern wie Kristalle in der Sonne. Nórstad – das mächtige Bollwerk, das ein gesamtes Volk beherbergte, erstreckte sich über den Hügel. Sechs massive Mauern schützten den Kern der Stadt, auf der Spitze thronte der Palast des Königs. An den klaren Tagen der Kalten Dürre konnte man von dort nicht nur die verschiedenen Ringe der Stadt überblicken, sondern hatte auch eine Aussicht über die Sumpflandschaft, bis hin zum Othar-Gebirge.

    »Eindrucksvoll.« Arolyn war stehen geblieben und starrte die Stadt mit einem angedeuteten Lächeln an. In seinen Augen glitzerte eine Mischung aus Neugierde und Abenteuerlust.

    »Nur aus der Ferne«, brummte Jaro. Hier draußen erreichte sie die Wolke des Gestanks nach Pisse und anderen Exkrementen nicht, die in dieser Jahreszeit die unteren Ringe umwaberte.

    »Ich habe so viel über Nórstad gelesen und davon geträumt, die Stadt eines Tages mit eigenen Augen zu sehen.«

    Arolyn stand noch immer wie verzaubert da. Jaro schnaubte leise. Von dieser Perspektive aus mochte die Stadt friedlich und still wirken. Doch Arolyn würde früh genug merken, dass sie weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas gemein hatte.

    Jaro drehte sich um und sah in Richtung der Berge. Wenn er seinen ursprünglichen Plan befolgt hätte, würde er nun durch die tiefen Wälder streifen, auf der Suche nach dem mysteriösen Dorf Vonna. Doch das Dorf der Hoffnung musste warten. Diese Gelegenheit war einfach zu gut. Kielo würde es verstehen. Viel mehr noch, Kielo würde ihm für das Geschenk danken, das er ihm brachte.

    Arolyn hatte keine Nachfragen gestellt, warum Jaro sich so rasch umentschieden hatte. War er wirklich naiv genug, zu glauben, er wäre bei seiner Wache eingeschlafen? Als würde er neben einem Fremden, dem er nicht vertraute, so tief schlafen. Jaro hatte alles mitbekommen. Er hatte gesehen, wie Arolyn aufgewacht war und zum ersten Mal am Morgen die Augen öffnete. Dieser eine Moment hatte gereicht, um ihm die Wahrheit zu zeigen.

    Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

    »Was?«, raunzte Jaro und fuhr herum. Rasch trat er einen Schritt zurück, damit Arolyn ihn nicht länger berühren konnte.

    »Gestern hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass du mir hilfst, nach Nórstad zu kommen. Aber … danke.«

    Jaro schnaubte abfällig. »Bedank dich nicht zu früh«, brummte er, schob sich an Arolyn vorbei und stapfte weiter durch den Sumpf.

    Er hätte es wissen müssen. Diese Augen. Diese Augen, deren Farbe ihn an die türkisen Edelsteine erinnerte, die Kielo Luana geschenkt hatte. Sie waren nicht normal. Nichts an Arolyn war normal. Doch Jaro hatte es erst verstanden, als er die geschlitzten Pupillen am Morgen gesehen hatte – Nymphenaugen. Er hatte davon gehört, dass Nymphen so viel Zeit unter der Erde verbrachten, dass sie das Sonnenlicht nicht mehr gewohnt waren. Jaro hätte es gleich erkennen müssen …

    Er konnte hören, dass Arolyn ihm folgte. Es gelang ihm nicht, sich ebenso lautlos durch das Gestrüpp zu bewegen wie Jaro. Kein Wunder hatten ihn die Sumpfschakale so schnell als ihre Beute auserkoren.

    »Du kennst also den Kronprinzen, hm?«

    Er wollte reden. Den ganzen Morgen schon versuchte Arolyn Informationen aus Jaro herauszubekommen. Er stellte Fragen über Nórstad, den König und über Jaro persönlich. Auf kaum eine dieser Fragen ging Jaro ein.

    »Er hat mir immerhin einen Passierschein ausgestellt.«

    Arolyn musste nicht erfahren, wie gut er Kielo kannte. Jaro würde behaupten, dass er einer der wenigen echten Freunde war, die der Kronprinz besaß. Einer der wenigen, zu denen er wirklich ehrlich sein konnte.

    »Da steckt doch mehr dahinter. Du sagst, dass nicht jeder einen Passierschein ausgestellt bekommst. Du aber bewegst dich frei in den Sumpfgebieten. Und wenn du den Kronprinzen auch noch überzeugen kannst, einen Fremden mit in die Stadt zu nehmen, kann dein Ansehen ja so schlecht nicht sein. Verflucht …«

    Jaro musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Arolyn sich so in Rage geredet hatte, dass er neben den Weg getreten war und Bekanntschaft mit der Tiefe des Sumpfes geschlossen hatte.

    »Jaro, kannst du mal kurz warten …«

    Seufzend fuhr er herum. »Ernsthaft, es ist mir ein Rätsel, wie du so lange in diesem Land überleben konntest.«

    Arolyn war mit seinem rechten Bein bis über das Knie eingesunken.

    »Die Trittbewegung, die du da machst, führt nur dazu, dass du noch schneller und tiefer einsinkst.«

    »Ach ja? Was soll ich denn sonst tun? Mich fallen lassen? Oder warte ich jetzt einfach, bis die Alligatoren kommen?«

    Jaro konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er hatte immer gedacht, Nymphen würden sich in der Natur geschickter anstellen als Menschen. Anscheinend galt das nur unterirdisch.

    »Keine hastigen Bewegungen. Nutze alles, was du in deiner Umgebung finden kannst, um dich festzuhalten und entferne dich dann Schritt für Schritt. Nutze den festen Boden hinter dir.«

    Jaro hätte ihm helfen und ihn innerhalb weniger Sekunden rausziehen können – doch wo bliebe da der Lerneffekt? Stattdessen beobachtete er, wie der schlanke Mann sein Bein selbst aus dem Moor hievte. Die Jacke rutschte ihm dabei über die Schultern, entblößte dünne Arme, die blasser noch als Jaros eigene waren, sodass sich die Äderchen abzeichneten. Arolyn könnte zerbrechlich wirken, wenn er nicht so groß gewesen wäre. Jaro stellte sich unweigerlich vor, wie es wohl wäre, diese Adern mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen …

    »Danke für deine Hilfe«, knurrte Arolyn schweratmend, als er wieder mit zwei Beinen auf festem Boden stand.

    Jaro zuckte mit den Schultern. »Achte das nächste Mal darauf, wohin du trittst.«

    Mit diesen Worten wandte er sich ab und lief weiter, ertappte sich dabei, wie er lächelte. Augenblicklich gefroren seine Gesichtszüge. Er durfte nicht vergessen, wer ihn da begleitete. Arolyn war eine Nymphe. Die Nymphen hatten den Fluch über Skagar gebracht. Sie verdienten keine Sympathie, kein Mitgefühl.

    »Ich hasse den Sumpf«, brummte sein Begleiter hinter ihm.

    »Dann haben wir was gemeinsam.«

    Der Sumpf hatte sich erst ausgebreitet, als die Nymphen das Land verflucht hatten. Sie waren der wahre Ursprung für all das Leid in Skagar. Für die zerstörten Familien, die toten Kinder, seine toten Eltern. Jaro presste die Lippen zusammen und schloss die Sympathien für Arolyn, die sich in ihm geregt hatten, tief in sich ein. Es durfte sie nicht geben. Arolyn war eine Nymphe. Eine Nymphe … Jaro rieb sich angestrengt die Stirn. Das bedeutete, er hatte in der vergangenen Nacht fast eine Nymphe geküsst. Falsch, sich von einer Nymphe küssen lassen – was die Sache keineswegs besser machte. Für einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich auf Arolyns Angebot einzulassen. Ein Moment der Schwäche. Doch dann hatte ihn eine Mischung aus Pflichtbewusstsein und Vernunft zurückgerissen. Nun war Jaro froh, dass er sich nicht auf Arolyns Spiel eingelassen hatte. Es war egal, wie gut er aussah, wie einladend seine Lippen wirkten. Und dennoch … Er warf einen raschen Blick zurück zu Arolyn. Trotzdem fragte er sich, wie diese Lippen schmeckten.

    Auf dem restlichen Weg nach Nórstad begegneten sie weder Sumpfschakalen noch sterbenden Familien. Jaro war dankbar für die Ruhe vor dem Sturm. Denn mit nichts anderem war das Gefühl zu vergleichen, wenn man den einsamen Sumpf hinter sich ließ und die bevölkerte Stadt betrat.

    Arolyn wurde stiller, je näher sie den großen Toren kamen. War er nervös? Für eine Nymphe stellte die Stadt doch nichts weiter als eine Falle dar. Zum ersten Mal wurde Jaro bewusst, welches Risiko Arolyn einging. Er

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