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Homeless: Roman
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eBook439 Seiten5 Stunden

Homeless: Roman

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Über dieses E-Book

Vier Menschen, eine Stadt, zwei Welten: Helen und Richard können sich veganen Truthahn und Achtsamkeitskurse leisten, während sich Katie und John dem Überlebenskampf auf der Straße stellen müssen. Sie alle leben in Portland, USA, einem Zentrum der Alternativ- und Hipsterkultur, wo zugleich tausende von Menschen obdachlos sind. Als eine rechte Bürgerinitiative auftaucht, die gegen Obdachlose hetzt, und schließlich sogar Zelte angezündet werden, geraten die vier in einen Strudel gewaltsamer Ereignisse, der sie an die Grenzen des Aushaltbaren treibt.
Die Spannungen zwischen den Milieus hat Eske Hicken vor Ort erlebt und in einen packenden Roman verwandelt, der unter die Haut geht und von Schicksalen erzählt, denen wir künftig auch in unseren Breitengraden begegnen könnten.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition W GmbH
Erscheinungsdatum4. Sept. 2023
ISBN9783949671586
Homeless: Roman
Autor

Eske Hicken

Eske Hicken, geboren 1971 in Delmenhorst, ist Radio- und Fernsehreporterin. 2017 nahm sie eine berufliche Auszeit und arbeitete ein Jahr lang bei einer Organisation in Portland, die für die Rechte von Obdachlosen kämpft. Eske Hicken lebt in Frankfurt am Main.

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    Buchvorschau

    Homeless - Eske Hicken

    Portland #1

    In unserem Amerika gewinnt die Liebe. Es sind Zeiten, in denen man das gar nicht deutlich genug sagen kann. Sehr viele Leute haben sich diese Schilder in die Vorgärten gestellt: In unserem Amerika. Steht darauf. Gewinnt die Liebe. Sind alle Menschen gleich. Und Schwarze Leben zählen. Und Flüchtlinge und Frauen und Menschen mit Behinderungen. Willkommen in Portland, Oregon! Recycling ist hier selbstverständlich, Fahrradfahren auch. Antirassismus gar keine Frage! In den Straßen riecht es nach Weed, Restaurants haben genderneutrale Toiletten und es ist kein Problem, vegan und glutenfrei zu leben. Gleichzeitig. Wir feiern die Vielfalt! Und wer etwas hat, der soll etwas zurückgeben. Auf der Seite der Armen und Unterdrückten zu sein, war immer klar. Es war allerdings nicht klar, dass die Armen und Unterdrückten irgendwann vor der eigenen Haustür auftauchen würden.

    Katie: Thanksgiving

    Sam ist spät ins Bett gekommen. Er schnarcht. Das ist gut. Ich habe seinen Schlaf in den vergangenen sechs Wochen genau beobachtet und heimlich getestet, und das zu unterschiedlichen Zeiten in der Nacht. Lautes Husten weckt ihn nicht, leicht gegen die Badezimmertür treten auch nicht, mehrmaliges Herumwälzen im Bett manchmal.

    Wenn Sam wach wurde, war er jedes Mal sehr, sehr wütend über die Störung seiner Nachtruhe. Manchmal konnte er nicht wieder einschlafen, weil er nicht fassen konnte, was für ein selbstsüchtiger Mensch ich bin, der nicht weiß, was Rücksicht bedeutet. Als ich einmal um 1:45 Uhr etwas lauter gegen die Tür getreten hatte, setzte er sich mit einem Ruck auf. Er packte mich und zerrte mich am Arm durch das Zimmer, zerriss mein Nachthemd, schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ich mit dem Kopf gegen die Wand stieß, und schloss mich für den Rest der Nacht im Kleiderschrank ein.

    Morgen ist Thanksgiving, mein Lieblingsfeiertag, ich werte das als gutes Zeichen. Heute Nacht bin ich weg.

    Beschlossen habe ich das vor sechs Wochen. Wir hatten keine Milch mehr. Das war gedankenlos von mir, denn gegen zwei Uhr nachts wollte Sam Cornflakes, aber bestimmt nicht ohne Milch. Und weil er seine Wut darüber nicht ausdrücken konnte, ohne die Nachbarn zu wecken, presste er seine Faust gegen den Kühlschrank. Heftig schnaufend und mit rotem Gesicht, weil er sich innerlich so sehr bremsen musste.

    Dann griff er in meine Haare, riss meinen Kopf nach unten, nahm eines der scharfen Messer aus der Schublade und drückte es an meinen Hals. Ich konzentrierte mich auf das Muster des Küchenfußbodens und verhielt mich vollkommen ruhig. Ich weiß, was in solchen Momenten zu tun ist: Sofortige Kooperationsbereitschaft zeigen, nicht bewegen, nichts tun, was als Widerstand gedeutet werden könnte, Fragen umgehend beantworten, möglichst keine Angst zeigen und nicht heulen, auf keinen Fall heulen.

    Er rüttelte an meinem Kopf, was das Messer in meinen Hals drückte, sodass ich spürte, wie mein warmes Blut in den Kragen lief. Ich wusste nicht, wie viel Kontrolle er noch über sich hatte. Und ich war mir nicht sicher, ob er mir nicht vielleicht gleich das Messer in die Luftröhre rammen würde.

    Und der Küchenfußbodentrick funktionierte nicht. Meine Unterlippe zog sich peinlich zitternd und mit Macht nach unten, Tränen liefen mir aus den Augen. Meine Stimme klang gepresst und leise und weinerlich, als ich sagte: »Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte nicht.«

    Ich glaube, dass Sam immer auf den Moment wartete, in dem er meine Angst sehen konnte. Dann entspannte er sich und manchmal erklärte er mir mit sanfter Stimme, dass ich es immer wieder schaffte, ihn bis aufs Blut zu reizen, und dass ich damit aufhören müsse. Jedenfalls schien er für dieses Mal durch zu sein. Er beugte sich zu mir herab, zog mein Gesicht an seines und sagte leise: »Wirst du in Zukunft darauf achten, dass wir Milch im Haus haben, du beschissene Schlampe? Ja?«

    Ich nickte schnell – Kooperationsbereitschaft zeigen, Fragen umgehend beantworten –, er schubste mich auf den Fußboden und trat mir mit voller Kraft in den Bauch, was ich nicht mehr erwartet hatte. Er sah mir eine Weile zu, wie ich mich krümmte und dabei versuchte, die am wenigsten schmerzende Körperhaltung einzunehmen. Dann half er mir auf, sagte leise: »Das muss doch alles nicht sein«, und drückte seinen Mund fest auf meine Haare.

    Ich nickte. Es war ein guter Moment. Endlich hatte es weh genug getan. Als ich wieder laufen konnte, klebte ich ein Pflaster auf die Stelle am Hals, wickelte ein Tuch darum, legte mich ins Bett und dachte über meine Optionen nach. Hier in Denver zu bleiben, zurück zu meiner Mutter oder zu einem meiner beiden Brüder zu ziehen, kam nicht in Frage. Nicht nur, weil Sam mich dort zuerst suchen würde. So gesehen war Mia die einzige Option. Sie war nach Portland gezogen, um dort zu studieren. Portland war mir immer ein bisschen zu bemüht independent und besonders, aber es war zugegeben auch cool und vor allem war es weit weg. In den ersten Monaten hatte Mia mir Bilder von Hundeyogaklassen geschickt, von Restaurants, in denen es spuken sollte, und von Läden, die Dinge verkauften wie magische Kräuter oder tibetanische Tischdecken. Immer mit ironischen Kommentaren, aber es war offensichtlich, dass es ihr dort sehr, sehr gut gefiel.

    Vielleicht könnte ich am Anfang in einem Café arbeiten und mir dann einen richtigen Job suchen. Irgendwas ohne Vorurteile gegen Quereinsteiger mit abgebrochenem Studium. In einem Ökoprojekt, bei einem kleinen Verlag oder in einer Bibliothek. Am nächsten Morgen rief ich Mia an. Sie gratulierte mir, ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie strahlte.

    Das ist die Lage. Seit drei Tagen habe ich ein Greyhoundbus-Ticket in der Tasche und einen gepackten Wanderrucksack im Brombeerbusch vor dem Haus versteckt. Ich habe meinen einzigen Hosenanzug eingepackt, ansonsten nur praktische Sachen, die man in Lagen übereinander tragen kann, und 1 000 Dollar, die ich in kleiner Stückelung vom Einkaufsgeld abgezweigt habe; dazu Laptop und Schlafsack. Den Schlafsack hätte ich gern dagelassen, aber Mia schrieb extra, dass sie nur eine Decke besitze. Wahrscheinlich gibt sie ihr Geld immer noch für Kiffen und Klamotten aus.

    Meinen Führerschein hat Sam, seit zwei Jahren, ebenso wie meine Kreditkarte, und mein Gmail-Passwort. Ich sagte nichts, ich hatte schon lange vorher eine zweite E-Mail-Adresse und eine zweite Kreditkarte, von der er nichts weiß. Gestern habe ich ein neues Prepaid-Handy für 30 Dollar von Walmart gekauft mit meiner neuen Vorwahl: 503 für Portland.

    Der Bus geht frühmorgens. Ich stelle ihn mir vor wie eine Zeitkapsel, ich werde in einem anderen Leben aussteigen. Sam rastet totsicher aus, auch wegen der Miete, er wird seine Mutter anpumpen müssen, er wird die Wohnung allein nicht halten können.

    Als es Zeit ist, steige ich sehr vorsichtig aus dem Bett, gehe langsam zur Tür und drücke mit meiner Hand fest gegen den Griff. Aber vielleicht war ich zu heftig, jedenfalls rutscht er mir aus der Hand und springt mit einem lauten Klacken zurück. Das Schnarchen hat aufgehört. Sam hat die Augen geschlossen und den Mund offen. Wäre er aufgewacht, stünde er wahrscheinlich schon neben mir, das muss ich mir sagen. Ich bewege mich nicht. Er dreht sich um, atmet tief.

    Zwei Minuten brauche ich, um zur Haustür zu kommen. Jetzt könnte ich noch zurückschleichen, und ich weiß, dass es vollkommen psycho ist, das zu denken. Aber wenn er jetzt in der Tür stehen und sagen würde »Komm zurück«, diese Phantasie habe ich allen Ernstes gerade, dann würde ich kurz zögern.

    Ich gehe nicht zurück, weil ich es mir sage. Ich habe Angst und ich fühle mich frei. Auf das Gefühl der Freiheit muss ich mich konzentrieren, die Angst ist auch so da.

    Helen: Tofu-Truthahn

    Wir sind spät dran. Richard hat etwas gebraucht, bis er sich endlich für Jeans, Sakko und T-Shirt entschieden hat. Eine Kombination, die seine dunklen, angegrauten Haare betont, er sieht darin noch größer aus als er ohnehin schon ist. Und gut, zugegeben wirklich gut. Wenn wir zu meinen Eltern fahren, sucht er immer besonders lange im Kleiderschrank herum. Um Zeit zu schinden. Wahrscheinlich glaubt er, dass ich es nicht merke.

    Er hält das Lenkrad fest, schaut auf die Straße und trinkt schweigend Kaffee aus einem Plastikbecher, den er sich unterwegs noch kaufen musste und für den er sich sogar gerechtfertigt hat. Wir haben hübsche wiederverwendbare Bambusbecher zu Hause, ich sage dazu nichts mehr. Ich muss mich schon darauf konzentrieren, diese genervte Stille auszuhalten und mich nicht für die Stimmung im Auto verantwortlich zu fühlen. Es ist Thanksgiving, wir sind auf dem Weg zu meinen Eltern, ich brauche meine Kraft.

    Richard ist wie immer schlecht gelaunt. Meine Mutter stresst ihn, sie redet ihm zu viel und sie versucht mit ihm zu flirten, was er noch schlimmer findet.

    Kein einziger meiner Ex-Freunde mochte meine Mutter. Sie wäre überrascht, das zu hören. Und so habe ich vor Familienbesuchen immer brummige und schlecht gelaunte Männer im Auto sitzen, seit 13 Jahren Richard.

    Ich kann ihn verstehen, und ich halte das Schweigen jetzt doch nicht mehr aus und sage versöhnlich, scherzend, lächelnd: »Letzte Gelegenheit abzuhauen. Noch können wir umdrehen und uns ein schönes Restaurant suchen.«

    Schweigen. Früher hätte er meine Hand genommen und die Augenbrauen hochgezogen. Aber dann beugt er sich zu mir herüber, ich denke kurz, dass er mir einen Kuss geben will, einen dieser asexuellen Trostküsse, aber er zieht nur ein Papiertuch aus dem Handschuhfach.

    Vor dem Haus meiner Eltern steht das Anti-Trump-Schild mit der amerikanischen Flagge und dem Statement in blau-weißen Buchstaben: In unserem Amerika gewinnt die Liebe, alle Menschen sind gleich, Schwarze Leben zählen, Flüchtlinge sind willkommen, Vielfalt wird gefeiert und die Menschen und der Planet sind wichtiger als Profit. Ich habe das Schild meinen Eltern letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, bei unserem letzten Besuch lag es noch im Keller.

    Das Schild steht in sehr vielen Vorgärten, die ganze Stadt ist voll davon. Es ist eine sehr erfolgreiche Protestaktion gegen den Präsidenten. Von einer Aktivistinnengruppe aus Portland, woher sonst.

    Anfangs hatte sich Richard darüber lustig gemacht. Er findet, dass Mittelschichtler wie wir ihre Haltung lieber zur Schau stellen als politisch aktiv zu werden. Dann besorgte er uns trotzdem eins und stellte es persönlich im Vorgarten auf. Neben das Black Lives Matter-Schild, das ich bereits durchgesetzt hatte. Es ändert nichts, da sind wir uns einig. Aber es ist eine klare Ansage, dass wir hier in Portland nicht damit einverstanden sind, von einem Wahnsinnigen regiert zu werden.

    Meine Mutter steht in der Tür. Sie hat ihre grauen Haare hochgesteckt, dazu trägt sie ein enges blaues Kleid mit Rollkragen, in das ich gar nicht hineinpassen würde. So wie sie gerade an mir herunterschaut, denken wir beide das.

    Sie hebt leicht den Kopf und lächelt Richard an. Dann legt sie ihre Hände um seine Hüften, so tief, dass sie fast seinen Hintern berühren, und zieht ihn zu sich. Und wir sind noch nicht mal bis ins Haus gekommen. Ich werfe Richard einen solidarischen Blick zu. Mein Vater drückt mich nach einem kurzen Zögern an sich: »Ich hoffe, ihr habt ein bisschen Hunger.«

    Ich reiche meiner Mutter die Flasche Rotwein, die wir dabeihaben, und eine Tupperdose mit Tofu-Truthahn. »Ich habe mir was mitgebracht, hatten wir ja besprochen.«

    Sie schaut kurz auf die Dose, gibt sie mir wieder zurück und sagt zu Richard: »Aber du isst noch Fleisch, oder?«

    Richard nickt langsam und schaut mich dabei an. Ich weiß, dass er nicht will, dass ich Streit anfange. Ich bin seit fünf Jahren Veganerin. Meine Mutter findet das so albern, als hätte ich beschlossen, für den Rest meines Lebens nur noch Gerichte mit gelber Farbe zu essen. Gleich wird sie mir schweigend etwas Kohlgemüse mit Reis auf den Teller legen. Wenn ich Pech habe, ist Speck im Kohl und mir bleibt nur der Reis. Sie denkt sich nichts dabei, sie findet, dass Veganismus nichts ist, was man unterstützen müsste, also mein Problem.

    Ich versuche, die Gefühle, die das verursacht, durch mich hindurchfließen zu lassen wie beim Meditieren. Zum Beobachter werden, keinen inneren Widerstand leisten und auch keinen äußeren. Funktioniert nur mäßig, aber wenn ich nicht auf mich aufpasse, öffnet sich eine Tür, hinter der ich 3 000 fiese Kindheitserinnerungen gefangen halte, und wenn diese Tür erst mal offen ist, brauche ich mindestens zwei Tage, um sie wieder zu schließen. Richard will darüber nicht mehr diskutieren und sich auch nicht anhören, wie narzisstisch und passiv-aggressiv ich meine Mutter finde. Sein Rat: »Bring dir halt einfach selbst was mit und ärgere dich nicht.«

    Ich folge meiner Mutter in die Küche, noch immer die Tupperdose in der Hand. »Der Braten ist so schön dieses Jahr, ganz jung, bestimmt nicht zäh. Früher hast du den gern gegessen.« Ich öffne den Deckel und schaffe es nur halb, meiner Mutter, die hinter mir steht, die Sicht zu versperren. Mein pflanzlicher Ersatz ist ein beiger Klops, der unschön aussieht, aber geschmacklich tatsächlich ein bisschen an Truthahn erinnert.

    »Warum willst du Veganerin sein, wenn du etwas isst, das nach Fleisch schmecken soll, das verstehe ich nicht.« Ich schweige aggressiv. Meine Mutter holt Dinge aus dem Schrank und hantiert mit den Töpfen. Dann steht sie wieder hinter mir und gibt mir das Gefühl, dass ich den ordnungsgemäßen Ablauf des Festes störe.

    Richard: Gern noch etwas trinken

    Helen atmet sehr tief durch. Ich soll es hören. »Letzte Gelegenheit abzuhauen.«

    Sie lächelt mich an. »Noch können wir umdrehen und uns ein schönes Restaurant suchen.« Ich sollte jetzt etwas Nettes sagen, einen Scherz machen, das wäre die angemessene Reaktion. Will ich gerade nicht. Helen sieht mich auffordernd an, während ich in weitem Bogen vorwärts einparke. Dann schalte ich den Motor aus und nehme ein Kleenex aus dem Handschuhfach.

    Meine Schwiegereltern wohnen auf dem Mount Tabor. Seit unserem ersten Treffen nenne ich sie Michael und Linda, darauf haben sie gleich bei der Begrüßung bestanden. Ohne Auto ist es ein anstrengender Weg hinauf.

    Michael und Linda gehört eine Villa. Von der Straße aus könnte man sie für ein normales Einfamilienhaus halten, durch die Hanglage sind die unteren Etagen nicht zu sehen. Michael hat im Wohnzimmer eine bodentiefe Glasfront einbauen lassen, sodass man schon von der Haustür aus einen spektakulären Blick auf die Stadt hat.

    Das Erdgeschoss ist offen und hell, mit großen Sofas und rustikalen Massivholzmöbeln, für die es einen Namen gibt, den ich vergessen habe. An der hinteren Fensterfront ist ein kleiner Tisch mit Getränken aufgebaut. Michael hat immer hartes und gutes Zeug da, das er bereitwillig mit mir teilt. Neben den Sofas stehen Körbe mit Decken, mit Mustern amerikanischer Ureinwohner. Die Firma gehört seit Generationen einer weißen Einwanderer-Familie. Linda hat sich schon mehrfach für ihre Decken gerechtfertigt. Es irritiert sie, dass etwas, das früher als weltoffen und solidarisch verstanden wurde, plötzlich eine zu kritisierende Aneignung von Kultur sein soll. Linda besteht darauf, die Decken als Geste der Wertschätzung und Versöhnung gekauft zu haben. Helen hat sie letztes Jahr an Thanksgiving gefragt, wie weit die Decken-Versöhnungsgeste den Ureinwohnern wohl am Arsch vorbeigeht, an einem Fest, das die Ermordung und Ausbeutung ihrer Vorfahren leugnet. Ich sehe das ähnlich, habe aber keine Lust, mich darüber mit meiner Schwiegermutter zu streiten, und hoffe, dass uns diese Diskussion heute erspart bleibt.

    Meine Eltern leben nicht mehr. Meine Mutter war Hausfrau, und mein Vater hatte eine kleine Schädlingsbekämpfungsfirma, die aus ihm selbst bestand und die es uns erlaubte, alle drei Jahre Urlaub am Meer zu machen. Bei uns war die wichtigste Frage an Thanksgiving, ob die Cranberrysoße aus der Dose gut ist oder schlecht oder besser als selbstgemachte. Wir achteten darauf, dass die Weingläser gefüllt blieben, und sprachen weder über Persönliches noch über Politik. Ab und zu fehlt mir das. Aber grundsätzlich ist an meinen Schwiegereltern nichts auszusetzen. Wenn ich weiß, dass der Besuch zeitlich begrenzt ist, kann ich es hier prima aushalten.

    Helen sieht das ein wenig anders. Ich kann zwar nicht erkennen, dass ihre Kindheitserlebnisse schlimmer wären als die anderer Menschen, aber sie findet ihre Familie dysfunktional. Sie guckt streng, sie erwartet Zeichen der Solidarität von mir, und gemeinsames Trinken mit ihrem Vater fällt nicht darunter.

    Linda wartet in der Tür. Sie trägt ein enges Kleid, und wie immer legt sie mir zur Begrüßung beide Hände fest auf die Hüften und zieht mich an sich. »Schön, dich mal wieder zu sehen, Richard«, sagt sie mit einem Lächeln. Michael kommt aus der Küche und haut mir kumpelhaft auf den Rücken, er sieht entspannt aus.

    Mein Schwiegervater ist Anwalt, wertkonservativ und linksliberal, Rollkragenpullover, NPR-Sticker auf dem Auto. Seit 30 Jahren abonniert er die New York Times, The Atlantic und den Portland Chronicle. Natürlich auch weil Helen und ich dort arbeiten, aber es interessiert ihn tatsächlich, was in unserer Region passiert. Und er ist ein treuer Leser meiner Leitartikel und Kommentare. Wenn er gar nicht einverstanden ist mit dem, was ich schreibe, ruft er an; ab und zu bekomme ich freundliche E-Mails von ihm, die ich Helen verschweige. Ob er ihre Texte genauso aufmerksam liest, weiß ich nämlich nicht. Er kann nicht verstehen, dass sie im Gegensatz zu mir keine Karriereambitionen hat, dass sie sich noch nie auf einen Führungsposten beworben hat. Außerdem bin ich nicht sein Sohn, von mir erwartet er nichts.

    Auf dem Tisch steht eine Platte mit Crackern und französischem Käse, daneben Weißwein. Michael hat kein Problem, schon vormittags mit Alkohol anzufangen. Ich auch nicht.

    Vom Wohnzimmer aus kommt man auf die Dachterrasse mit einem Whirlpool, in dem sechs Leute Platz haben. Früher, wenn ihre Eltern im Urlaub waren, sind Helen und ich manchmal hierhergefahren. Wir lagen im Pool, ein Glas Wein in der Hand und haben zugesehen, wie unten in Portland langsam die Lichter angingen. Sex hatten wir zwischendurch im Wohnzimmer, weil Helen sich vorstellte, dass ihre Eltern nach ihrer Rückreise in unseren Körperflüssigkeiten baden würden.

    Ich bekomme ein Weinglas und folge Michael auf die Terrasse. Es ist angenehm draußen, vor allem regnet es nicht. Im Haus nebenan sitzen sieben Erwachsene und mindestens doppelt so viele Kinder um einen Tisch herum. In der unteren Etage befindet sich ein grün gekacheltes Schwimmbad mit einem Holzboden und Liegestühlen, auf denen große weiße Handtücher trocknen. Michael grüßt mit seinem Glas zu den Nachbarn hinüber, ein älterer Herr winkt uns zu.

    »Altes Geld«, hat Helen einmal gesagt und dabei missbilligend die Augenbrauen hochgezogen, ich bin nicht darauf eingegangen. Es ist ein alter Streit zwischen uns: Moralische und politische Maximalforderungen zu stellen, ist leicht, solange notfalls ein Scheck von Papa kommt. Andererseits profitiere auch ich davon. Ohne meinen Schwiegervater könnten wir uns unser Haus nicht leisten. So sieht es aus. Helen hat das noch nie gegen mich verwandt, obwohl in den letzten Monaten eine subtile Aggression zwischen uns gewachsen ist, die wir beide aber ignorieren.

    Michael schwenkt seinen Wein hin und her und schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Gibt es was Neues über diese entsetzlichen Anschläge? Es müssen doch gezielte Anschläge sein, oder? Dreimal hintereinander brennen Obdachlosenzelte ab, und die Polizei berichtet darüber, als gäbe es da keinen Zusammenhang.«

    »Nicht, dass ich wüsste. Da fragst du am besten deine Tochter, die ist für das Thema zuständig. Ob es wirklich Anschläge waren und ob sie sich gezielt gegen Obdachlose richten, ist wohl noch nicht klar. Die Polizei äußert sich nicht dazu.«

    Michael klingt jetzt für seine Verhältnisse ungewohnt heftig. »Mir kann niemand erzählen, dass zufällig innerhalb von zwei Wochen drei Zelte abbrennen. Man kann ja nur froh sein, dass niemand verletzt wurde.«

    Wir schweigen. »Naja. Schweres Thema für einen schönen Feiertag.« Michael legt mir den Arm auf die Schulter. »Gibt es was Neues bei euch?«

    Mit »euch« meint er erfahrungsgemäß meistens nicht Helen und mich, sondern den Chronicle, als langjähriger Abonnent kennt er die Namen, die über den Artikeln stehen.

    Ich schätze das eigentlich. Gerade jetzt würde ich meine Gedanken an die Arbeit aber gern ein bisschen in den Hintergrund trinken. »Ja, es gibt tatsächlich etwas, aber ich glaube nicht, dass es gut ist. Wir kriegen einen neuen Chefredakteur. Er heißt Ethan Greene, kommt von der Washington Post, und ich habe noch nie etwas von ihm gehört.«

    Michael scheint irritiert. »Ich auch nicht.«

    »Eben. Niemand kennt ihn. Er ist zwanzig Jahre jünger als ich. Daran kannst du sehen, wie unsere Branche den Chronicle einschätzt. Ein unbedeutender Posten bei der Washington Post reicht aus, um Chefredakteur bei uns zu werden. Vielleicht kennt ihn keiner, weil er gar nicht aus dem Journalismus kommt, sondern aus dem Marketing. Das würde mich auch nicht mehr überraschen.«

    »Übertreibst du nicht ein wenig?« Michael ist immer auf meiner Seite, er hat jetzt seinen liebenswürdigen Schwiegervaterblick aufgesetzt. »Du müsstest schon längst Chefredakteur sein, Richard.«

    Schon dafür hat sich der Besuch gelohnt. »Danke Michael, wirklich. Du kennst meine Meinung: Gut zu schreiben qualifiziert nicht automatisch dafür, Chefredakteur zu werden. Wenn man Typen wie mich zu Vorgesetzten macht, dann versagen sie, weil sie von Personalführung oder Arbeitsorganisation keine Ahnung haben. Das kompensieren sie, indem sie zum Arschloch werden oder zum Versager.«

    »Ich denke gerade darüber nach, wie du kompensieren würdest«, sagt Michael und haut mir leicht auf die Schulter.

    »Wahrscheinlich würde ich die Praktikanten terrorisieren.«

    Wir lachen. Michael stößt sein Glas an meins. »Jetzt ist erst mal Feiertag!«.

    »Leider ist das nicht alles. Unser Herausgeber hat uns mitgeteilt, dass die Zeitung umgebaut und ›zukunftsfest‹ gemacht werden soll, wahrscheinlich soll das der Neue durchdrücken. Ich habe noch nie erlebt, dass derlei was Gutes bedeutet hätte. Obwohl ich es für sinnvoll halte.«

    Michael nickt langsam. »Glaubst du, dass Helen mit dem Neuen zurechtkommt?«

    »Ich weiß es nicht. Sie neigt ja leider dazu, sich mit Vorgesetzten anzulegen. Und macht es sich oft schwerer, als es sein muss.«

    »Was ist es denn diesmal?«

    »Ach, nichts Spezielles. Sie sucht sich immer noch die schwierigsten Themen aus und bringt sich dann halb um und kriegt Schreibblockaden, weil sie einen ganz besonderen Text schreiben will und sich dabei selbst im Weg steht.«

    Michael schaut zum Nachbarhaus, dabei seufzt er leise. »Den Perfektionismus hat sie von mir, das ist ja eigentlich auch was Gutes. Sie muss nur langsam wissen, wo sie hin will beruflich. Mit 42 Jahren ist es ja fast zu spät.«

    Ich überlege, ob ich Helen gerade in den Rücken falle, aber es tut gut, mit jemandem zu reden, der weiß, was ich meine. »Meistens endet es damit, dass sie die halbe Nacht an ihrem Text herumbastelt, und wenn es schlecht läuft, weckt sie mich morgens um sechs, weil sie nicht den ›richtigen Sound‹ findet. Den richtigen Sound! Sie wird es nie lernen!« Ich bereue meinen scharfen Ton sofort. Michael schaut überrascht. »Ist bei euch alles in Ordnung? Braucht ihr vielleicht mal wieder Urlaub?«

    Ich schüttele den Kopf. »Alles gut. Ist halt viel Stress im Moment.«

    Wir sind beim zweiten Wein, als Linda auf die Terrasse kommt. Wenn sie mich so anschaut, will sie meistens etwas von mir.

    Linda schreibt unbezahlte feministische Artikel für ein Nischenmagazin. Niemand sagt ihr, dass ihre Texte sinnlos kompliziert, prätentiös und langweilig sind. Ich auch nicht, warum sollte ich.

    Es erstaunt mich immer wieder, mit welchem Anspruch Frauen absurden Hobbys nachgehen: unbezahlte Artikel, selbstgekochte Marmelade oder gebastelte Filztiere. All das, um sich Autorin oder Unternehmerin nennen zu können, nur weil sie eine Homepage haben, auf der sie albernes Zeug verkaufen. Früher haben Helen und ich immer über Frauen wie ihre Mutter gelästert. Manchmal sah sie mich ganz erschrocken an, aber dann lachte sie mit.

    Diesmal handelt es sich um Lindas ersten Aufmacher, der auf der Titelseite groß angekündigt werden soll. »Es wäre lieb, wenn du einmal drüberschauen könntest. Ich weiß, du hast viel Stress. Ich frage ja auch nur, weil mir dieser Text besonders wichtig ist. Sonst würde ich dich damit verschonen.« Linda hat sich an Michael gelehnt und lächelt mich an. »Und es ist natürlich Luxus, einen Chefreporter in der Familie zu haben.«

    Linda strahlt den Enthusiasmus einer achtzehnjährigen Collegestudentin aus, es ist eine große Sache für sie, was ich überraschend sympathisch finde.

    »Mama, ich bin ebenfalls Journalistin, wenn du willst, kann ich auch drüber sehen.«

    Helen ist ihrer Mutter gefolgt, sie sieht schlecht gelaunt aus, vermutlich wusste sie bis eben nichts von dem Artikel. Dass Linda feministische Texte schreibt, heißt nicht, dass sie sich für die Meinung ihrer Tochter interessiert. »Das ist lieb von dir, sehr gern. Aber es wäre wirklich toll, wenn Richard ihn trotzdem lesen könnte.«

    »Kein Problem«, sage ich und meide Helens Blick.

    Portland #2

    Wem gehört die Stadt. In Portland ist das eine Frage. Unsere Stadt ist die Aneinanderreihung unserer Zelte, die sich durch die Straßen und die Viertel ziehen. Der Slum, in dem wir sitzen.

    John: Toxische Feiertage

    Der Parkplatz am chinesischen Tor ist ein friedlicher Ort um diese Zeit, abgesehen von ein paar Dealern, die vor der Methadon-Klinik herumstehen. Ich überquere die Straße, es ist kurz nach neun, später als ich dachte.

    Ich bin mit Stone zum Thanksgiving–Essen im Streetwise verabredet. Er hat darum gebeten. Angeblich, weil er mir »persönlich« etwas erzählen muss, vielleicht will er heute nur nicht allein sein. Ich muss zugeben, dass es mir ganz recht ist. Feiertage haben etwas Toxisches, man darf das nicht unterschätzen.

    Ich kann schon von hier aus die Schlange sehen, die sich vor dem Eingang gebildet hat. Stone reagiert empfindlich auf Unpünktlichkeit.

    Das Streetwise ist ein Restaurant für Obdachlose in der Altstadt von Portland, das so tut, als wäre es ein echtes Restaurant. Und als wären wir echte Kunden. Das Essen wird serviert, so richtig mit Entschuldigung, wenn der Salzstreuer nicht auf dem Tisch steht. Es ist eine extrem kundenorientierte Suppenküche, wenn man so will. Der Name wurde mehrfach geändert in den vergangenen drei Jahren. »Streetwise« sollte selbstermächtigend sein, aber auch das wird schon wieder diskutiert. Nicht von unserer Seite, die Belegschaft fürchtet, der Name könnte doch eher beschönigend als selbstermächtigend rüberkommen. Das Streetwise ist einer der wenigen Orte, wo nicht auf uns herabgeschaut wird. Aber die Diskussionen gehen mir auf den Sack. Was ich für mich behalte. Ich habe immer noch genug Ärger wegen der Hähnchen-Geschichte. Vor drei Wochen war ein Mann auf mich zugekommen, er hielt mir eine Styroporschale mit Alufolie entgegen. »Hier bitte, es ist so viel übriggeblieben, möchten Sie? Es ist ein sehr feines Hähnchencurry.«

    Der Mann war gut angezogen, bestimmt achtete er auf seine Körperhygiene. Vielleicht hätte ich an einem anderen Tag ein nettes Gespräch mit ihm angefangen, aber in dem Moment war ich dünnhäutig und erschöpft, die Vorstellung von zusammengeschobenen Essensresten in einer Styroporschale regte mich auf. Nur weil ich auf einem Stück Kartonpappe säße, sei ich noch lange nicht der Abfalleimer hier! Das schrie ich dann auch laut, bevor ich mein Handy hochriss und anfing, ihn zu filmen. Der Mann schaute überrascht, rief, dass er sich so etwas verbitten würde, und versuchte dann hektisch, die Styroporbox vor meine Kameralinse zu halten. Ich schimpfte zurück, lauter, als ich wollte. Wir kommen also beide nicht besonders sympathisch rüber in dem Video, also vor allem ich nicht. Trotzdem postete ich das Ding sofort und ungepixelt auf Facebook, obwohl ich mich normalerweise an die Regel halte, alles, wirklich alles mindestens eine Stunde sacken zu lassen, bevor ich es veröffentliche. Zu dem Video stellte ich die Frage, ob »dieser Arsch« etwas essen würde, das ihm ein Fremder in die Hand drückt, ohne zu wissen, wo es herkommt und von wem. Sonst nichts, keine Erklärung, kein Kommentar.

    Was folgte, war helle Aufregung im Internet. Selbst einige meiner

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