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"Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?": Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats
"Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?": Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats
"Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?": Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats
eBook299 Seiten3 Stunden

"Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?": Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats

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Über dieses E-Book

Die Gefahr für das Denken liegt heute nicht in dessen Bekämpfung, sondern in seiner Auflösung. Denn nichts ist dafür bedrohlicher als die Macht der Indifferenz. Die Macht, die in Opposition zum Denken steht, ist in autoritären Gesellschaften Realität, während in unseren Gesellschaften die Grenze zwischen Macht und Denken gefallen ist. Dies hat nicht zur Versöhnung geführt - zu einer Macht, die denkt - , sondern zur Entleerung von beidem: zur Situation der Anführungsstriche, zur Denkmacht, die weder Macht noch Denken ist, zu dem, was Jean Baudrillard als Simulation bezeichnet. Am Beispiel des Referendariats beschreibt die Autorin die buchstäbliche Verwirklichung des Simulationsprinzips: den Unsinn, den eine solche Denkmacht produziert einerseits, den Zwang, die Entleerung des Denkens als geglückte Versöhnung der Differenz zu verstehen, andererseits. Ein alltägliches Machtverhältnis wird so zur Parabel für die Gewalt der Indifferenz. Die Mischung von subjektivem Bericht und philosophischer Reflexion erweist sich als Anknüpfung an die antike Tradition, in der Leben und Denken noch nicht geschieden sind, sowie an die neuzeitliche Tradition der Essays von Michel de Montaigne.
SpracheDeutsch
HerausgeberPassagen Verlag
Erscheinungsdatum2. Feb. 2015
ISBN9783709250112
"Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?": Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats
Autor

Caroline Heinrich

Caroline Heinrich, geboren 1972 in Bühl/Baden, studierte Philosophie und Germanistik in Münster und Mainz.

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    Buchvorschau

    "Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?" - Caroline Heinrich

    Die Gefahr für das Denken liegt heute nicht in dessen Bekämpfung, sondern in seiner Auflösung. Denn nichts ist für das Denken bedrohlicher als ein Zustand allgemeiner Indifferenz und Simulation. Die Macht, die in Opposition zum Denken steht, ist in autoritären Gesellschaften Realität, während in unseren Gesellschaften die Grenze zwischen Macht und Denken gefallen ist. Dies hat nicht zur Versöhnung geführt – zu einer Macht, die denkt –, sondern zur Entleerung von beidem: zur Situation der Anführungsstriche, zur Denkmacht, die weder Macht noch Denken ist, zu dem, was Jean Baudrillard als Simulation bezeichnet.

    Am Beispiel des Referendariats beschreibt die Autorin die buchstäbliche Verwirklichung des Simulationsprinzips: einerseits den Unsinn, den eine solche Denkmacht produziert, andererseits den Zwang, die Entleerung des Denkens als geglückte Versöhnung der Differenz zu verstehen. Ein alltägliches Machtverhältnis wird so zur Parabel für die Gewalt der Indifferenz. Die Mischung von subjektivem Bericht und philosophischer Reflexion erweist sich als Anknüpfung an die antike Tradition, in der Leben und Denken noch nicht geschieden sind, sowie an die neuzeitliche Tradition der Essays von Michel de Montaigne.

    Caroline Heinrich studierte Philosophie und Germanistik in Münster und Mainz.

    „WAS DENKT EIN NEW YORKER,
    WENN ER IN EINEN HAMBURGER BEISST?"
    PASSAGEN FORUM

    Caroline Heinrich

    „Was denkt ein New Yorker,

    wenn er in einen Hamburger beißt?"

    Mikrophänomenologie der Macht

    am Beispiel des Referendariats

    Deutsche Erstausgabe

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN 978-3-7092-5011-2 (E-Book)

    ISBN 978-3-7092-0068-1 (Broschur)

    2., überarbeitete Auflage, 2013

    © 2011 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

    http://www.passagen.at

    Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

    Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

    Inhalt

    Vorwort

    An den Leser

    Vorrede

    Das Referendariat und die „philosophische Situation"

    Anhang: Entwurf für die 1. benotete Lehrprobe

    I.

    Die Perversion der leeren Zeichen

    II.

    Das Sprachspiel „Macht"

    III.

    Der normale Wahnsinn

    Anhang: Das interne Papier

    IV.

    Die perfide Strategie

    Nachwort

    An den Leser

    Dieses Buch ist ein Risiko. Denn ich erzähle die Geschichte meines Referendariats und mache sie zum Gegenstand philosophischer Reflexion. Das hat natürlich Konsequenzen. Zum Beispiel die, dass ich Sie enttäuschen muss, wenn Sie erwarten, dass in diesem Buch alle möglichen Erfahrungen geschildert werden – ich habe mich auf die provozierenden beschränkt –, oder dass dieses Buch allein ein Buch über das Referendariat ist, denn es geht um gegenwärtige Machtstrategien, für die mein Referendariat nur ein zufälliges Beispiel ist. (Jede Ähnlichkeit mit noch im Amt befindlichen und aus dem Amt bereits ausgeschiedenen öffentlichen Personen ist daher auch rein zufällig.)

    Die Mischung von Erzählung und Reflexion ist zudem nicht modern. Modern ist, vom Wert der Erfahrung – für den Menschen und die Philosophie im Allgemeinen und die praktische Philosophie im Besonderen – zu sprechen, aber nicht, Erfahrungen, die provozierend sind, mal gründlich zu durchdenken. Was aber nicht modern ist, ist ungewohnt und fremd.

    Zuletzt ist dieses Buch ein Risiko, weil sein Gegenstand kein traditionell philosophischer ist. Denn es geht um nichts Großes – keine große Macht, kein großes Ereignis, keinen großen Widerstand –, sondern um niedere Machtverhältnisse, alltägliche Situationen, Minisubversionen. Es geht um nichts Geistreiches, nicht um eine Denkmacht, nicht um eine Macht, die Denken bekämpft, sondern um eine, die es durch Gedankenlosigkeit zum Verschwinden bringt.

    Zum Gegenstand der philosophischen Reflexion wird also genau das, was jede Art von Reflexion bedroht. Und genau darin lag auch die Schwierigkeit der Konzeption: Die Strategie der Macht, durch Geistlosigkeit zu beherrschen, zu beschreiben, ohne in der Darstellung des Geistlosen geistlos zu werden.

    Warum ich diese Risiken eingegangen bin? Weil aus philosophischer Sicht grundsätzlich nichts dagegen spricht: weil alles, was geschieht, auch die kleinste Begebenheit, einen Gedankenkern besitzt – der, je problematischer, umso interessanter ist –, der philosophische Instinkt darauf gerichtet ist, ihn aufzuspüren, und das philosophische Geschäft darin liegt, ihn freizulegen.

    Ich bin diese Risiken eingegangen, weil die kleine Begebenheit meines Referendariats anschaulich macht, wie das Recht auf Menschenverstand suspendiert werden sollte, und sie zugleich durch diese Gefahr ein Glücksfall der Erkenntnis war: weil sich die Macht hier in so vollendeter Weise von aller Substanz befreite, dass sie sich in ihrem reinen Funktionieren zeigte. Ich denke, dass ihre Beschreibung ein Vorteil ist, um Formen, die nach ihrem Muster operieren, aber noch nicht vollendet sind, da sie noch mit Inhalten spielen, eindeutig als Strategien der Macht zu dechiffrieren, und dass diese Dechiffrierung dem Leben letztlich dienlich ist. Sie ermöglicht, dass es eine Wahl gibt, bei der Freiheit zu gewinnen ist.

    Natürlich haben andere auch noch andere Risiken gesehen. Zum Beispiel, dass es nur heißen könnte, dass dieses Buch die Aufarbeitung eines Traumas ist.

    Ganz falsch wäre das nicht, weil ich tatsächlich auch ein Trauma aufgearbeitet habe: Das Trauma, eines Tages in einer Welt aufgewacht zu sein, in der ich sie und ihre Sprache nicht mehr verstanden habe.

    Falsch wäre nur, von Traumaaufarbeitung und dergleichen zu sprechen und damit zu meinen, dass alles gesagt ist, das Buch einer Beurteilung weder wert noch fähig ist. Denn man würde so tun, als führe ein traumatisches Erlebnis notwendig zu einem traumatischen Literaturergebnis, und damit einen Zusammenhang vortäuschen, den es nicht gibt.

    Ein anderes Risiko wurde darin gesehen, dass es nur heißen könnte, dass dieses Buch eine Abrechnung, ein Akt der Rache ist. Ganz falsch wäre auch das nicht, weil ich tatsächlich abgerechnet habe: Mit der Strategie des Scheins, die beschämend ist, weil sie schamlos ist: nicht mal die Spur einer Idee eines aufrichtigen Daseins besitzt; mit der Praxis des Internen – interner Papiere, interner Stellungnahmen, interner Akten –, die erniedrigend ist, weil sie niedrig ist: die hohe Form offener Gegnerschaft nicht kennt, und mit meinem eigenen Verhalten der Täuschung und Verstellung, das entwürdigend gewesen ist, weil es eines wahrhaftigen Daseins unwürdig ist. Ich habe mich an diesen Formen gerächt, weil ich sie zurückgegeben habe, indem ich sie beschrieben habe.

    Falsch wäre nur, von Abrechnung und Rache zu sprechen und damit zu meinen, dass alles gesagt ist, das Buch indiskutabel ist, weil es bösartig ist. Denn man würde entweder mit Absicht lügen: dass Rache immer böse ist (damit die, die sie trifft, die Guten sind), oder tatsächlich denken, dass sie immer böse ist: immer heimlich, eitel und gewöhnlich ist, weil man nichts anderes kennt.

    Ein Risiko sehe ich in diesen Reaktionen nicht. Einerseits, weil sie, wenn überhaupt, so oder so ähnlich zu erwarten sind, andererseits, weil sie nicht ernst zu nehmen sind.

    Um Ihnen nun noch eine etwas genauere Vorstellung von dem, was Sie erwartet, zu vermitteln, so viel: In der Vorrede wird die Situation des Referendariats mit Badious Begriff der „philosophischen Situation" systematisiert und die Referendariatsgeschichte bis zu ihren Höhepunkten erzählt. Während der Faden der Erzählung dann erst im letzten Kapitel wieder aufgenommen wird, werden in Kapitel I bis III Themen der Vorrede vertieft. In Kapitel I wird zunächst mit Chomsky sprachwissenschaftlich untersucht, wann ein Satz unverständlich ist, um dann zu begründen, warum nicht alle unverständlichen Sätze, mithin alle Formen von Gedankenlosigkeit, per se schon problematisch sind. In Kapitel II wird mit Jakobsons Sprachfunktionen und der Sprechakttheorie untersucht, wann eine Frage eine Frage ist, dann begründet, warum nicht alle Fragen, die keine Fragen sind, nicht zu beantworten sind, und mein Verhalten der Kommunikationsverweigerung mit der Ethik von Lévinas konfrontiert. In Kapitel III wird der bis dahin gesammelte Referendariatsunsinn mit dem Thema „Wahnsinn" verbunden. Es wird mit Kant gezeigt, wann ein Unsinn Wahnsinn ist, begründet, wann ein Wahnsinn nicht mehr harmlos ist, erklärt, warum die Arroganz der Vernunft nie unproblematisch ist, mit Foucault der Umgang mit dem Wahnsinn kritisiert und schließlich die Situation des Referendariats mit Baudrillard reflektiert.

    Das IV. Kapitel knüpft direkt an die Vorrede an: Das Scheitern der eigenen Strategie wird, nun auf den Begriff der Macht zentriert, nochmals reflektiert, die Strategie gegenwärtiger Macht herausgestellt und mit den Machtanalysen von Foucault und Baudrillard systematisch ausgeführt.

    Ein letzter Hinweis zur Konzeption: Die Reihenfolge der Kapitel ist kein Zufall, sondern eine Übertragung der Situation. Wenn ich zum Beispiel erst im letzten Kapitel näher beschreibe, wie ich mich zum Unsinn – sinnloser Sätze (Kapitel I), sinnloser Fragen (Kapitel II) – verhalten habe, dann deshalb, weil erst mit dem „internen Papier" (Kapitel III) zweifelsfrei deutlich geworden ist, dass mein Verhalten ein Verbrechen gewesen ist, und damit die Konfrontation mit dem Unsinn tatsächlich eine Konfrontation mit der Macht gewesen ist. Die Tatsache, dass die Macht im Referendariat nicht vor dem Machtdelikt gestanden hat, erklärt ebenso, warum die Frage nach der Machtbeschaffenheit erst am Ende (Kapitel IV) beantwortet wird.

    Der Idee einer „poetischen Übertragung der Situation" (Baudrillard) folge ich auch im Stil des Erzählens und der Form der Reflexion. Ich habe zum Beispiel ein hohes Erzähltempo gewählt, um dem Entsetztsein und Gehetztsein jener Zeit Ausdruck zu verleihen, und die Gedanken oft stark konzentriert, weil Konzentration für jene Augenblicke der Geistesgegenwart in der Gefahr bezeichnend gewesen ist.

    Mehr will ich an dieser Stelle nicht sagen. Denn ein Vorwort hat schließlich nur die Funktion, den Leser grob zu orientieren und für das Kommende zu interessieren.

    Das Referendariat und die

     „philosophische Situation"

    Die entscheidende Frage, die ich mir vor Beginn des Referendariats stellte, war: Wie ist es zu schaffen, es zu keiner Kollision mit der Macht kommen zu lassen? Keine „philosophischen Situationen"¹ entstehen zu lassen, in denen die Wahl, sich für das Denken oder die Unterwerfung unter die Macht zu entscheiden, immer zugunsten des Denkens ausfällt?

    In jedem Fall wollte ich sie verhindern, weil, der Grund ist so banal wie wahr, ich nicht bereit war, mich von ihnen aufzehren zu lassen. So entschied ich, keine philosophische Haltung an den Tag zu legen. Ich beschloss, nichts anzugreifen und keine Angriffsfläche zu bieten, weder angreifbar noch überhaupt greifbar zu sein, allen Unsinn mitzumachen, mich nicht zum Widerspruch herausfordern zu lassen, nichts ungefragt zu kommentieren und überhaupt möglichst nicht zu reagieren, um nicht an der falschen Stelle Zustimmung zu signalisieren. Ich beschloss ferner, nicht töricht zu sein, aber auch nicht arglistig. Montaigne: „Man braucht nicht allzeit alles zu sagen, denn dies wäre Torheit; aber was man sagt, muß das sein, was man denkt, sonst ist es Arglist."² Ich beschloss, nicht offenherzig zu sein, aber auch nicht unaufrichtig. Kant: „Ich kann es einräumen, wiewohl es sehr zu bedauern ist, daß Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen) in der menschlichen Natur nicht angetroffen wird. Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei) muß man von jedem Menschen fordern können […]."³ Eben darum entschied ich, um gleichermaßen eine Kollision mit der Macht und die Lüge zu vermeiden, in der Regel zu schweigen.

    Schließlich gedachte ich, das Ganze auch als ein philosophisches Experiment anzusehen: Wie würde es sein, Anweisungen zu befolgen, nur weil sie Anweisungen sind? Würde es möglich sein, über die Dauer von zwei Jahren die Würde zu bewahren? Tagsüber zu „exerzieren und abends zu „räsonnieren, um es in Anlehnung an Kant⁴ zu sagen? Äußerlich gehorsam und innerlich frei zu bleiben? Das Rückgrat zu bewahren, indem ich mich hüte, ein Wort zu sagen – wie Herr Egge in der Parabel von Brecht?⁵

    Nicht nur waren diese Fragen mehr oder weniger falsch gestellt, wie sich im Folgenden zeigen wird, sondern weil „bekanntlich […] jede Bemühung, ein Ereignis abzuwenden, nur seine Fälligkeit [beschleunigt]"⁶, war es letztlich die Strategie zur Verhinderung philosophischer Situationen, die unerwartet zur Konfrontation führte, zuerst mit dem Fachausbilder für Deutsch, dann mit der Seminarleitung, schließlich mit dem Ministerium. Darin liegt die objektive Ironie der Geschichte. Ich komme später auf sie zurück.

    Zunächst ließen bereits die ersten Wochen im Referendariat ahnen, dass die gefassten Beschlüsse nicht verkehrt waren. Da gab es die versteckten Hinweise: „Für Ihre Einstellung sind diese zwei Jahre von entscheidender Bedeutung!"⁷, die indirekten Drohungen: „Überlegen Sie sich genau, welche Rolle Sie haben und welche wir haben!, und die indifferenten Drohungen: „Sie haben sicher schon viel Schlimmes über das Referendariat gehört. Ich kann Ihnen nur sagen, das stimmt alles! Es gab direkte Hinweise auf die Panoptikumssituation: „Das Schlimmste für Sie wird sein, dass Sie zwei Jahre lang mit Ihrer ganzen Person unter Beobachtung stehen, kryptische Erläuterungen zur bevorstehenden „außerordentlichen Härte⁸ der Situation: „Sie müssen permanent die Rollen zwischen Lehrendem und Lernendem wechseln (soll heißen: einmal sagen Sie, wo’s langgeht, einmal wir), und weniger kryptische: „Natürlich ist es ein Problem, schon mal erwachsen gewesen zu sein und nun wieder zum Schüler zu werden. Es gab zweifelhafte Beschwichtigungen: „Das heißt nicht, dass Sie als körperlicher und seelischer Krüppel aus dem Referendariat rausgehen, das ist auch nicht die Regel, und dazwischen eine unerträgliche Menschelei: „Glauben Sie mir, ich bin genauso aufgeregt wie Sie. Feierlich wurde dann doch die Erlaubnis erteilt, „immer zu denken.⁹ Aber natürlich nur in natürlichen Grenzen, denn „Achtung! Der Fachleiter kann sich sträuben! sollte man immer bedenken. Pathetisch wurde die Ermunterung ausgesprochen, doch bitte den „Mund aufzumachen, und salbungsvoll festgestellt: „Sie sind ja erwachsene Menschen. Aber natürlich nur in natürlichen Grenzen: „Vermeiden Sie die Haltung von Arroganz!, beweisen Sie „diplomatisches Geschick, „formulieren Sie eine Kritik als Frage und zeigen Sie sich zum „Fingerspitzengefühl in der Lage. Was im Klartext heißt: Kein unartikulierter Schrei bitte und keine Klage, kein Scharfsinn und keine geistreichen Kommentare. Oder: Drucksen Sie rum oder bleiben Sie stumm!

    Ich verstummte, hielt mich zurück, machte selten Witze und lachte nicht: Nicht über die Anweisung, in Prüfungen (Lehrproben) so zu tun, als wären keine Prüfer da, denn um „objektiv" zu sein, wollten sie unsichtbar sein. Ich lachte nicht über die gänzlich uncharmante Inszenierung der Lehrprobenbesprechung und sprach nicht aus, was alle ohnehin wussten oder ahnten, weil alle brav ihre Rolle übernahmen¹⁰, dass sie einzig zur Verlogenheit erzog, weil es nicht darum ging, ehrlich die gehaltene Stunde zu kommentieren, sondern sich „in einem ausgewogenen Verhältnis von Selbstkritik und Eigenlob" zu präsentieren, weil es nicht darum ging, offen die gesehene Stunde zu reflektieren, sondern die zugewiesene Rolle zu absolvieren: Zwangssolidarisiert mit den anderen Referendaren etwas Nettes über die gesehene Stunde zu sagen, um dem Geprüften nicht die Note zu verhageln, aber niemals das zu benennen, was man eigentlich für wichtig hielt, weil das an Kritik erinnert hätte, die zu erteilen den Prüfern vorbehalten war.

    Ich sagte nichts und lachte nicht, wenn sie aus einer Nichtigkeit eine ganz große Sache machten, wenn es etwa zur Begrüßung in der Schule hieß: „Was machen Sie schon hier?! Sie sind fünf Minuten zu früh!!", oder es vorwurfsvoll in der Lehrprobenbesprechung hieß: „Sie haben dafür zu sorgen, dass der Projektor funktioniert!!!"¹¹, und ich auf meine Nachfrage, ob ich jedes Mal einen Schraubenzieher mitzubringen habe, da hier offensichtlich eine Schraube locker war, ein ernstes „Ja, das haben Sie!" zur Antwort erhielt. Da lag er dann, auf dem Pult, anderthalb Jahre lang.

    Ich lachte nicht über die Anweisung einer Lehrerin: „Nennen Sie die Kinder nicht Kinder!!", dachte: Mögen Sie keine Kinder?, überlegte: Warum die Kinder nicht triumphieren lassen, da sie gar nicht glauben, dass sie Kinder sind?¹², aber ich sagte nichts. Auch nicht, als ein Lehrer mich anwies, nicht durch die Klasse zu laufen, und selbst, als er, nach den Gründen gefragt, zur Antwort gab: „Ihr Rock wippt", lachte ich nicht. Aber irgendwann verschwand auch der Impuls zu lachen.

    Um äußerlich gehorsam, aber innerlich frei zu bleiben, wie Herr Egge in der Parabel von Brecht, wollte ich Anweisungen befolgen und meine Arbeit erledigen – und fertig! –, den gesetzlichen Formalitäten genügen – und gut ist! –, und alles andere an mir vorbeiziehen lassen: mich von Drohungen nicht einschüchtern, von der Situation nicht gefangen nehmen, mich in die Macht nicht hineinziehen lassen. Aber so einfach war das nicht. Und als schwierig erwies sich genau das, wovon in der Brecht-Parabel nicht die Rede ist.

    Die Geschichte von Herrn Egge ist die folgende: Eines Tages kommt ein Agent zu ihm in die Wohnung und zeigt einen Schein vor, der ihn berechtigt, nach Belieben alles in Besitz zu nehmen, jede Wohnung, jedes Essen, jeden Mann. Herr Egge unterwirft sich ihm fortan in seinen Handlungen, aber niemals in seinen Gedanken und spricht so ein Bekenntnis seiner Unterwerfung während der Dauer seiner Knechtschaft auch nicht aus.

    Nirgendwo ist in dieser Geschichte aber davon die Rede, dass der Agent noch Vorgesetzte hätte, dass die Macht funktioniert „in der Art einer Kette"¹³, dass Herr Egge faktisch nicht nur einem, sondern mehreren Herren zu gehorchen und sich zwischen ihnen aufzuteilen hätte, und dass, je mehr der Machtraum sich erweiterte, es desto wahrscheinlicher würde, dass er in ihm scheiterte. Nirgendwo ist davon die Rede, dass der Agent Herrn Egge beobachtet und überwacht hätte, denn Hauptsache, er machte, was man ihm sagte, oder dass sich der Agent für Herrn Egge interessiert hätte: ob er ihn von Weitem grüßt oder wie sehr er sich verliert, wenn er ihn das Fürchten lehrt, oder wann er sich geschlagen gibt, wenn er geschlagen wird. Nirgendwo ist davon die Rede, dass es den Agenten irritiert hätte, dass sein Knecht stets aufrecht geht, oder dass er Vergnügen am Zurechtweisen gefunden und darum für Herrn Egge immer neue Regeln erfunden hätte¹⁴, oder dass überhaupt nur der Knecht ein guter wäre, der einsieht, dass alles, was er tut, voller Makel ist, und er selbst der größte Makel ist.

    Es fehlt also in der Geschichte die Darstellung der Gewalt, die direkt auf die innere Würde zielt, es fehlt die Beschreibung einer Atmosphäre, in der die Selbstsicherheit verlorengeht, d. h. es fehlt genau das, was die Situation im Referendariat im Kern ausgemacht hat.

    Der Grund ist einfach: Im Zentrum des Brechtschen Herr-Knecht-Verhältnisses¹⁵ steht, dass, weil dem Agenten alles gehört und Herrn Egge nichts, die Verfügungsgewalt über die Sachen auf die Personen ausgedehnt ist. Da allerdings das Ziel des Agenten, ein bequemes Leben zu führen und Herrn Egge die Arbeit zu überlassen, sein einziges Ziel ist – was nicht zuletzt daran ersichtlich ist, dass er von ihm nicht nachdrücklich erzwingt, seine Unterwerfung zu bekennen –, geht die Entwürdigung Herrn Egges über die Grenze, die dieses Ziel markiert, auch nicht hinaus. Sie endet damit, die Arbeit für ihn mitzumachen und für sein leibliches Wohl zu sorgen, damit, für ihn zu kochen, zu putzen und die Wäsche zu waschen, damit, ihn mit der Decke zuzudecken, die Fliegen zu vertreiben und seinen Schlaf zu bewachen.

    Das Herr-Knecht-Verhältnis im Vorbereitungsdienst ist völlig anders. Weder gehört die Schule den Ausbildern noch profitieren sie von der Arbeit der Referendare noch herrscht auf irgendeiner Seite ein Mangel an Betriebsamkeit. Weder wurde groß befohlen noch viel angewiesen und Anweisungen, deren Sinn so klar war, dass sie befolgt werden konnten, waren seltene Glücksfälle. Damit wird aber die Überlebensstrategie, die Brecht in der Egge-Geschichte entwirft, in Frage gestellt. Denn die Strategie, äußerlich gehorsam und innerlich frei zu bleiben, funktioniert nur, weil der Agent genügend Befehle erteilt, hinter deren Befolgung Herr Egge sich verstecken kann, sie funktioniert nur, weil zwischen beiden Distanz herrscht, weil der Agent der Person Herrn Egges gleichgültig gegenübersteht (Knecht ist Knecht), weil der Agent ein hedonistisches Interesse, aber kein disziplinarisches hat, das Platz für sadistisches Begehren lässt.

    Weil die Unterwerfung ihren Bezugspunkt im Begehren des Agenten nach einem von jeder Mühe enthobenen Leben findet und nicht in der Disziplinierung selbst, ist in der Parabel von Brecht der Blick für die Technik der Disziplinarmacht und ihre Wirkung verstellt.

    Der Vorbereitungsdienst, wie die amtliche Bezeichnung lautet, ist die Ableistung eines Dienstes¹⁶, bei dem, wie es bei Baudrillard heißt, die „Leistung […] vom Leistenden nicht trennbar ist.¹⁷ Ein staatliches Studienseminar ist eine Disziplinaranstalt¹⁸, in der es kaum darum geht, die Kunst der didaktischen Reduktion zu lehren, sondern darum, herauszufinden, wie man reagiert, wenn man an die physische und psychische Grenze getrieben wird, indem man permanent beschäftigt und in Beschlag genommen, begutachtet, überwacht, geprüft und getestet wird. Es geht gleichermaßen darum, eine „unbedingte Fügsamkeit¹⁹ hervorzubringen wie sich ihrer zu versichern.²⁰

    Deshalb wirkten tolle Tipps wie „Lösen Sie Disziplinschwierigkeiten mit Humor! oder die oft wiederholte Losung Hartmut von Hentigs „Die Sachen klären, die Menschen stärken! wie schlechte Scherze. Und wenn in den unzähligen Veranstaltungen²¹ für wenige Minuten verwertbarer Information mehrere Stunden abgesessen wurden, konnte ihnen eben nicht die Überlegung zugrunde gelegen haben: Welche Zeit brauchen wir, um das, was wir vermitteln wollen, zu vermitteln?, sondern musste auf die Überlegung geschlossen werden: Was können wir alles machen, um die Sitzungen irgendwie vollzukriegen?²²

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