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Stalin, der Weizen und ich: Eine ukrainische Kindheit
Stalin, der Weizen und ich: Eine ukrainische Kindheit
Stalin, der Weizen und ich: Eine ukrainische Kindheit
eBook417 Seiten5 Stunden

Stalin, der Weizen und ich: Eine ukrainische Kindheit

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Über dieses E-Book

Anfang der 1930er Jahre trat unter dem Diktator Stalin in der Sowjetunion eine neue Landwirtschaftspolitik in Kraft - wer sich der Zwangskollektivierung widersetzte, wurde gewaltsam gefügig gemacht, eingesperrt oder getötet. Gezielte Zwangsrequirierungen bei den sogenannten Kulaken (mehr oder weniger wohlhabenden Bauern) lösten in der Ukraine eine schwere Hungersnot aus. Der Bevölkerung war es verboten, das Land zu verlassen, wer es dennoch tat, wurde zurückgeschickt oder wanderte direkt in den Gulag - der Holodomor, Tod durch Hunger, hatte Methode und wurde unter Stalins Regime gezielt als Waffe eingesetzt.
All das hat der gebürtige Ukrainer Nikolai Koliada, Jahrgang 1926, als Kind und Jugendlicher am eigenen Leib erfahren. Gemeinsam mit Eltern und Geschwistern, die als Kulaken galten, musste er aus der Ukraine fliehen. Nach einer jahrelangen Odyssee durch die Sowjetunion, teils unter deutscher Besatzung, und einem Umweg über Deutschland, wo die Familie sehr herzlich aufgenommen wurde und das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte, landete sie 1945 schließlich in Frankreich und fand dort eine neue Heimat.
Catherine Koleda hat ihren Vater vor seinem Tod interviewt und die unglaublichen, oft erschütternden und dann wieder fast märchenhaft anmutenden Abenteuer der langen Flucht zu Papier gebracht. Dieses sehr persönliche Buch, das auch ein Zeugnis von Nikolai Koliadas Optimismus und Überlebenswillen ist, erschien 2015 in Frankreich bei Éditions Jourdan. 2022 ist die Ukraine aus traurigem Anlass ins Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt; die Geschichte scheint sich zu wiederholen. So erschien eine französische Neuauflage bei Éditions Rue de Seine und nun liegt auch erstmals eine deutsche Übersetzung vor.

Ein Teil der Einnahmen wird an die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Rhein-Neckar e.V./DUG gespendet.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Feb. 2024
ISBN9783758346170
Stalin, der Weizen und ich: Eine ukrainische Kindheit
Autor

Catherine Koleda

Catherine Koleda ist studierte Dolmetscherin und Übersetzerin. Sie arbeitet seit Jahren als selbstständige Fachübersetzerin und ist außerdem Französisch-Dozentin an der Universität Mannheim.

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    Buchvorschau

    Stalin, der Weizen und ich - Catherine Koleda

    Für Papa

    Für Mama

    Für Stéphane

    Für meine Familie

    Inhalt

    Vorwort

    Hinweis

    Schon sehr lange

    Erinnerung

    Fischfang

    Unverhoffte Begegnung

    Dankbarkeit

    Danke, Papa.

    Deine Welt, meine Welt

    Dein Stück Ukraine

    Vertrauen und Verantwortung

    Familienfotos

    Erste große Liebe

    Bereit

    Der Deutsche

    Freiheit

    Epilog

    Danksagung

    Vorwort

    Erzählen gegen das Vergessen. Die Verbrechen des stalinistischen Regimes anprangern, damit allen, die es noch nicht wussten, klar wird, dass Stalin nicht besser war als Hitler, dass auch er für den Tod von Millionen von Menschen verantwortlich ist. Genau das war das ständige Anliegen meines Vaters, ein ukrainischer Flüchtling, seitdem er 1945 in Frankreich angekommen war. Er erzählte Freunden und Familie von seiner Heimat. Damit seine Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten, wollte ich sie zu Papier bringen.

    Die Zwangskollektivierung von Land, die Entkulakisierung ¹, der Holodomor ², der Große Terror ³, der Krieg und die deutsche Besatzung der Sowjetunion, eine Katastrophe nach der anderen brach über die Ukraine herein.

    Kaum hatten die ukrainischen Überlebenden den Holodomor hinter sich, mussten sie Stalins Terror ertragen, um dann im Zweiten Weltkrieg mit unzureichender Ausrüstung, ohne Waffen oder geeignete Kleidung, an die Front geschickt zu werden. Und diejenigen, die aus naheliegenden Gründen dem Einberufungsbefehl nicht nachkamen, mussten die deutsche Besatzung aushalten.

    Die Geschichte meines Vaters spiegelt das Schicksal zahlreicher Ukrainer wider; derer, die Opfer der Zwangskollektivierung wurden, unter Hunger litten und ihre Verwandten an die Hungersnot verloren; derer, die anschließend zu unrecht der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt wurden, obwohl sie einfach nur Stalins barbarischem Regime entkommen wollten, das ihnen alles genommen hatte.

    Dass Stalin ein Diktator war, ist heutzutage kein Geheimnis mehr. Der Holodomor dagegen ist in manchen Teilen der Welt nach wie vor eine verkannte Problematik, und obwohl sich die meisten Historiker einig sind, dass es sich um gesicherte Tatsachen handelt und aussagekräftige Zeitzeugenberichte existieren, gibt es immer noch Menschen, die nie von diesem Verbrechen gehört haben. Die Frage, ob der Holodomor als Völkermord eingestuft werden sollte, wurde lange diskutiert. 2008 erklärte das Europäische Parlament den Holodomor zu einer „wissentlich herbeigeführten Hungersnot und einem „schrecklichen Verbrechen am ukrainischen Volk und gegen die Menschlichkeit, ordnete ihn also klar ein.

    Im Jahr 2022 kam das Thema erneut zur Sprache. Der Ukraine-Krieg ist wie ein trauriges Echo dieses düsteren Kapitels. Zum Jahresende hat das EU-Parlament dann die Entschließung vom 15. Dezember 2022 zu dem Thema „90 Jahre nach dem Holodomor: Anerkennung der Massentötung durch Hunger als Völkermord" (2022/3001(RSP))⁴ verabschiedet. Darin heißt es:

    „In der Erwägung, dass die Schönfärberei und Verherrlichung der totalitären Sowjetherrschaft und die Wiederbelebung des Stalin-Kults in Russland darin gipfeln, dass das heutige Russland zu einem Staat geworden ist, der dem Terrorismus Vorschub leistet und terroristische Mittel einsetzt, und dass sich die entsetzlichen Verbrechen gegen das ukrainische Volk nun wiederholen, etwa der gerade jetzt von Russland betriebene „Cholodomor, bei dem es sich um den Versuch handelt, das ukrainische Volk erfrieren zu lassen, indem Russland die zivile Energieinfrastruktur der Ukraine während des Winters vorsätzlich zerstört.

    Bis zum heutigen Tag weigern sich zahlreiche Länder, darunter Russland, den genozidalen Aspekt der ukrainischen Hungersnot anzuerkennen.

    Stalin, der Weizen und ich. Eine ukrainische Kindheit ist die Geschichte meines Vaters – ein Mann mit ebenso großem Freiheitsdrang wie die Ukrainer*Innen heute.


    1 Enteignung der Kulaken (wohlhabende Bauern mit eigenem Land). Man musste nur ein paar Tiere und ein Stück Land besitzen, um als Kulake zu gelten. Oft wurden auch diejenigen, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten, als Kulaken bezeichnet. Anmerkung der Autorin.

    2 Ukrainisch, wörtlich: Tötung durch Hunger. Von Stalin herbeigeführte Hungersnot, Millionen Menschen fielen ihr von 1932–1933 zum Opfer, vor allem in der Ukraine. A. d. A.

    3 Eine Phase massiver politischer Unterdrückung in der Sowjetunion Mitte der 1930er Jahre. A. d. A.

    4 https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0449_DE.html

    5 Ebd.

    Hinweis

    Dieser Erinnerungsbericht beruht auf Schilderungen Mitte der 1990er Jahre meines damals fast siebzigjährigen Vaters, auf zusätzlichen Informationen, die er mir später bei unseren Treffen und bei vielen Telefongesprächen lieferte, sowie auf Anekdoten, an die meine Mutter, mein Bruder und ich uns erinnern konnten.

    Zum Schutz der Privatsphäre habe ich einige Namen geändert.

    Die Geschehnisse wurden mit der größtmöglichen Sorgfalt und unter Berücksichtigung der Erzählungen meines Vaters niedergeschrieben. Erinnerungen können jedoch mit der Zeit verschwimmen, umso mehr, wenn es sich um Kindheitserinnerungen handelt, die mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Dann werden sie anfällig für Ungenauigkeiten.

    Dieser Text entstand nach dem Tod meines Vaters, ich konnte daher manche Eindrücke nicht mehr mit ihm besprechen. Dennoch hoffe ich, dass ich mit diesem Buch der Denkweise, den Ansichten und Gedanken meines Vaters gerecht geworden bin.

    Ich möchte die Botschaft meines Vaters weitergeben, der mit seiner Geschichte ein Verbrechen anprangern und vom Leid eines ganzen Volkes berichten wollte.

    »Stalin ließ die Ukrainer verhungern,

    um jede Rebellion im Keim zu ersticken.«

    Iwan, mein Großvater

    Das Diktiergerät hat dich nicht aus dem Konzept gebracht. Du schienst es vergessen zu haben, dabei warst du am Anfang dagegen gewesen. Mit einem Mal hast du dir eine Welt zurückerobert, die in der Zeit verschüttet gewesen war. Was für eine Veränderung! Mein ukrainischer Papa kam zum Vorschein! Du hast aus dem Herzen gesprochen, und ich habe gebannt zugehört. Du hast mir die Hand gereicht, und ich fand mich wie durch Zauberei in deiner Welt wieder, ließ mich führen. Deine Erzählungen wurden täglich präziser, detailreicher und spannender. Namen, an die du dich zuerst nicht erinnern konntest, fielen dir nach und nach wieder ein.

    Diese zwei gemeinsamen Wochen waren fabelhaft, voll starker Gefühle, Lachen und Weinen. Deine Schilderungen hatten etwas Hypnotisches. Es gelang dir, deine Geschichte zu rekonstruieren. Du hast das Puzzle deines Lebens zusammengesetzt, mit all den Teilen, die in deinem Gedächtnis verstreut lagen, ein Gedächtnis, das mich damals faszinierte, und auch jetzt noch, wo ich deiner Stimme lausche, um dieses Buch zu schreiben. Deine Erinnerungen reichten bis 1929 zurück, da warst du erst drei. Fünfundsechzig Jahre später konntest du dich in allen Einzelheiten an Szenen, Menschen, Dialoge, Orte, Gerüche und Farben erinnern.

    Beim Zuhören merkte ich, dass du Schwierigkeiten hattest, die Gefühle zu beschreiben, die dich in deinem Leben begleitet haben. Ich bat dich, mir genauer zu erklären, wie du dich in diesem oder jenem Moment gefühlt hast. Und du hast gesagt: „Ich weiß nicht … ich war eben traurig." Aber ich musste dich nur anschauen und verstand. Du sahst mich starr an und in deinem Blick lag die Trauer, die dich ergriffen hatte. Es lief mir kalt über den Rücken, weitere Erklärungen brauchte es nicht. Dann mussten wir unterbrechen. Es wurde still. Wir sahen einander eine Weile an, und nach und nach kehrten wir in die Gegenwart zurück, besprachen ein paar praktische Dinge, tranken einen Kaffee und redeten über Belanglosigkeiten, ehe wir uns wieder gemeinsam in deine Welt aufmachten. Was für eine Reise! Was für ein Abenteuer! Und was für ein Privileg für mich, dass ich Anfang des 21. Jahrhunderts in eine so ferne, fremde Welt eintauchen durfte, eine Welt, die so unbegreiflich schien.

    Am Anfang, als ich dich bat, aus deinem Leben zu berichten, hattest du Vorbehalte. Dabei hast du mir, als ich klein war, ständig Geschichten erzählt: Geschichten, die du selbst erlebt hattest, traurige und lustige, unglaubliche Geschichten. Später wollte ich dann noch mehr hören. Ich wollte deine Lebensgeschichte mit unserer Familie und unseren Freunden teilen; zeigen, wie unberechenbar das Leben manchmal sein kann, wie das Schicksal unerwartet Entscheidungen fällt, diese oder jene Abzweigung nimmt, wie sich manchmal die Ereignisse überschlagen und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Ich denke an all die Völker, die aus ihrer Heimat gerissen wurden. Ich denke an all jene, die ihre Wurzeln weit hinter sich zurücklassen mussten, ohne jemals zurückzukönnen, weil das lebensgefährlich war. Ich denke daran, wie es wohl sein mag, wenn man sein Leben damit zubringt, zu überlegen, was gewesen wäre wenn …

    Ich kam an einem Samstag an. Schon am Telefon hatte ich dir gesagt, dass ich zwei Wochen mit dir verbringen würde, damit du mir alles erzählst. Du meintest: „Ja, ja, mal sehn."

    Obwohl ich immer noch nicht wusste, ob du das wirklich alles teilen wolltest, bin ich gekommen.

    Am Sonntag sprachen wir über dies und das, und ich deutete an, dass wir am Montagmorgen nach dem Frühstück mit der Arbeit beginnen würden. Du wirktest immer noch unschlüssig und schienst das Vorhaben nicht besonders ernst zu nehmen. Dir war bewusst, dass deine Geschichte interessant ist und du hattest von jeher die Gabe, sie spannend zu erzählen, aber dabei aufgenommen zu werden, das war dir nicht ganz geheuer.

    Montagmorgen frühstückten wir zusammen. Ich spürte, dass du nicht bereit warst. Ich war gekommen, um dir zuzuhören und wusste nicht, ob du überhaupt reden würdest. Ich hatte Angst, dass du deine Lebensgeschichte unter „offizielleren" Bedingungen vielleicht nicht erzählen willst, Angst, dich nicht überzeugen zu können, dich darauf einzulassen, dich auf die verschlungenen Pfade deines Lebens zu begeben, Angst, dass deine Geschichte eines Tages mit dir verschwindet.

    An dem Vormittag gingst du wie immer deinen Beschäftigungen nach, als wäre ich gar nicht da. Ich scharrte mit den Hufen, ich musste es unbedingt schaffen, dich zum Reden zu bringen.

    Mittags saßen wir wieder beisammen. Maman hatte steranka gekocht, diese köstliche ukrainische Suppe mit hausgemachten Nudeln. Danach gab es pot-au-feu⁶. Wir aßen. Wir redeten. Und lachten. Maman, du, mein Bruder Stéphane und ich. Die Stimmung war gelöst, aber ich musste die ganze Zeit an deine Geschichte denken, überlegte, wie ich dich zum Erzählen bewegen könnte.

    Zum Nachtisch aßen wir Obst. Du hast einen Apfel gegessen, wie immer, und wie immer hast du angefangen, ihn mit der dir eigenen Langsamkeit zu schälen. Ich hatte dir stets gern dabei zugesehen, aber diesmal konnte ich es kaum aushalten, wie du bedächtig ohne abzusetzen einmal rundherum schältest, die Schale wollte kein Ende nehmen.

    Lange lag mein Blick auf dir, ich lauerte auf eine Reaktion, ein beschwichtigendes Zeichen, das du mir vielleicht hättest geben können, aber vergeblich … deine ganze Aufmerksamkeit galt dem Apfel.

    Ich sah dich durchdringend an, dann stellte ich dir eine einzige Frage: „Papa, was heißt riabtschik?"

    Wir kamen nicht mal zum Tischabräumen. Ich gab Stéphane ein Zeichen, damit er mir das Diktiergerät holt.

    Wir reisten ins Jahr 1929, in die Ukraine, unsere erste Etappe.

    • • •

    „Stepan! Hau nicht deinen Bruder! Er ist noch klein!", rief meine Mutter, die nicht wusste, dass ich Stepan riabtschik genannt und damit den Streit vom Zaun gebrochen hatte. Ich hatte es auf meine Weise ausgesprochen, wie ein Dreijähriger eben spricht.

    Riabtschik nannte man jemanden, der viele Sommersprossen hatte. Stepans Gesicht war damit übersät.

    Stepan war zwei Jahre älter als ich. Trotz Sommersprossen war er ein hübscher Junge – und unglaublich arrogant. Er war der Faule in der Familie und fand immer eine Ausrede, um sich vor der Arbeit zu drücken.

    Als Kinder waren er und ich wie Hund und Katz. Wir zankten den lieben langen Tag, aber sobald andere Kinder mich ärgerten, war Stepan der Erste, der eingriff. Vielleicht hatte es weniger mit dem Wunsch zu tun, mich zu verteidigen, er wollte vermutlich eher beweisen, dass er der Stärkste war; ich weiß es nicht. Jedenfalls schaffte er es immer, meine Peiniger in die Flucht zu schlagen, und darauf kam es an.

    Ich, Nikolai, auch Kolka genannt, war das Nesthäkchen. Ich wurde 1926 geboren. Manchmal sagten die anderen noch saitschik oder drofa zu mir. Saitschik war Mamas und Papas Kosename für mich. Das bedeutet „Häschen". Meine Brüder dagegen nannten mich lieber drofa, Wildgans. Ich habe nie herausgefunden, warum sie mich drofa nannten, aber eins ist sicher, ich war lieber ein Häschen als eine Gans!

    Iwan, unser großer Bruder, war vier Jahre älter als Stepan. Ihn nannte man sikun, Pinkler. Der Arme machte ins Bett bis er vierzehn war! Natürlich konnte er diesen beleidigenden Spitznamen überhaupt nicht leiden. Mit seinem Mondgesicht und den Pausbacken war Iwan der Inbegriff des blühenden Lebens. Unser großer Bruder konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, war großzügig und im Gegensatz zu Stepan half er gern. Er lebte jeden Tag, als wäre es der letzte, und genoss das Leben in vollen Zügen.

    Meine Schwester Anna war die Älteste. Sie hatte 1918 das Licht der Welt erblickt, gleich nach dem Ersten Weltkrieg. Damals konnten wir nicht ahnen, dass eines Tages ein neuer Krieg ausbrechen würde. Niemand hatte vorausgesehen, dass unser so vielversprechendes Land zwischen den Kriegen zu einem Gefängnis werden sollte. Niemand hätte sich vorstellen können, dass der verheerende Zweite Weltkrieg Millionen von Menschen in den Tod reißen würde. Und niemand hatte vorhergesehen, dass eben jener Krieg manchen, die enormes Glück hatten, die Flucht vor Massakern und Leid ermöglichen würde. So entkamen viele einem Regime, unter dem das Leben unmöglich geworden war und fanden Zuflucht in Westeuropa.

    Ein Teil unserer Familie hatte dieses Glück. Ich kann mir heute nur schwer vorstellen, wie unser Leben ausgesehen hätte, wenn wir dort geblieben wären, in unserem Heimatland, unter einem barbarischen Regime, das die Freiheit unterdrückte und den Menschen nicht mehr als Menschen betrachtete.

    Aber zurück zu Anna. Anna wurde von all ihren Brüdern geschätzt. Wir hatten großen Respekt vor unserer Schwester, die uns so manches Mal unsere Eltern ersetzte. Wir riefen sie liebevoll bsenka, das bedeutet „verwöhnter Liebling" ⁷. Obwohl damals die meisten Familien zuerst auf einen „Stammhalter" hofften, waren meine Eltern nicht enttäuscht, als sie ein Mädchen bekamen.

    Iwan und Elena, unsere Eltern, brachten viele Opfer für uns und dafür verlangten sie, dass wir sie respektierten. Mama zu gehorchen fiel uns nicht so leicht. Wenn einer von uns etwas angestellt hatte, jagte Mama ihn mit dem Reisigbesen. Die beiden anderen rannten wiederum hinter ihr her und rissen ihr den Besen genau dann aus der Hand, wenn sie den „Übeltäter" erreicht hatte.

    Papa dagegen erhob nie die Hand gegen uns. Er hatte eine natürliche Autorität: Ein Blick genügte.

    Unsere Eltern hatten sehr jung geheiratet. Unser Vater war noch nicht einmal neunzehn, das Mindestalter, um in den Ehestand zu treten. Die beiden Familien kannten sich, es war eine arrangierte Ehe. Iwan heiratete seine Nachbarin Elena in der Kirche. Elena kam aus einer Großfamilie. Einer ihrer Brüder, wir nannten ihn Diadia⁸, war Pate von uns allen. Wir waren für ihn wie eigene Kinder.

    Unsere Geschichte beginnt in Fedrovka⁹, einem Dorf fünfunddreißig Kilometer von Saporischschja.

    Es ist die Geschichte der Familie Koliada¹⁰.

    • • •


    6 Traditioneller französischer Rinder-Gemüse-Eintopf, Brühe und Einlagen werden separat serviert.

    7 Ungefähre Übersetzung meines Vaters. A. d. A.

    8 Onkel

    9 Beim Schreiben habe ich sämtliche in der Erzählung genannten Städte, Regionen und Dörfer recherchiert. Die meisten sind auf der Karte eingezeichnet. Nur das Heimatdorf meines Vaters konnte nicht genau lokalisiert werden. A. d. A.

    10 In der Ukraine lautete unser Familienname „Koliada. Aufgrund eines Übertragungsfehlers änderte sich die Schreibweise bei der Ankunft in Frankreich zu „Koleda. A. d. A.

    Schon sehr lange

    Schon sehr lange schlummerte deine Geschichte in meiner Schreibtischschublade, ein verborgener Schatz, eine Lebensgeschichte, die nur darauf wartete, gehört zu werden. Natürlich konnte ich immer sagen: Mir fehlt die Zeit, deshalb habe ich bisher nichts unternommen. Aber ich glaube eher, mir fehlte ein „Auslöser", der für ein neues Projekt notwendig ist, ein Auslöser, der ohne Vorwarnung auftaucht und unerwartet Ideen freisetzt.

    An einem Dezembermorgen wachte ich auf. Ich war traurig, es ging auf Weihnachten zu und ich wusste, es würde das erste Weihnachten ohne meinen kleinen Bruder werden. Ich dachte an dich, ich dachte an Stéphane. Ich dachte an Worte und Sätze. Gedanken wirbelten mir im Kopf herum und ließen mich nicht mehr los. Am selben Abend, versunken in eine Melancholie, die mir zum Glück bis dato fremd gewesen war, weil ich bis zu deinem Tod noch nie Abschied von jemand Nahestehendem hatte nehmen müssen, begann ich zu schreiben und konnte nicht mehr aufhören. Ich schrieb an dich, ich schrieb an Stéphane. Ich schrieb einfach. Ich hatte das Gefühl, Schreiben sei eine Notwendigkeit, dabei konnte ich den Kummer, die drückende Melancholie herauslassen, und es würde meinen tiefen Schmerz lindern. Ich spürte euch ganz nah bei mir, spürte, dass diese Momente uns verbanden. Weißt du noch, Papa? Wir drei wollten gemeinsam deine Lebensgeschichte aufschreiben.

    Und so habe ich beschlossen, dass dieses ursprünglich als gemeinsam gedachtes Vorhaben ausgeführt werden musste, auch, wenn ihr nicht mehr da wart, dass es nun an mir war, unser Werk in die Tat umzusetzen, ehe es im Vergessen versank. Ich werde unser Vorhaben vollenden. Papa, Stéphane, helft mir.

    • • •

    „Nikolai! Nikolai! Wo bist du?", hörte ich Mama rufen, leichte Besorgnis in der Stimme. Dabei wusste sie doch, wo sie mich finden konnte. Ich war immer am selben Ort: Im Klatschmohnfeld!

    Saitschik, wenn du zu viel Mohn isst, wirst du krank! Komm, wir gehen zu den Tieren", sagte sie und nahm mich bei der Hand.

    Ich war gern im Klatschmohnfeld, die leuchtenden Farben wirkten beinahe unecht. Ich legte mich unter die Blüten, machte eine Kapsel ab, brach sie auf und schüttete mir alle Körner auf einmal in den Mund.

    Wir hatten alle unsere Plätze. Iwan und Stepan rannten durchs Weizen- oder Maisfeld um die Wette, was Papa und Mama gar nicht gern sahen, ihnen war jede Nahrungsquelle heilig.

    Anna wiederum kümmerte sich am liebsten um unsere Tiere.

    Unser Haus, das direkt am Stall lag, war das einzige Backsteinhaus des Dorfes, die anderen – um die fünfzig – waren aus Lehm. Ich erinnere mich ganz genau an unseren großen Hof, dabei war ich erst drei Jahre alt, als wir ihn verlassen mussten. Vielleicht erinnere ich mich so gut, weil man mir danach noch oft von ihm erzählte: Nachdem wir die Ukraine verlassen hatten, waren unsere Gespräche durchwirkt von glücklichen Erinnerungen und schönen Momenten auf unserem Hof. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass es meine eigenen Erinnerungen sind, die ich mir bewahrt habe. Ich sehe die Farbe des Klatschmohns, rieche den Duft unserer Tiere – und all das hat mir nie jemand beschrieben.

    Den Hof hatten wir unserem Großvater Kalinek zu verdanken, Papas Vater. Unter dem Zaren diente er acht Jahre lang in der Marine. Man hatte ihm keine Wahl gelassen, aber so konnte er fünfhundert Rubel ansparen, damals eine beachtliche Summe. Damit kaufte er das Land, das wir bewirtschafteten, und auf dem er mithilfe zahlreicher jüdischer Freunde unser Haus aus Backsteinen errichtete. Und all das gehörte uns! Aber wir sollten bald für den Besitz dieser Reichtümer bestraft werden. Dabei hatte Kalinek sie im Schweiße seines Angesichts verdient, hatte sie niemandem sonst zu verdanken.

    Wir hatten genug zum Leben und sogar noch mehr. Unser Land bescherte uns großzügige Ernten, und Kalinek und Teodoscha, meine Babuschka¹¹, verkauften unsere Erzeugnisse auf dem Markt. Sie hatten Mais, Kartoffeln, Gurken, Schnittbohnen, die am Mais hochrankten, rote Beete … Jeder Quadratzentimeter des fünfunddreißig Ar großen Grundstücks wurde genutzt.

    Außer Stepan arbeitete die ganze Familie gern. Papa und Mama waren den ganzen Tag auf dem Feld und wir Kinder halfen ihnen, sobald wir aus der Schule kamen. Ich ging noch nicht zur Schule, ich war zu klein, aber manchmal begleitete ich meine Geschwister, wenn mir langweilig war. Dann ließ die Lehrerin mich in den Klassenraum, ich durfte mich sogar hinsetzen. Ich wollte es machen wie die Großen, saß am Pult und tat so, als ob ich konzentriert zuhörte. Ich wollte unbedingt ganz schnell groß werden und Lesen und Schreiben lernen.

    Kalinek und Teodoscha hatten fünf Kinder. Papa war der Älteste. Ich erinnere mich vor allem an seinen Bruder Simon und an Nastja, die Zweitjüngste der Familie. Das war vielleicht eine Marke, die Nastja, ständig spielte sie uns Streiche.

    Unser Dorf war friedlich und die Bewohner untereinander solidarisch. Im Tausch gegen Gefälligkeiten oder als Dankeschön brachten wir unseren Nachbarn Gemüse. Dieses beschauliche Leben hätte immer so weitergehen können. Der Ukraine fehlte es an nichts. Der fruchtbare Boden hätte die Ukrainer ewig ernähren können.

    Aber es kam anders und Stalin an die Macht. 1929 begann die Zwangskollektivierung des Landes.

    Meine schönste Zeit hatte nur drei Jahre gedauert.

    • • •

    „Oh! Wie süß!, rief Stepan. Laika, unsere Hündin, war müde von einer schweren Geburt – sie wurde langsam alt –, gerade hatte sie fünf Welpen zur Welt gebracht. Wir drei Jungs standen drum herum, staunten über das Wunder, machten Luftsprünge vor Freude und schrien: „Die behalten wir, die behalten wir!

    Anna kam angelaufen. Sie wusste nicht, dass wir gerade einem „Wunder beigewohnt hatten. Sie ging zu Laikas Körbchen, das Mama sorgfältig aus Stroh geflochten hatte: „Was ist los? Was schreit ihr so?

    „Laika hat fünf kleine Hunde bekommen!", erwiderte ich.

    Anna sah Laika und die Welpen im Korb an, aber sie wirkte gleichgültig beim Anblick der winzigen Fellknäuel.

    „Die behalten wir, die behalten wir!", wir Jungs ließen nicht locker.

    „Würde mich wundern, wenn Papa und Mama einverstanden wären, sagte unsere Schwester schulterzuckend, „mir kann’s ja egal sein!

    Mama, die unsere Aufregung bemerkt hatte, kam nun auch und gesellte sich zu uns. Zahlreiche neugierige Blicke ruhten auf unserer Hündin.

    „Ach, guck … sie sind da!"

    „Mama, können wir sie behalten? Bitte!", bettelte Stepan.

    „Was, alle fünf? Findet ihr das nicht ein bisschen viel?"

    „Aber dann wenigstens einen für jeden … Einen für mich, einen für Iwan und einen für Nikolai!, rief Stepan vergnügt. „Anna will keinen.

    Mama dachte nach. Wir ließen sie nicht aus den Augen, versuchten in ihrem Gesicht zu lesen, aber ihre Miene verriet nichts.

    Nach einem zärtlichen Blick auf die Welpen und Stepan ging sie wortlos hinaus. Papa war im Garten. Wie ein Bienenschwarm stürzten alle außer Anna ans Fenster, um etwas vom Gespräch unserer Eltern mitzukriegen und vielleicht an ihren Gesichtern zu erraten, ob wir die wunderbaren Hundekinder behalten durften.

    Mama kam ins Haus zurück. Noch immer konnte man ihr nicht das Geringste ansehen. „Nikolai, such dir einen aus, sagte sie zu mir. Ohne ein Wort rannte ich zum Korb und nahm den Welpen, den ich mir von Anfang an ausgeguckt hatte. „Wie willst du ihn nennen?, fragte Mama und hielt dabei den empfindlichen Hundekopf. „Druschok!", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. Meine Brüder schienen entzückt, mich so beglückt mit dem kleinen Wesen im Arm zu sehen, aber in Stepans Blick stand die Hoffnung, dass ich nicht der Einzige bliebe, der in den Genuss von Mamas Großzügigkeit kam. Ich wusste, dass meine Mutter niemanden benachteiligte. Sie war immer gerecht zu uns:

    „Und du, Stepan, welchen …?"

    „Den hier!, rief er, Mama konnte nicht mal ausreden. Sie lächelte, froh, uns eine Freude zu machen. „Ich werde ihn Scharik nennen, rief Stepan, ehe jemand Zeit gehabt hatte, ihn danach zu fragen.

    Mama fing an zu lachen: „Jetzt bist nur noch du übrig, Iwan, es sei denn, Anna hat es sich anders überlegt."

    Anna hatte ihre Meinung immer noch nicht geändert. „Ich nehm den hier, rief Iwan. „Ich nenne ihn Kaschtanka. Mit einer Hand griff er sich den Welpen, den er ausgesucht hatte, mit der anderen nahm er seine Mütze ab und setzte das Hündchen vorsichtig hinein.

    Die drei Welpen gehörten sehr schnell zur Familie. Weil jeder Junge seinen eigenen hatte, gab es keine Eifersucht.

    Zu meiner großen Freude zeigte sich, dass Druschok der lustigste der drei war. Er erledigte sein großes Geschäft immer vor dem Haus und beschnüffelte danach ausgiebig sein „Meisterwerk". Einmal beobachtete ich ihn, wie er tapsig die Straße hinunterwackelte. Plötzlich hielt er an, um sich zu erleichtern, aber als er diesmal daran schnüffeln wollte, rutschte er genau in dem Moment aus und purzelte mit der Schnauze voran hinein. Angesichts seiner Tollpatschigkeit brach ich in lautes Lachen aus. Ich hatte mir wirklich den Richtigen ausgesucht.

    • • •


    11 Großmutter

    Erinnerung

    Ich hörte dich erzählen. Die Geschichte hatte gerade erst begonnen, aber ich war bereits gefesselt. Manchmal streifte dein Blick flüchtig das Diktiergerät, wie um mir zu sagen, dass es dich störte, aber du sprachst weiter.

    Ich fragte mich wie es kam, dass du dich an so viele Einzelheiten erinnern, Ereignisse so genau schildern konntest. Ich selbst wäre unfähig, so bildhaft von meiner Kindheit zu berichten, sie jemandem auf diese Weise zu erzählen. Hast du es deiner außergewöhnlichen Kindheit zu verdanken, dass du daraus eine Geschichte weben kannst? Du gingst einfach in der Zeit zurück. Ich könnte das nicht, rückwärts gehen, mich von der Welt lösen, in der ich hier und heute lebe, als gäbe es sie nicht. Natürlich kann ich mich an bestimmte Dinge erinnern, aber es ist mir unmöglich, „einzutauchen". Du aber konntest dich vollständig von der Gegenwart abkoppeln. Und je weiter wir zurückgingen, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass du deine Heimat eigentlich nie so ganz verlassen hattest. Du trugst sie stets in dir, und wenn ich heute zurückblicke, glaube ich, das war schon immer so, weil sie an jedem einzelnen Tag meiner Kindheit gegenwärtig war.

    Ich hörte dir zwei Wochen lang zu. Wir verbrachten unsere Tage gemeinsam. Manchmal überfiel dich die Müdigkeit. Ich schaltete das Diktiergerät ab, damit du dich ausruhen konntest, aber du wolltest weitermachen, wolltest mir alles erzählen, bis zu deiner Ankunft in Frankreich, dem Land, das dich so herzlich aufgenommen hat.

    Auch mich überrollte manchmal diese Müdigkeit, die mir eigentlich fremd war. Es war eine Müdigkeit, die mit starken Gefühlen zu tun hat, eine Müdigkeit, die benommen macht, eine Niedergeschlagenheit, die dazu anregt, über den Sinn des Lebens nachzudenken.

    • • •

    „Kinder, Essen!", rief Mama, als wir gerade im Garten spielten. Mama hatte gute ukrainische Suppe gekocht, und weil wir alle darauf versessen waren, musste sie uns das nicht zweimal sagen. Im Handumdrehen saßen alle Kinder am Tisch. Damals hatten wir einen Holztisch, in den die Teller hineingeschnitzt waren, direkt in die Tischplatte. Das war sehr praktisch, denn anstatt abzuwaschen reichte es, wenn man am Ende die Tellermulden auswischte.

    Es schmeckte so gut, dass ich mir noch einmal nahm.

    Iwan, der gerne Späße machte, legte seine Mütze vor die Kuhle im Tisch und tauchte dahinter ab, ehe er seine Suppe in nicht mal einer Minute verschlang. Als er den Kopf wieder hob und die Mütze aufsetzte, zeigte er auf die leere Kuhle. Er erntete unsere Bewunderung, als wäre es ein Zaubertrick!

    An diesem Tag waren wir lange am Tisch sitzen geblieben, länger als sonst.

    Es war schon spät, die Nacht war hereingebrochen, aber ich wollte noch einmal zu Druschok, ihm gute Nacht sagen.

    In der Dunkelheit glaubte ich, mehrere große Gestalten zu erkennen. Ich rief nach Druschok. Nichts. Mir wurde mulmig zumute. Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Mit einem Mal packte mich die Angst. Ich machte einen Schritt zurück und rief meinen großen Bruder:

    „Iwan, komm mal, schnell!"

    „Was ist los, Nikolai?"

    „Ich weiß nicht, da hinten ist irgendwas, ich weiß nicht was, und Druschok kommt nicht, wenn ich ihn rufe. „Mach dir mal keine Sorgen, der ist bestimmt bloß auf der Pirsch, sagte mein Bruder.

    Nun rief Iwan nach seinem Hund. Doch alles blieb totenstill. Also schlich mein Bruder zu der Stelle, zu der ich mich nicht hintraute. „Mein Gott!" rief er und rannte an mir vorbei, zum Haus zurück. Ich blieb wie angewurzelt stehen und wagte nicht zu atmen.

    Papa kam herausgestürzt. „Das waren die, die haben sie vergiftet!", schrie er, rasend vor Wut.

    Da begriff ich, dass ich Druschok nie wiedersehen würde.

    Iwan nahm mich auf den Arm und wollte mich zum Haus zurück-tragen, aber ich wehrte mich und sprang herunter, weil ich es mit eigenen Augen sehen wollte. Mein Bruder holte mich ein: „Komm mit rein, Nikolai, geh da nicht hin!"

    Meine Eltern redeten mit Iwan und Anna. Stepan und ich hörten zu, ohne den Sinn ihrer Worte wirklich zu begreifen.

    Später erfuhr ich, dass es eine Methode Stalins war, Wachhunde zu vergiften, damit das Bellen nicht die Familien warnte, die ausspioniert werden sollten.

    • • •

    Ein paar Tage nach der Hundevergiftung hämmerten drei uniformierte Männer an unsere Tür. Ehe wir noch Zeit hatten, sie hereinzu-lassen, standen sie schon im Haus und gingen auf meine Großeltern zu, als ob sie sie kennen würden, als ob sie genau wüssten, wie sie aussahen. Sie befahlen ihnen, mitzukommen.

    Ohnmächtig mussten wir mit ansehen, wie meine Babuschka und mein Deduschka¹² von den drei Männern abgeführt wurden.

    „Papa, warum müssen Babuschka und Deduschka weg?"

    „Ich weiß es nicht", antwortete mein Vater und musterte sie so eingehend, als wollte er sich ein letztes Mal ihre Gesichtszüge einprägen.

    Das ganze Dorf zersetzte sich, seine Alten schienen zu verschwinden. Aber was machte man mit ihnen? Was würde mit meinen Großeltern geschehen? Und was sollte aus uns werden?

    Der sowjetische Staat führte einen regelrechten Krieg gegen Bauern wie uns. Wir hatten das Pech, Kulaken zu sein, Bauern, die in Stalins Augen zu viel Vieh und Land besaßen.

    Die ganze Arbeit meines Großvaters, die jahrelange Plackerei sollte in Rauch aufgehen. Unsere Familie war in Stalins Visier geraten. Man zwang Kalinek und Teodoscha, ihr fruchtbares Land zu verlassen und schickte sie zunächst in eine Berggegend wo nichts wuchs, aber dank ihres Überlebenswillens gelang es ihnen trotzdem, Honig- und Wassermelonen anzubauen. Damit ihre Ernte nicht den Abhang hinunter kullerte, legten sie Keile unter die Wassermelonen. Das blieb Stalins Männern nicht lange verborgen; die nächste Station meiner Großeltern war Sibirien.

    Man brachte sie in den Gulag.

    Kurz nach ihrem Abtransport ins Arbeitslager hatte Papa uns beruhigt: „Kalinek ist schlau. Er weiß sich zu helfen." Und Papa sollte Recht behalten. Schon bald kamen Neuigkeiten von den Großeltern per Post. Deduschka und Babuschka schlugen sich ganz gut. Um Teodoscha zu beschützen, die die unmenschlichen Bedingungen im Gulag nur schwer ertragen konnte, machte Kalinek sich nützlich und flickte die Schuhe der Wachen oder fertigte ihnen sogar neue. Er reparierte auch eine Menge anderer Sachen, alles Mögliche, auch Motoren und Maschinen. Als Gegenleistung ließen die Wachmänner, die die Zwangsarbeiter beaufsichtigten, ihm und Babuschka ein paar Freiheiten.

    Kalinek wollte Teodoscha Mut machen. Dieser Albtraum würde irgendwann schon enden, eines Tages würden sie den Gulag verlassen.

    Wie alle sibirischen Winter war ihr erster Winter dort lang und eisig. Die Temperaturen fielen auf minus fünfzig Grad. Das war das letzte, was wir von meinen Großeltern hörten.

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    Einige

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