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Von meinen Besitztümern: Jiddische Erzählungen
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Von meinen Besitztümern: Jiddische Erzählungen
eBook267 Seiten4 Stunden

Von meinen Besitztümern: Jiddische Erzählungen

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Über dieses E-Book

1929 veröffentlichte der jiddisch-russische Schriftsteller Der Nister seine letzte Sammlung symbolistischer Erzählungen, »Fun mayne Giter« (Von meinen Besitztümern), die zwischen 1923 und 1929 geschrieben wurden, in einer der kritischsten und instabilsten Perioden sowohl in Westeuropa als auch in der neu gegründeten Sowjetunion. Kurz danach wurde er wegen seines idiosynkratischen, symbolistischen Stils von sowjetischen Literaturkritikern scharf angegriffen, und ihm wurde für ein Jahrzehnt jede Veröffentlichungsmöglichkeit verwehrt. Das Aufeinanderprallen seiner elitären, beinahe religiösen Auffassung von Literatur mit der alltäglichen, rauen Realität des Literaturmarktes in der jungen Sowjetunion, zeichnet das Schaffen Des Nisters in den 1920iger Jahren aus. Im Mittelpunkt seiner damals heftig kritisierten Erzählung »Unterm Zaun« setzt er sich u.a. mit diesem Thema auseinander.

Nisters Erzählung »Von meinen« Besitztümern wiederum ist die Auseinandersetzung mit einer gewalttätigen, unausweichbaren Macht, die das Individuum bedroht und ihm seine nackte Existenz abspricht, und somit eine erschütternde und nicht allzu verschlüsselte Anklage gegen den sowjetischen Staat. Doch finden sich auch unerwartete Themen in dieser Sammlung von Erzählungen, wie z.B. die leichtfüßige, märchenhafte Stimmung in der Geschichte vom »Grünen Mann«, die die emphatische Sensibilität des Autors für die Natur und ihre Kreaturen offenbart.

Zum ersten Mal aus dem Jiddischen übersetzt, stellt »Von meinen Besitztümern« einen Höhepunkt im literarischen Schaffen des Nisters, der zweifellos einer der großen Protagonisten der jiddisch-russischen modernen Literatur ist, dar. Sein eigenartiger Stil bündelt archaische Formen der jüdischen literarischen Tradition mit den hypnotischen Rhythmen der Russischen Symbolisten und einer kafkaesken Modernität.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Feb. 2024
ISBN9783884237052
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    Buchvorschau

    Von meinen Besitztümern - Der Nister

    Die Geschichte vom Grünen Mann

    Wie eine Versammlung Betender standen sie da, aufgereiht in einer geraden Linie, die Gesichter zur kühlen, erdigen, feucht schattigen Wand gerichtet, in jener tief im Wald gelegenen Senke.

    – Wer?

    – Die Mooswesen.

    Regungslos, ohne ein Zeichen von Leben, wirkten sie ernst und bittend. Schon ein ganzer Orden hatte sich versammelt mit den Gesichtern zur Wand und ihr Gebet war ein einziges, ihr Begehren einte sie …

    Offensichtlich wurde ihr Bitten erhört, denn hinter ihrem Rücken kam der Grüne Mann gemächlich angeschlendert. Er blieb stehen und blickte auf die Rücken der Mooswesen, wie sie so, in einem einzigen Verlangen vereint, zusammenstanden – und er rief laut:

    »Mooswesen, warum seid ihr hier? Was ist euer Begehren?«

    Weder drehten sich die Mooswesen um, noch beantworteten sie seine Fragen, aber beim erneuten Blick auf ihre Rücken, auch ohne eine Antwort ihrerseits, erahnte er doch ihr Anliegen …

    Er löste einen Schlüssel von seinem Gürtel und stieg hinab in die Senke, er ging zu der Wand und fand dort eine Tür, die er öffnete, und während er zur Seite trat, deutete er schweigend auf diese Tür. Und die Mooswesen lösten sich von der Wand, vor der sie standen, und einzeln, einer nach dem anderen, schritten sie langsam durch die Tür, so langsam und tropfend, wie Mooswesen sich eben bewegen, und als alle drin waren, trat der Grüne Mann als letzter ein. Er schloss die Tür und verriegelte sie hinter sich, sobald er hindurchgeschritten war.

    Der Grüne Mann führte die Mooswesen hinaus auf ein weites Feld, es war noch immer Morgen, und brachte sie genau in die Mitte zum wärmsten und sonnigsten Fleck und mit einer Bewegung seiner Hand bat er sie, sich in einem Kreis zu setzen. Die Mooswesen gehorchten, schweigend und ohne ein Wort zu sprechen nahm jeder seinen Platz ein, und der Grüne Mann schaute zu und wartete, bis sich alle gesetzt hatten. Dann verließ er sie, ließ sie in der Sonne trocknen und begab sich zu seiner Arbeit in den Feldern, in der grünen Landschaft.

    Weit und breit bekleidete der Grüne Mann alle Ränder und Winkel der Felder mit leuchtend grünem Gras und Sonnenlicht, seine Aufgabe war, alles zu begrünen, nur ab und zu, alle paar Stunden, kehrte er zu denen zurück, die da im Kreis saßen, um nach ihnen zu schauen und zu überprüfen, wie weit sie schon getrocknet waren. So ging es, jede Stunde einmal und noch einmal und noch einmal und immer wieder bis zum Abend …

    Als die Sonne tief herabgesunken war, bis dahin wo der Himmel die Erde berührt, und als der Grüne Mann sein Tagwerk beendet und alle Feldränder begutachtet hatte, müde davon, alles zu überwachen, begab er sich auf den Rückweg zur Mitte des großen Feldes. Als er dort ankam, sah er, dass die Köpfe der Mooswesen bereits getrocknet waren, wie frische Heuhaufen, dass die Nässe darunter ein wenig abgenommen hatte und dass ein Duft nach frischem Heu von ihren Köpfen emporstieg. Da wählte er sich einen Platz in ihrer Nähe, nah bei ihrem Kreis, und setzte sich, um sich auszuruhen und die Dämmerung und den Abend mit denen zu verbringen, die da saßen.

    Die Mooswesen schwiegen, sie dünsteten die Abenddämmerung und die Sanftmut von Feld und Erde aus, und als der Grüne Mann sich zu ihnen herumdrehte und sie fragte

    »Nun, Mooswesen, wie war euer Tag?«, blieben sie still, aber in ihrem Schweigen lag jetzt Zufriedenheit und in ihrer Zurückhaltung eine Antwort: Es könnte nicht besser sein …

    Auch der Grüne Mann war zufrieden und weil es ein guter Tag gewesen war, hatte er Lust auf eine Pfeife, aber er hatte kein Feuer. Da die Sonne schon untergegangen war, konnte er sich auch nicht mit ihrer Hilfe seine Pfeife anzünden. Also wartete er eine Weile, bis sich der Tag in den Feldern niedergelegt hatte und die ganze Erde in Dunkelheit gehüllt war. Er erhob sich und drehte sich in eine bestimmte Himmelsrichtung, wo er den Abendstern erblickte, gütig und golden; er streckte seine Hand nach ihm aus und der Stern gab ihm eine winzige blaue Flamme auf die Fingerspitze. Er nahm sie und zündete mit ihr seine Pfeife an. Auch danach blieb die Flamme bei ihm und er brachte sie auch zu den Mooswesen und ihren Köpfen, er gab jedem der getrockneten Köpfe Feuer und alle Mooswesen rauchten ebenfalls …

    In Zwielicht und Stille schmauchten die Köpfe aller Mooswesen, einige glommen bloß, aber hier und da fingen welche Feuer und flammten auf. Alle betrachteten den Grünen Mann mit Erstaunen, wie ruhig er dastand und wie ruhig er seine Pfeife rauchte, wie mühelos er das Feuer beschafft hatte und wie bereitwillig es ihm von den Himmeln gegeben worden war …

    Und der Grüne Mann sah ihr Erstaunen und lächelte und nachdem er es sich wieder auf seinem Platz am Boden bequem gemacht hatte, drehte er sich zu ihnen und begann zu sprechen:

    »Ich sehe, ihr wundert euch, wie ich Feuer vom Himmel bekommen habe und wie vertraut ich mit den Sternen am Himmel bin. Vielleicht sollte ich euch das erklären und euch das Ganze verständlich machen und da der Abend mild ist und die Nacht verspricht friedlich zu sein und ich noch nicht müde bin und ihr wohl auch nicht, könnt ihr mir zuhören und ich erzähle euch die Geschichte.«

    Und die Mooswesen rauchten und waren einverstanden und der Grüne Mann begann:

    »Als Kind war ich ein Dienstbote in den Feldern, ein Laufbursche für Gras und Grünzeug, und wenn die Winde aus den Städten und von anderen unreinen Orten zurückkamen, gaben sie mir Anweisungen, was ich tun solle, und ich goss Wasser auf ihre Hände.

    Und die Winde waren dankbar und schlossen mich ins Herz, weil sie meine kindliche Verehrung für sie sahen, und im Gegenzug waren sie mir zugetan und liebkosten mich. Immer dachten sie an mich, wenn sie von weit entfernten Orten zurückflogen und immer, wenn sie zurückkamen, trugen sie Geschenke für mich in ihren Rockschößen, mal ein Spielzeug, mal etwas anderes – und wenn sie nichts mitbrachten, belohnten sie mich mit etwas anderem, mit einer Geschichte.

    Besonders gern lag ich zu Füßen eines betagten Windes, der müde und ausgezehrt vom Fliegen war, angeschmiegt an den Saum seines zerschlissenen, fadenlosen Gewands, manchmal einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht lang. Ich blickte hoch zu seinem Mund und seinen Augen und hörte andächtig zu, staunend über seine abenteuerlichen Reisen und Erzählungen.

    Und die Altehrwürdigen waren mir gegenüber nicht wortkarg, sondern ließen mich großzügig an ihren Erzählungen teilhaben, als ob ich ein Erwachsener wäre. Und immer nach solch einem Tag oder solch einer Nacht, wenn unsere Beine und Knochen vom langen Sitzen auf einem Fleck schmerzten, forderte der Geschichtenerzähler mich auf zu rennen, um zu sehen, wie leichtfüßig ich rennen konnte und wie viel ich gewachsen war.

    Ich rannte und der alte Wind folgte mir mit seinen zwinkernden, verwitterten, alten Augen und wenn ich zurückkam und vor ihm stand, lächelte er, gab mir einen Klaps auf die Schultern, betrachtete mich genau, lobte mich und sagte: ›Gut! Wenn du erwachsen bist, wirst du als Bote der Winde taugen.‹ Ich jubelte insgeheim und sehnte mich danach, die Gunst der Winde zu erlangen. Ich arbeitete noch härter für sie und sie ihrerseits lobten mich immer mehr. Heimlich belauschte ich, wie sie sich flüsternd über meine Entwicklung und mein Schicksal unterhielten und wie sie alles dem Gras und dem Feld weitersagten, damit diese mich mit dem Besten ausstatteten, was sie hatten.

    Und ich wuchs heran und diente ihnen mit meiner Jugend und Begeisterung; meine Tage verbrachte ich mit dem Gras und meine Nächte im Feld, Sonne und Honig waren meine Nahrung und die Winde waren meine fürsorglichen Lehrer.

    Und schon bald bekam ich die erste Aufgabe. Eines Nachts versammelten sie sich in der Nähe des Platzes, den ich für mein Nachtlager ausgesucht hatte, und ich bekam mit, dass sie wegen irgendetwas besorgt waren, und als ich genauer hinhörte, verstand ich, dass vielleicht am nächsten Tag, vielleicht auch am übernächsten, ihr Herrscher vorbeikommen würde. Aber ihr Herrscher hatte ihnen nicht gesagt wann, sodass sie selbst jetzt noch nicht wussten, zu welcher Stunde genau, noch nicht mal den genauen Tag, an welchem sie ihn erwarten sollten – und sie hatten keine Möglichkeit das herauszufinden: Der Herrscher konnte plötzlich kommen und einen der hiesigen Winde einbestellen, um ihn nach seinem Lehen und seinen Feldern zu befragen – aber der Wind könnte anderweitig beschäftigt und weit weg sein – und dann würde der Herrscher niemanden haben, den er befragen konnte. Aus diesem Grund hatten sich die Winde versammelt; sie waren besorgt und beratschlagten miteinander, aber sie fanden keine Lösung, denn am nächsten Tag und auch am Tag darauf waren sie alle schon für unterschiedliche und entlegene Aufgaben eingeteilt, und es blieb keiner übrig, um das Feld und die Umgebung zu bewachen. Wo könnte man jemanden für diese Aufgabe finden?

    ›Ich!‹ Ich sprang von meinem Lager auf und unterbrach mit meinem Einwurf die Beratung der Winde.

    Zuerst waren die Winde überrascht, weil sie nicht wussten, wer das war, doch als sie mich erkannten, freuten sie sich und alle versammelten sich um mich. Sie betrachteten mich prüfend von allen Seiten, sie lachten und erfreuten sich an meiner kindlichen Einfalt und Begeisterung.

    ›Nun, warum nicht?‹, sagten einige lachend, erst im Spaß, doch dann im Ernst,

    und alle waren einverstanden, alle stimmten zu und verließen sich auf diesen Plan.

    Weil ich klein und flink war, weil ich von grüner Farbe war und im Feld nicht leicht erkannt werden konnte, sollte ich aufpassen und achtgeben und wenn ich Anzeichen sähe, wie der Herrscher sich von Weitem näherte, sollte ich losrennen und berichten, sollte die Ankunft des Herrschers dem nächsten Wind zur Kenntnis bringen. So wurde es beschlossen. Und die Winde waren zufrieden, sie klopften mir auf die Schulter und lachten und vor dem Schlafen gaben sie mir Ratschläge und bevor ich mich niederlegte, gaben sie mir Anweisungen, wie ich Wache stehen sollte und was ich tun sollte und worauf ich achten sollte, wenn der Herrscher sich nähert. Und ich hörte zu und versprach, all ihren Anweisungen Folge zu leisten. Die Winde waren beruhigt, danach flog ein jeder an seinen Einsatzort und ich legte mich zur Ruhe und schlief die ganze Nacht. Am nächsten Morgen, noch vor Tagesanbruch, wachte ich auf und begann Ausschau zu halten …

    Ich schaute und schaute, der Herrscher war nicht da. Eine Stunde ging vorüber, eine zweite, der Herrscher war nirgends zu sehen, dann eine dritte … und weil ich eben nur ein Junge war, ließ meine Aufmerksamkeit nach, denn es war kalt dort am frühen Morgen vor Sonnenaufgang. Später, nachdem die Sonne aufgegangen war, wurde mir wärmer und auch meine Freunde tauchten wieder auf. Ich hörte, wie meine Fliegen und Würmer in den Grasböschungen raschelten und auch meine Grashüpfer in den hohen Halmen – und ich lief ihnen nach, jagte hinter ihnen her und fing sie. Und sehr bald, als ich meinen ersten Grashüpfer in der Hand hielt, hatte ich die Wache und die Winde und den Herrscher der Winde völlig vergessen …

    Vertieft ins Spiel, verbrachte ich den Morgen mit meinen Gefährten. Die Sonne stieg höher, sie brannte auf unsere Köpfe und Schultern herab und um uns abzukühlen, jagten wir uns gegenseitig. Wir sprangen barfuß von einem Flecken Gras zum nächsten und so, vertieft ins Spiel, alles um mich herum vergessend, entging mir, dass sich eine Ecke des Himmels völlig verdunkelt hatte und auch das Feld dort im Schatten lag. Plötzlich verspürten wir einen seltsamen Windhauch, die vertrauten Gräser drückten ihre Köpfe an meine Flanken und aus dem Himmel und der Sonne dort oben erstreckte sich ein Schatten über die ganze Erde. Mitten im Spiel brachen wir ab, wir hörten auf herumzurennen und schauten nach oben und sahen: In einer großen Staubwolke war an jenem Rand des Himmels der Herrscher der Winde erschienen, in einer geschlossenen Kutsche, begleitet von berittenen Vorposten und Dienern, die auf dem Kutschbock saßen, und einem Gefolge von Pferden. Man konnte unmöglich erkennen, ob die Reiter den ganzen Tross zurückhielten oder ihn vorwärtstrieben. Meine Spielgefährten hatten keine Angst, schließlich wussten sie nichts über den Herrscher, und deshalb waren sie sehr verwundert, als sie mich so ängstlich sahen und ich unser Spiel mittendrin unterbrach.

    In dem Moment, als ich die Kutsche sah, fingen meine Knie an zu zittern. Die Winde hatten mich doch so gern und ich hatte ihnen am Tag zuvor ein Versprechen gegeben – und jetzt war ich heute so mit mir beschäftigt gewesen … Nun stand der Herrscher schon an der Pforte zum Feld und noch immer wussten die Winde nichts davon. Wie konnte ich sie erreichen? Wie konnte ich sie warnen und was würde ich ihnen später sagen, warum ich nicht losgerannt war, um sie zu suchen und zu benachrichtigen?

    Ich nahm all meinen Mut zusammen, Kraft und Stärke kehrten zurück in meine jungen Beine und ich riss mich los, um von jener Ecke des Himmels direkt in die entgegengesetzte Richtung zu rennen, nur weg, weit weg, mit einer solchen Geschwindigkeit und Kraft, dass, wenn es nicht der Herrscher selbst sondern nur ein gewöhnlicher Wind gewesen wäre – da bin ich sicher – da würde ich mit dem jüngsten und flinksten Wind wetten, dass mich keiner eingeholt hätte und niemand das Rennen gegen mich gewonnen hätte!

    Aber der Herrscher, der immer noch ruhig in seiner Kutsche saß, mit seinem Gespann schwarzer Pferde, seinen berittenen Vorposten und seinen Dienern auf dem Kutschbock, begann mich zu verfolgen und schon bald spürte ich seinen Atem in meinem Rücken. Ich rannte weiter und der Wind war immer schon da – von hinten, von oben, von der Seite bedrängte er mich und erschreckte mich und erschwerte mir das Atmen.

    Und Wolken sammelten sich über mir, sie verfolgten und überholten mich, ein Wirbelwind erhob sich im Feld und eine große Dunkelheit überfiel uns. Meine Gefährten, die Grashüpfer, verstummten, sie liefen weg und ließen mich allein und ich bemerkte, wie auch die Gräser in ängstlicher Erwartung vor einem plötzlichen heftigen Regen erstarrten.

    Und sie hatten Recht. Schon bald, noch im Rennen, spürte ich die ersten Regentropfen auf dem Kopf, dann ein flackernder Blitz vor meinen Augen, gefolgt von einem mächtigen Donnerschlag und ein wildes Gewitter brach über mir los. Nur einen Moment später vernahm ich hinter mir das Geräusch von Hufen, dann spürte ich den Atem der Pferde im Nacken und hörte, wie die Pferde zum Stehen kamen und wie mitten im Gewittersturm einer der Reiter abstieg. Er packte mich von hinten und brachte mich in meiner ganzen Nässe und Armseligkeit zur Kutsche, öffnete die Tür und schob mich hinein. Durchnässt und beschämt, wie einer eben ist, der wegrennt – aber nicht schnell genug –, wie einer der mitten im Rennen geschnappt worden ist, fand ich mich in der Kutsche wieder, von Angesicht zu Angesicht mit dem Herrscher …

    Und der Herrscher schaute mich an, aber ich ihn nicht. Obwohl meine Schuld gering war und mein Versagen bei der Wache unbeabsichtigt und ungewollt – so hatte ich dennoch versagt und die Winde würden darunter zu leiden haben. Und was würden sie sagen und wie könnte ich ihren Blick erwidern? Ich senkte meine Augen voller Scham und weinte …

    Der Herrscher tröstete mich, berührte mich und versicherte mir, dass er die Winde nicht bestrafen werde und dass sie nicht verärgert sein würden. Er habe gesehen, dass ich seinen Kindern, den Winden, treu ergeben sei – also würde ich ihm, ihrem Herrn gegenüber noch treuer sein – und deshalb werde er mich mitnehmen zu seinem Schloss, wo ich ihm von nun an dienen solle, unter seiner Obhut und Aufsicht. Und so geschah es. Bald hörte der Regen auf und die Kutsche kam zum Stehen. Einer der Diener kletterte vom Kutschbock und öffnete uns die Tür. Der Herrscher stieg aus und ich folgte ihm. Als ich draußen war, schaute ich mich um und sah, dass wir uns auf einer Hochebene befanden und vor uns ein altes, zweistöckiges Schloss lag. Das Schloss stand ganz allein hier oben, von Nebelschwaden wie von Mauern umgeben, und dieser Nebel verbarg es vor den Blicken Fremder und vor dem Tal unten. Und das war alles, was ich in diesem Moment sehen konnte. Ich hatte keine Zeit mich umzuschauen, denn der Herrscher wurde von seinen Dienern in Empfang genommen und folgte ihnen auf dem bequemen Pfad hinauf zum Treppenaufgang seines Schlosses. Ich blieb allein zurück, voller Erwartung, was als nächstes geschehen würde, und schon bald erschien ein Diener. Er führte einen Hirsch am Geweih herbei und trug einen Nachtvogel auf seiner Schulter, eine aufgeplusterte Eule, die sich in ihren Federn verbarg, hilflos und blind im Tageslicht. Er machte mich mit den beiden bekannt und unterstellte sie meiner Verfügung:

    ›Diesen Hirsch bekommst du, damit du des Tags im Tal umherreiten und unsere Grenzen bewachen kannst, und diese Eule soll dir helfen, des Nachts unser Zuhause und alle Besitztümer vor jedweder Gefahr zu schützen.‹

    Der Diener hängte mir ein Jagdhorn um, gab mir Zunder und Feuerstein, um ein Feuer anzuzünden, und ging mit der Eule zurück zum Schloss. Ich blieb allein mit dem Hirsch, der erwartungsvoll und bereitwillig dastand, und bestieg leichten Mutes seinen Rücken. Ohne zu zögern, trabte er mit mir von der Höhe ins Tal hinab. Was genau ich bewachen sollte, wusste ich nicht, und wovor ich das Schloss verteidigen sollte, hatte man mir nicht gesagt, aber ich hatte Vertrauen in mich und den Rücken des Hirschs und war mir sicher, dass das nötige Wissen sich mir schon bald enthüllen würde.

    Der Hirsch trug mich auf einem geschlängelten Pfad zwischen den Bäumen hindurch, hinab vom Berg ins Tal, und Blätter und Zweige streiften mein Gesicht. Der Hirsch stieg immer weiter abwärts, Geröll und Steine, die von seinen Hufen losgetreten wurden, folgten uns und bald kamen wir frei und wohlgemut unten an. Dort wartete schon ein Bote der Winde auf mich:

    ›Grüner‹, so sprach mich der Bote im Namen der Winde freundlich an, ›hab keine Angst. Die Winde haben deine guten Absichten erkannt und werden über die Nachlässigkeit deiner Wacht hinwegsehen. Du bist kein Gefangener unseres Herrschers, es macht ihm Freude, dich bei sich zu behalten, und weder wird er uns bestrafen noch machen wir dir irgendeinen Vorwurf. Also lebe wohl, diene treu und tue alles, was du tun musst, mit Freude. Mach’s gut!‹

    Und ohne ein weiteres Wort verschwand der Wind und ich blieb still und allein mit dem Hirsch im Tal, da, wo wir stehen geblieben waren.

    Ich begann mich umzuschauen und zu horchen, doch ich hörte keine fremden Stimmen und vernahm nirgendwo einen feindlichen Schritt, weder aus dem Tal noch von dem Steilhang her. Und auch der Hirsch, der ja die Wache gewohnt war, hielt still, den Kopf königlich emporgereckt, Augen und Ohren in voller Aufmerksamkeit, um nicht das geringste Zeichen oder Geräusch zu verpassen. So standen wir eine Weile und noch immer wusste ich nicht, was ich bewachen sollte und vor wem, und ebenso wenig wusste ich, wie ich die, die hier lebten, von denen unterscheiden sollte, die hier fremd waren. Aber der Hirsch wusste es. Gelegentlich, immer wenn wir glaubten hier oder dort ein Rascheln zu hören, näherte sich der Hirsch leise und vorsichtig jenem Ort oder jenem verdächtigen Geräusch und verharrte eine Weile an dieser Stelle. Aber da den ganzen Tag über nichts Ungewöhnliches geschah, standen wir einfach nur in absoluter Stille und warteten. Wir machten keine einzige schnelle oder unnötige Bewegung und nicht ein einziges Mal an diesem Tag musste ich mein Jagdhorn blasen …

    In der Abenddämmerung erhob der Hirsch sein Haupt zum Steilhang, der vom Nebel bedeckt war. Er sah ein Farbenspiel und wusste, die Sonne geht unter, der Tagdienst ist vorüber und es ist an der Zeit, den Steilhang wieder hochzuklettern und den Stall zur Nachtruhe aufzusuchen. Auf dem gleichen gewundenen Pfad, den wir früher am Tag hinabgestiegen waren, brachte er mich wieder nach oben zum Schloss zurück und wir sahen, dass er recht gehabt hatte: Die Sonne ging tatsächlich unter und teilte die Nebeldecke mit einem letzten Lichtstrahl. Und in diesem Moment konnte ich zum ersten Mal das Schloss und seine Umgebung in einer Lücke im Nebel sehen …

    Das Schloss war wirklich alt, aus alten Backsteinen gebaut. Dach und Dachsparren waren in längst vergangenen Zeiten errichtet und durch Generationen hindurch weitergegeben worden – aber es hatte nichts Heruntergekommenes an sich, denn das Schloss selbst, die Außengebäude und die Ställe waren bewohnt und lebendig. Auf der einen Seite des Schlosses sah ich einen weitläufigen Park, in welchem der Herrscher mit seiner Tochter spazieren ging.

    Und da begriff ich, warum das alte Schloss nicht alt aussah und warum der Steilhang – so hoch, so abgelegen und wild – bewacht werden musste und warum der Herrscher der Winde Angst hatte und warum seine Unruhe nicht unbegründet war, denn je ernster der Herrscher die Angelegenheit nahm, desto unbeschwerter konnte die Tochter sein … und egal, wie viele Diener und Winde der Herrscher auch zu seinen Diensten hätte, er bräuchte doch immer noch mehr … und noch mehr wäre auch noch nicht sicher genug!

    Der Herrscher ging mit seiner Tochter unter den Bäumen im Park spazieren – und die Bäume freuten sich.

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