Iltis: Räudige Hunde
Von Kooky Rooster
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Über dieses E-Book
Erik, aufstrebender Juniorchef einer großen, traditionsreichen Firma, hat über die Feiertage seinen ehemaligen Studienkollegen Iltis eingeladen, einen liebenswerten Chaoten im Widerstand gegen den Kapitalismus und gesellschaftliche Normen. Aus der gemeinsamen Zeit in einem Studentenwohnheim erwuchs eine zärtliche Freundschaft, die nun an den gegensätzlichen Lebenskonzepten zu zerbrechen droht. Das lang ersehnte Treffen weckt allerdings nicht nur Erinnerungen an Diskussionen über Systemtheorie …
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Buchvorschau
Iltis - Kooky Rooster
Hundert und Dreißig Wochen
Ich blinzelte gegen den eisigen Wind an und versuchte, auf der digitalen Anzeige über mir die Ankunftszeiten zu entziffern. Der Zug hatte mittlerweile fünfzehn Minuten Verspätung. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich wärmer angezogen oder in meinem Auto gewartet.
Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch und versuchte, mit den Händen meine Ohren zu wärmen. Es nützte nichts, denn auch meine Finger waren eiskalt, was nicht nur an den winterlichen Temperaturen lag – ich war nervös. Selbst im Hochsommer hätte ich kalte Finger gehabt und gezittert.
Ich hauchte in meine Handflächen und dachte darüber nach, in der Bahnhofshalle zu warten. Allerdings war es dort kaum wärmer und ›Halle‹ war eine bodenlose Übertreibung. Das hier war ein Dorf und der Bahnhof hatte längst keine Schalter mehr, sondern nur noch Fahrscheinautomaten. Die Halle war ein zugiger Raum, in dem es aufdringlich nach Döner roch, da sich in den ehemaligen Schalterraum ein Imbiss eingemietet hatte.
Endlich kam die Durchsage, dass der Zug in Kürze den Bahnhof erreichen würde und die Wartenden zurücktreten sollten. Für einen Augenblick wurden meine Knie weich und ein zäher Herzschlag dehnte sich bis in den Bauchraum aus. Ich straffte die Schultern und klappte den Kragen wieder fein säuberlich runter, obwohl der Winter sofort nach meinem Hals krallte. Ich strich über meine Haare und den Stoff meines schwarzen Mantels und warf einen Blick auf meine frisch geputzten Schuhe.
Unschlüssig schob ich die Hände in die Taschen, zog sie wieder heraus, trat von einem Bein aufs andere und suchte unter den Aussteigenden nach dem Mann, den ich losgelassen hatte, um mich meinem komplizierten Leben zuzuwenden. Hundertdreißig Wochen war es nun her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten – zehn waren ursprünglich geplant gewesen. Das Leben hatte anderes mit uns vor – ich – hatte mich anders entschieden.
Er war nicht zu übersehen, stach schon von Weitem aus der trägen Masse der anderen Reisenden heraus. Nicht nur, weil er größer als die meisten war. Iltis wirkte mit seinen roten Jeans, der ärmellosen Strickjacke über dem dichten Strickpullover und seinem dicken, endlos langen Schal, den er in einem monströsen Wulst um seinen Hals geschlungen hatte und dessen Enden dennoch auf Höhe der Knie baumelten, regelrecht schrill. Dabei hatte die Wolle satte Naturfarben – beige, olivgrün und rostrot. Den Schal hatte er selbst gestrickt und war deshalb so lang geworden, weil sich Iltis vorgenommen hatte, so lange daran zu arbeiten, bis er zehn Zentimeter fehlerfrei hinbekam. Ich musste lächeln. Das war eine seiner typischen Aktionen, die ihn für mich so liebenswert machten.
Die großzügig geschnittene Kapuze hatte er über den Kopf gezogen und um seine Schulter hing eine riesige Tasche aus bunt bedrucktem Planenmaterial. Vermutlich war sie selbst gemacht oder aus dem Secondhandshop – wie fast alles, was Iltis besaß. Sein Blick schweifte suchend über den Bahnsteig und segelte dabei mehrmals glatt über mich hinweg. Offenbar erkannte er mich nicht, was mich nicht überraschte. Als wir uns zuletzt gesehen hatten, war ich ein ganz anderer Mensch gewesen. Unbekümmert, entspannt und leger gekleidet – das Klischee eines Studenten. Mein langes Haar hatte ich damals lose zu einem Pferdeschwanz gebunden, den Rasierer nur sporadisch benutzt, und ich trug zerschlissene Jeans, verwaschene Shirts, ausgeleierte Pullis und ausgelatschte Turnschuhe.
Heute traf man mich fast nur im Anzug an – ich war stets auf dem Weg von oder zur Firma, gestresst, angespannt und konzentriert. Meine Mähne war einem klassischen Herrenschnitt zum Opfer gefallen und mein Kinn stets glatt rasiert. Sowohl mein Mantel als auch meine schwarzen Schuhe hatten ein edles, zeitloses Design – vermutlich konnte man von Weitem kaum erkennen, ob ich Mitte zwanzig oder Mitte vierzig war.
Iltis blinzelte zu mir herüber. Er sah schlecht. Es vergingen ein paar Sekunden, ehe er mich erkannte, dann hob er ungläubig die Augenbrauen und eilte zielstrebig auf mich zu. Seine langen, schlanken Beine machten Riesenschritte und aus seiner Kapuze schlängelte sich eine hellblonde Strähne. Trug er sein Haar jetzt etwa lang? Iltis blickte ernst und konzentriert. Erst als er nur noch zwei Meter von mir entfernt war, entspannte sich sein Gesichtsausdruck und er begann zu lächeln. In seine Wangen bohrten sich tiefe Grübchen und seine Augen funkelten fröhlich. Ich blieb wie angewurzelt stehen, tat keinen einzigen Schritt, schluckte schwer und versuchte, die schmerzende Welle der Vertrautheit, die mich überrollte, tapfer hinzunehmen.
Iltis ließ die Tasche auf den Boden plumpsen, stürmte die letzten drei Schritte auf mich zu und schlang die Arme um mich. Er war dünn aber kräftig, hob mich hoch und wirbelte mich im Kreis herum. Ich versteifte mich, registrierte, dass einige Fahrgäste argwöhnisch zu uns herüberschauten, und lächelte entschuldigend. Es war wohl ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, zu beobachten, wie ein geschniegelter Geschäftsmann von einem Punk überschwänglich begrüßt wurde.
»Erik, endlich!«, nuschelte Iltis an meinem Hals. Sein warmer Atem bereitete mir Gänsehaut.
Auch wenn seine Nähe qualvoll schön war, wagte ich es nicht, die Umarmung zu erwidern, und ließ mich danach abstellen wie ein kleines Kind. Unangenehm berührt huschte mein Blick über den Bahnsteig. Erst nachdem ich mich vergewissert hatte, dass uns niemand gesehen hatte, der mich oder meine Eltern kannte, schaute ich meinem Freund ins Gesicht.
»Schön dich zu sehen«, presste ich hervor.
Iltis ignorierte mein verklemmtes Gehabe, streichelte belustigt über meine kurzen Haare, ließ den Blick abwärts klettern, über meinen Hemdkragen mit dem Krawattenknoten, den teuren Mantel, die Anzughose und die edlen Schuhe. Er musterte mich, als hätte ich ein Faschingskostüm an und kicherte.
»Wie siehst du denn aus! Was haben sie mit dir gemacht?«, platzte es aus ihm heraus – viel zu laut für meinen Geschmack. Es war zwar typisch für meinen alten Studienfreund, sich mit Gefühlsregungen nicht zurückzuhalten, und genau das hatte mich an ihm auch immer fasziniert, aber hier in meinem Heimatdorf, wo man mich kannte, war mir das verdammt unangenehm.
»Vielleicht sprichst du ein bisschen leiser«, ermahnte ich ihn mit gedämpfter Stimme.
Iltis blickte mich verstört an und kräuselte die Stirn.
Prompt tat mir leid, meinen Freund zurechtgewiesen zu haben. Was war ich bloß für ein verklemmtes Arschloch geworden! So sehr ich mich auch auf seinen Besuch gefreut hatte, jetzt hatte ich das Gefühl, Iltis wäre ein Eindringling in meine gut geordnete, sittsame Welt, für den ich mich schämen musste. Wo war die unbeschwert frivole Haltung hin verschwunden, die ganze Welt wäre uns Untertan? Wir hatten auf die pikierte Reaktion der Leute gepfiffen, uns über ihren Starrsinn, ihr absurdes Sicherheitsbedürfnis, ihre kompromisslose Bereitschaft, sich unterzuordnen, lustig gemacht. Jetzt war ich selbst einer dieser angepassten Rekruten der Leistungsgesellschaft.
»Du bist assimiliert, mein Freund«, stellte Iltis fest.
Nur er schaffte es, so etwas glaubhaft und mit bitterem Ernst von sich zu geben. Er hatte mich binnen Sekunden durchschaut und das machte mich nervös. Ich, der taffe Geschäftsmann, schlitterte plötzlich über Glatteis, meine Mundwinkel wackelten und ich kicherte idiotisch. Iltis’ trockener Zusammenfassung meiner Lebensumstände konnte ich nicht widersprechen. Beschämt stellte ich fest, dass ich es noch nicht einmal schlimm fand, mich in den engen Rahmenbedingungen meines Daseins sicher zu fühlen. Es war gut, einen fest zugewiesenen Platz zu haben, nicht zu zweifeln, sondern einfach nur zu funktionieren. Rebellion war etwas für weltfremde Idealisten, die zu feige waren, ihre Rolle in der Gesellschaft zu akzeptieren.
Himmel! Ich dachte schon wie mein Vater! Dabei war es noch gar nicht so lange her, da war ich wie Iltis gewesen – führte ein unsicheres aber freies Leben. Feige, das war ich jetzt. Es war leichter, Verantwortung für Wildfremde, eine Firma und die Familie zu übernehmen, als für mich selbst einzustehen. Mir war das bewusst und ich fand das trotzdem Okay – obwohl Iltis’ Präsenz die Sehnsucht nach diesem winzigen Ding weckte, das man ›Ich‹ nannte, und auf dem in meinem Inneren ein Grabstein mit der Inschrift: ›Für dich gibt es keinen Platz in meiner Welt‹, stand.
Iltis musste sich nicht erst auffällig benehmen, um hier aufzufallen – seine Erscheinung reichte dazu völlig aus, noch dazu in Kontrast zu meinem seriösen Auftreten. Wie wir beide – leicht verunsichert von der Wirkung, die wir aufeinander hatten –, zu meinem Auto marschierten, musste beinahe zwielichtig wirken. Die Tatsache unserer Verschiedenheit war mir schreiend gegenwärtig – als wären die Kameras und Scheinwerfer hunderter Fernsehteams auf uns gerichtet. Einerseits beflügelte es mich, einen so alternativen Freund zu haben, weckte Iltis doch nostalgische Erinnerungen an meine belebend rebellischen Zeiten. Andererseits führte ich hier ein Leben, zu dem Rebellion nicht mehr passte, mir und dem Betrieb schaden konnte. Seriosität und Souveränität waren Schilde, die ich als künftiger Firmenchef auch privat hochhalten musste. Mit einem Punk gesehen zu werden – dem Klassenfeind – war eine denkbar schlechte Idee, vermutlich nicht nur für mich.
An diese Diskrepanz hatte ich nicht denken wollen, als ich Iltis eingeladen hatte – hatte nur ihn und mich gesehen, zwei Kerle, alte Freunde, nicht unsere Rollen. Mit jedem Schritt, den wir nebeneinander hermarschierten, wurde mir der Unterschied zwischen uns und unsere groteske Beziehung bewusster. Am liebsten hätte ich Iltis gebeten, umzukehren, wieder heimzufahren und damit das Aufleben lassen unserer Freundschaft abgebrochen, ehe es außer Kontrolle geriet. Doch die Sehnsucht nach ihm war zu schmerzhaft, der bloße Gedanke daran, ihn weiterhin vermissen zu müssen, unerträglich. Vermutlich brauchte ich ihn mehr als er mich, obwohl mein Leben bis hin zu meinem Begräbnis in ferner Zukunft verplant war, und Iltis nicht einmal wusste, wie seine Perspektive in einer Stunde aussah.
Unsere Schritte hallten durchs Parkdeck. Angesichts des Automeeres zückte ich meinen Schlüssel und drückte auf die Fernbedienung. Mit einem futuristischen Piepsen und einer beeindruckenden Lightshow meldete sich mein protziges Auto und wies uns den Weg. Der schwarze Lack glänzte teuer, ließ den Wagen funkelnagelneu wirken. Wieder wurde mir bewusst, dass ich nicht daran gedacht hatte, wie anders Iltis war, denn ich hatte die Limousine extra für ihn durch die Waschstraße gejagt. Es war der archaische Reflex gewesen, mit meinem Besitz anzugeben, für den ich mir nun wie ein Idiot fühlte – an Iltis ging so etwas vorbei.
Verunsichert beobachtete ich meinen Freund aus dem Augenwinkel. Solche Bonzenwägen hatten wir immer missbilligt, und als ich ihn gekauft hatte, hatten auch all unsere guten Argumente in meinem Hinterkopf geschrillt – aber ich hatte beflissen weggehört. Meine hehren Moralvorstellungen waren Luxus in einer Welt, in der ich mich präsentieren musste. Das Knöpfchen, mit dem ich mich abstellen konnte, war damals bereits regelrecht abgenutzt gewesen.
Würde Iltis von dieser Limousine auf mein Wesen schließen? Gab es eigentlich noch einen Unterschied zwischen meinem Haben und meinem Sein? Wenn jemand in der Lage war, ihn zu sehen – dann Iltis! Vermutlich war er deswegen da – vermutlich gab ich deswegen auf seine Meinung mehr, als auf die jedes anderen. Wieder wurde mir klar, dass das Probleme geben würde – aber vielleicht wollte ich auch genau das.
Iltis’ Blick glitt ausdruckslos über den Lack, aber er sagte kein Wort – als wäre ihm egal, ob hier ein rostiges Fahrrad oder ein Luxuswagen stand – und vermutlich war es ihm das auch. Ich verstaute seine Tasche im Kofferraum, und als ich das Auto startete, ging die Sitzheizung an. Ein Luxus, den ich jetzt, völlig durchgefroren vom Warten am zugigen Bahnsteig, begrüßte.
Iltis hievte sich so umständlich auf den Beifahrersitz, als wäre Komfort ein ärgerliches Hindernis. Ihm war durchaus zuzutrauen, dass er seit Jahren in keinem Auto mehr gesessen hatte.
»Das fühlt sich an, als hätte ich mich vollgepisst«, stellte er fest und schaute irritiert zwischen seine Schenkel.
Unwillkürlich folgte ich seinem Blick und blieb an der Wölbung