EINE GLATTE LÜGE: Der Krimi-Klassiker!
Von Sara Woods
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Über dieses E-Book
Antony Maitlands neuer Fall erweist sich als überaus schwierig: Der Mandant des Londoner Staranwalts ist angeklagt, Landesverrat begangen zu haben - und obendrein wird er der Bigamie bezichtigt, was die Geschworenen nicht für ihn einnehmen dürfte. Und dann geschieht ein Mord...
Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Eine glatte Lüge erschien erstmals im Jahr 1983; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1985.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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EINE GLATTE LÜGE - Sara Woods
Das Buch
Antony Maitlands neuer Fall erweist sich als überaus schwierig: Der Mandant des Londoner Staranwalts ist angeklagt, Landesverrat begangen zu haben - und obendrein wird er der Bigamie bezichtigt, was die Geschworenen nicht für ihn einnehmen dürfte. Und dann geschieht ein Mord...
Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.
Der Roman Eine glatte Lüge erschien erstmals im Jahr 1983; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1985.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
EINE GLATTE LÜGE
»Die höfliche Erwiderung... Die bescheidene Bemerkung...
Die mürrische Antwort... Der mutige Tadel... Der streitsüchtige Einhalt...
Die zufällige Lüge... Die glatte Lüge.«
- Shakespeare
Wie es euch gefällt, V. Akt, 4. Szene
Prolog
Montag, der 11. März
1
»Es ist alles schön und gut, Geoffrey«, sagte Antony Maitland, und Geoffrey Horton, sein alter Freund und Anwaltskollege, der ihm einen Fall aufschwatzen wollte, senkte den Blick, weil er zu Recht vermutete, dass die Sache von Anfang an unglücklich gelaufen war, »du bittest mich also, einen Mann zu verteidigen, der ganz offensichtlich schuldig ist...«
»Sei nicht naiv, Antony«, unterbrach ihn Geoffrey. »Es wäre das Allerneueste, wenn du mir weismachen wolltest, alle deine Mandanten seien unschuldig.«
»...und obendrein noch unter der Anklage des Landesverrats«, fuhr Maitland unbeirrt fort, wobei er den Einwurf als unerheblich abtat, was er vielleicht auch war. »Ja, ich weiß, du hast mir geraten, auf Nicht schuldig zu plädieren, aber dann konntest du mir auch nicht mehr bieten als eine Verteidigung unter dem Motto Ich bin es nicht gewesen, ätsch.«
»Was gar keine so schlechte Verteidigung wäre, falls er es wirklich nicht gewesen ist und falls du das beweisen kannst«, erklärte Geoffrey einlenkend. »Immerhin, der Bursche ist nicht wegen Landesverrat angeklagt worden, sondern wegen Verletzung der Geheimhaltungspflicht.«
»Ach, das ist doch nur eine reine Formsache, das weißt du so gut wie ich. Ein Mann, der sein Land verrät...«
»Du hast auch Guy Harland verteidigt, und der hat eindeutig Landesverrat begangen.«
»Das war vor zehn Jahren.«
»Vor zwölf«, verbesserte ihn Geoffrey, der in solchen Dingen aufreizend pedantisch sein konnte.
»Also schön, dann eben vor zwölf. Und du weißt, was geschehen ist. Harland behauptete, es sei obendrein ein Fall von Personenverwechslung, und dann hat er während des Prozesses seine Haltung drastisch geändert.«
»Aber er ist dabei geblieben, sich nicht für schuldig zu bekennen.«
»Stimmt«, räumte Antony unwillig ein.
»Und das hat sich dann ja auch als richtig herausgestellt. Ansonsten sind die beiden Fälle völlig verschieden«, sagte Geoffrey etwas zuversichtlicher.
»Guy Harland war unschuldig, wenn er auch zunächst gelogen hat, was seine Identität betraf. Das ist ein Unterschied... Findest du nicht?«
»Mein Auftrag...«
»Zum Teufel mit deinem Auftrag«, sagte Maitland gereizt. »Glaubst du denn die Geschichte, die ich deiner Meinung nach vor Gericht vertreten soll?«
»Ja, also... Ehrlich gesagt, nein. Das heißt, nicht unbedingt.«
»Na also!« Es passte ihm im Augenblick nicht, dem Zögern Geoffreys bei seiner Antwort Gewicht beizumessen. »Nenne mir einen einzigen Grund«, sagte er, »warum ich den Fall übernehmen soll, und ich gebe mich zufrieden.«
»Weil ich möchte, dass du ihn übernimmst«, antwortete Horton kurz und bündig.
»Aber...« Einen Augenblick lang blieb Maitland die Sprache weg angesichts dieser mehr als schlichten Erklärung. »Aber warum möchtest du das?«, wollte er wissen.
»Natürlich ist es eine Zumutung, wenn ich dich bitte, einen Fall in so fortgeschrittenem Stadium zu übernehmen«, sagte Geoffrey, womit er Maitlands zu erwartendem Einwand zuvorgekommen war. Aber Maitland wischte auch diese Bemerkung mit Ungeduld beiseite.
»Du brauchst bei mir nicht um den heißen Brei herumzureden«, erklärte er. »Ich weiß, wenn Kevin O’Brien nicht diese akute Blinddarmentzündung bekommen hätte...«
»Seine letzten Worte, als man ihn in den Operationssaal rollte, waren Besorgt euch Maitland«, berichtete Geoffrey, für den solche dramatischen Äußerungen sehr uncharakteristisch waren.
»Kevin zeigt bemerkenswert großes Mitleid bei aussichtslosen Fällen«, erklärte Antony unbeeindruckt.
»Würdest du nicht sagen, das trifft auch auf dich zu?«
Maitland überlegte. »Das mag stimmen, wenn auch in anderer Weise«, räumte er ein. Und dann zögerte er vor seiner nächsten Bemerkung, was jemandem, der ihn so gut kannte wie Geoffrey, auffallen musste.
»Da ist doch noch etwas im Busch, Antony«, sagte er vorwurfsvoll. »Es kann nicht deine Überlastung mit Arbeit sein, trotz der kurzen Frist, die ich dir geben kann.«
»Überhaupt keine Frist, genau gesagt«, warf Antony korrigierend ein.
»...denn Mallory sagte mir, dass einer deiner Mandanten, dessen Fall in nächster Zeit behandelt werden sollte, verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen.«
Darüber musste Maitland grinsen. »Das stimmt allerdings«, sagte er. »So etwas kommt vor, und in diesem Fall ist es, zumindest aus der Sicht meines Mandanten, das Beste, was er tun konnte. Aber darauf kommt es gar nicht an.«
»Worauf kommt es denn an?«
»Es gibt eine Komplikation, von der du nichts weißt, Geoffrey.«
»Dann schlage ich vor, du berichtest mir davon.«
»Ja, natürlich. Es geht um diesen Gollnow.«
»Doktor Boris Gollnow?«
»Genau. Der Kerl, von dessen Asylersuchen die Zeitungen seit ein paar Wochen voll sind.«
»Und was ist mit ihm?«
»Er war zweifellos Mitglied der russischen Botschaft, aber eigentlich arbeitete er als Sonderbeauftragter der Abteilung T des KGB.«
»Das wurde zwar nicht in den Zeitungen berichtet, aber ich verstehe nicht, was das für einen Unterschied macht. Ich weiß noch nicht einmal, was es bedeutet«, sagte Horton aufrichtig.
»Darauf kommt es jetzt nicht an, außer der Tatsache, dass er, als er um politisches Asyl nachsuchte, den Behörden ein Quidproquo anbieten konnte.«
»Ja, ich weiß. Informationen über Nesbit und Ryder.«
»Das habe ich nicht gemeint. Es ging um etwas Technisches und um etwas, das geheim bleiben sollte. Das Dumme ist, dass niemand weiß, ob man Doktor Boris Gollnow glauben kann oder nicht.«
»Das wird bedauerlicherweise seinen Wert als Belastungszeugen für John Ryder kaum beeinträchtigen.«
»Das darfst du nicht so sehen, Geoffrey. Tatsache ist, ich bin gebeten worden, an der einen oder anderen Vernehmung teilzunehmen, weil man hören will, was ich von ihm halte.«
»Aber das ist verrückt!« Geoffrey war ungehalten. »Wenn es jemals einen Menschen gegeben hat, der keine Ahnung von technischen Dingen hat...«
»Noch weniger als keine«, stimmte ihm Maitland zu.
»Und obendrein sprichst du kein Wort Russisch«, sagte Geoffrey, als würde das die Angelegenheit völlig zum Scheitern verurteilen.
»Die Sprache ist in diesem Fall kein Problem. Doktor Gollnow spricht offenbar fließend Englisch, sonst hätte er nicht hier bei der Botschaft arbeiten können. Das Dumme ist, Geoffrey, seit dieser Geschichte in New York glaubt man, ich bräuchte einen Mann nur anzusehen, um zu wissen, ob er lügt oder nicht. Ich wollte, es wäre wirklich so«, fügte er bedauernd hinzu.
»Das hättest du mir aber auch gleich sagen können«, erklärte Horton.
»Und dir die Mühe sparen, all deine Argumente auszuführen? Außerdem: Ich habe dem Vorschlag bisher nicht zugestimmt und fühle mich auch keineswegs dazu verpflichtet, weil ich nicht glaube, dass es irgendjemandem etwas nützt.«
»Dann wärst du ja frei und könntest den Fall übernehmen«, sagte Geoffrey rasch. »Und damit bist du in der anderen Sache aus dem Schneider, denn niemand kann dir zumuten, auf beiden Seiten tätig zu werden.«
»Nein, das kann man nicht - oder?« Antony lächelte über den Eifer seines Freundes, obwohl er die Wahrheit seiner eigenen Behauptung anzweifelte. »Zugegeben, es ist ein brauchbarer Grund, dich aus der Klemme zu holen, in die Kevins Blinddarm dich gebracht hat.«
»Und angenommen, John Ryder ist unschuldig - das wäre doch ein weiterer, noch überzeugenderer Grund«, sagte Horton.
»Sag mir jetzt nicht, dass du in das Fahrwasser des alten Bellerby gerätst.« Mr. Bellerby, der bekannte Solicitor, bekannt für seine unerschütterliche Freundlichkeit gegenüber allen Mandanten, war Hortons Schwiegervater.
Geoffrey ignorierte die Frage. »Nein, aber wenn er nun wirklich unschuldig ist?«, wiederholte er.
»Du musst einen Grund für diese Vermutung haben. Und jetzt fällt es mir wieder ein: Du hast ein bisschen gezögert, vorhin, als ich dich fragte, ob du seine Geschichte glaubst oder nicht.«
»Nun, ich neige eher dazu, an ihr zu zweifeln, aber - und das hast du mir selbst oft genug gesagt, Antony - ich bin nicht der Richter und auch nicht die Jury.«
»Nun, ich auch nicht. Aber das kann doch noch nicht alles sein.«
»Nein. Mrs. Ryder hat mich besucht.«
»Das war außerordentlich ungehörig von ihr, angesichts der Tatsache, dass sie eine der Hauptzeugen der Anklage ist.«
»Ich meinte nicht diese Mrs. Ryder, sondern die andere«, sagte Geoffrey und drückte sich somit unklarer aus, als es gemeinhin seine Art war.
»Oh, ich verstehe. Hast du dich vielleicht sogar an sie gewandt, um festzustellen, ob es etwas gibt, was man als mildernde Umstände anführen könnte?«
»Nein. Ryder bestand darauf, dass ich sie nicht mit hineinziehe. Sie erwartet ein Baby... Es kann, ihrem Aussehen nach zu urteilen, jeden Augenblick soweit sein«, fügte er hinzu, »und ich nehme an, er befürchtete, dass sie sich zu sehr aufregt. Aber ich hatte auch das Gefühl, er glaubt, dass sie ihm seine Geschichte nicht abnimmt und daher nicht bereit ist, zu seinen Gunsten auszusagen.«
»Doch da irrt er sich?«
»Im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst im Hinblick auf den Charakter ihres Mannes und die enge Beziehung zu ihm wirkt sie bemerkenswert überzeugend.«
»Sogar auf einen alten Zyniker wie dich?«
»Wenn du es so bezeichnen willst. Sie behauptet, sie habe die Finanzen der Familie verwaltet. Selbst wenn es ihnen schlechtging - was mehrmals im vergangenen Jahr der Fall gewesen sei, da sie wegen der Schwangerschaft ihren Job aufgegeben habe -, hat er nie einen Versuch gemacht, einen zusätzlichen Beitrag zum Haushaltsgeld zu leisten. Was er ohne weiteres hätte tun können, wenn er über ein Einkommen aus einer anderen Quelle verfügt hätte. Er hätte ihr ja eine Geschichte über eine Leistungsprämie oder was weiß ich erzählen können.«
»Niemand sagt, dass er die Wohnung in London selbst bezahlt hat, schon gar nicht von dem Gehalt, das er mit seinem eigentlichen Job verdiente.«
»Nein, aber... Nun ja, das ist zum Beispiel einer der interessanten Punkte«, sagte Geoffrey stur. »Sie ist eine nette Frau, Antony, und hat eine Chance verdient.«
»Bist du sicher, es wäre eine Chance für sie, wenn ihr Mann zu ihr zurückkommen würde? Und damit wären wir gleich beim nächsten Punkt, Geoffrey: Ich bin mir nicht klar darüber, welche von den zwei Frauen, die dein Mandant geheiratet hat, die richtige Mrs. Ryder ist.«
»Die, von der ich zuletzt gesprochen habe. Sie heißt Caroline, aber Ryder nennt sie Carol. Sie haben vor drei Jahren geheiratet, mindestens sechs Monate bevor die andere Zeremonie stattgefunden hat.«
»Hat sie nichts dagegen, mit einem Bigamisten verheiratet zu sein?«
»Sie glaubt nicht, dass das der Fall ist. Sie nimmt ihm jedes Wort ab.«
»Und du bist dir nicht sicher«, sagte Maitland nachdenklich. »Na schön, Geoffrey, ich werde tun, was du wünschst, aber nur, um dir zu helfen, und nicht, weil ich auch nur ein Wort von diesem Gewäsch glaube. Kann ich mit Kevin sprechen?«
»Heute auf keinen Fall; er ist erst am Vormittag operiert worden. Und da wir höchstwahrscheinlich morgen schon bei Gericht sind« - Antony stöhnte, gab aber keinen Kommentar dazu -, »wirst du einmal im Leben den Schriftsatz studieren müssen.«
»Das tu’ ich immer«, behauptete Maitland automatisch.
Geoffrey hatte seine Mappe geöffnet und legte einen großen Stapel von Papieren auf den Schreibtisch. »Ist das alles?«, fragte Antony entsetzt. »Es ist dir wohl klar, dass ich damit die ganze Nacht beschäftigt sein werde.«
»Es wäre nicht das erste Mal«, entgegnete Geoffrey herzlos. »Möchtest du Ryder morgen früh sprechen?«
»Nicht unbedingt. Sind das hier alles Beweismittel der Anklage?«
»Alles, ausgenommen Ryders Erklärungen und ein paar andere kleine Dinge.«
»Dann sieht es so aus, als ob ich den Gentleman in den nächsten Tagen ohnehin oft genug zu Gesicht bekommen würde.«
Geoffrey war aufgestanden und schaute zu, wie Antony die Unterlagen in seine Aktenmappe packte. »Du wirst daraus ersehen«, sagte er, »dass wir nicht die leiseste Chance haben zu beweisen, dass die übermittelten Informationen unserem Klienten zum Nachteil gereichen.«
»Und es nützt auch nichts, wenn die Sitzungen wenigstens teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden?«
»Überhaupt nicht. Gehst du jetzt nach Hause?«, fragte Geoffrey.
»Gleich. Ich muss noch durchgeben, dass ich mich entschlossen habe, bei dem Gespräch mit Gollnow nicht als Beisitzer zu fungieren. Danach...«
»Dann sehen wir uns morgen früh hier, wenn dir das recht ist. Sagen wir, um halb zehn? Bis dahin weiß ich, welche Fälle das Gericht noch zu erledigen hat, bevor wir an der Reihe sind.«
»Also, um halb zehn.« Als Geoffrey hinausging, zog Maitland das Telefon zu sich heran. »Aber rechne nicht damit, dass ich bis dahin alle Einzelheiten im Kopf habe«, rief er dem Freund nach. »Ich lerne, wie Meg das ausdrückt, meine Rollen nur schwer.«
Geoffrey grinste, während er hinausging. Er wusste, dass das genaue Gegenteil richtig war.
2
Das Gespräch hatte in der Kanzlei von Sir Nicholas Harding im Inner Temple stattgefunden, bei dem auch Maitland Mitglied war. Da außerdem Sir Nicholas sein Onkel war, gab es zwischen ihnen mehr als eine rein berufliche Verbindung, und das war auch der Grund, weshalb er und seine Frau Jenny die beiden oberen Stockwerke im Haus von Sir Nicholas am Kempenfeldt Square bewohnten.
Diese Übereinkunft war bereits vor vielen Jahren getroffen worden, provisorisch, wie man sich damals gesagt hatte, doch daran wollte sich inzwischen keiner der Beteiligten mehr erinnern. Und nach der Hochzeit von Antony und Jenny war der Haushalt noch einmal um eine Person erweitert worden: Sir Nicholas hatte vor inzwischen fast drei Jahren die ehemalige Miss Vera Langhorne, eine Strafverteidigerin, geheiratet, und das war für alle, wie man es auch betrachten mochte, ein Gewinn. Nicht nur, dass man Vera um ihrer selbst willen lieben musste, sie hatte auch bewiesen, dass sie imstande war, einen hervorragenden Einfluss auf das zu umfangreiche und zu untätige Personal von Sir Nicholas auszuüben. Beispiel dafür war der Butler Gibbs, dessen Pensionierung von allen mit Sehnsucht erwartet wurde. Er liebte es zwar noch immer, den Märtyrer seiner Pflichten zu spielen, aber vielleicht nicht mehr ganz so penetrant wie in den Tagen vor Veras Ankunft in diesem Hause.
Immerhin schlich er auch jetzt noch jeden Abend in der großen Halle herum, bis er sicher war, dass alle zu Hause waren, und auch an diesem Abend machte er keine Ausnahme. Aber außer der Bemerkung »Sie kommen spät, Mr. Maitland« - was natürlich heißen sollte, dass dieses in gewisser Weise ein Akt der Rücksichtslosigkeit den anderen gegenüber sei - gestattete er Antony, ohne weitere Diskussion hinaufgehen zu dürfen in seine Wohnung.
Obwohl die Wohnung keineswegs in sich abgeschlossen war, gab es für die Maitlands immerhin eine eigene Wohnungstür auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage. Als man das Haus beim Einzug von Jenny geteilt hatte, waren alle möglichen Regeln aufgestellt worden, doch Antony konnte sich nicht erinnern, dass auch nur eine davon eingehalten wurde, und es lag wohl auch lange zurück, dass die Maitlands diese Tür absperrten, von einem Anlass abgesehen, an den Antony lieber nicht denken wollte. Ansonsten hatte die Tür ein charakteristisches Quietschen entwickelt, das die Maitlands im Großen und Ganzen recht praktisch fanden und das unter anderem bewirkte, dass Jenny, wenn sie es hörte, auf die Diele herauskam. »Ich dachte, du hättest jetzt etwas mehr Luft«, sagte sie, »nachdem dir dieser Mandant davongelaufen ist, aber ich kann nicht behaupten, dass du heute besonders früh nach Hause kommst.«
»Das hat mir Gibbs schon vorgeworfen, Liebes«, protestierte Antony. »Und ich fürchte, inzwischen hat sich die Lage völlig umgekehrt. Geoffrey hat einen Fall, den ich sofort übernehmen soll. Wahrscheinlich gehen wir damit morgen schon vor Gericht.«
»Das ist aber ungewöhnlich für Geoffrey.« Antony war müde, das konnte sie deutlich erkennen. Immerhin war die Sitzungsperiode in vollem Gang, und man konnte nicht behaupten, dass sie bisher für ihren Mann einfach gewesen wäre. Aber Jenny hatte sich vorgenommen, nicht mit ihm über solche Dinge zu sprechen. Stattdessen sagte sie: »Komm rein, ich mach’ dir einen Drink. Du brauchst dich nicht zu beeilen, das Abendessen kann ruhig noch ein wenig warten. Und nun«, fuhr sie fort, nachdem sie ihm einen Sherry serviert, sich auf ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa zurückgezogen und gesehen hatte, dass Antony sein Sherryglas auf den Kaminsims neben die Uhr gestellt hatte, »möchte ich wissen, was Geoffrey diesmal von dir will.«
»Ich soll einen Mann namens John Ryder verteidigen.«
»Der Mann, der von diesem Russen belastet worden ist?«
»Genau den. Kevin O’Brien hatte den Fall übernommen, aber er liegt im Krankenhaus und ist heute am Blinddarm operiert worden.«
»Warum hat dich Geoffrey nicht gleich damit beauftragt?«
»Weil ich ziemlich sicher bin, dass Kevin in diesem Fall die bessere Schau abgezogen hätte.«
»Das ist Unsinn, Antony, und du weißt es genau.«
Maitland schüttelte den Kopf. »Die großen Galen von Irland«, sagte er, als erkläre das alles.
»Was, um alles in der Welt, willst du damit sagen?« frage Jenny und schaute ihn völlig verdutzt an.
»Denn die großen Galen von Irland«, wiederholte Antony zuvorkommend, »sind die Männer, die Gott selbst gemacht. Im Kriege sind sie fröhlich, doch traurig sind ihre Lieder. Nicht, dass die beiden letzten Zeilen unbedingt zutreffen müssen«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Jenny skeptisch. »Ich meine, warum Geoffrey ihn dafür haben wollte. Aber es überrascht mich doch ein wenig, dass du zugesagt hast.«
»Wahrscheinlich hätte ich nicht zugesagt, wenn er gleich zu mir
gekommen wäre. Aber jetzt befindet er sich in einer schwierigen Lage. Er muss jemanden finden, und du weißt, meine Liebe, wir sind Geoffrey manche Gefälligkeit schuldig.«
»Ja, ich weiß. Ich möchte nur nicht, dass du Fälle übernimmst, die dir Sorgen machen.«
»Ich bin sicher, dieser Fall