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NEW YORK IST HIMMLISCH: Eine satirische Dystopie
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eBook313 Seiten4 Stunden

NEW YORK IST HIMMLISCH: Eine satirische Dystopie

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Über dieses E-Book

In einer satirischen Zukunftsvision wird der Überlebenskampf in einer Stadt geschildert, die nach einem Chemie-Unfall zur Sperrzone erklärt worden ist. Während im Outland das Leben weitergeht, müssen die Menschen in der Stadt mit Lebensmittelknappheit, Verwahrlosung und Gesetzlosigkeit fertigwerden. Sie folgen dabei einzig ihrem weitgehend auf Instinkte reduzierten Überlebenswillen, teilen die Stadt in verschiedene, von Despoten regierte Bezirke auf und ergeben sich in ihre Frustration.

Einzig Ralfd, die rechte Hand des »Sheriffs von New York«, versucht schließlich, dieser Hoffnungslosigkeit zu entrinnen, und entwickelt sich vom ironischen Beobachter zum aktiv Handelnden, der plötzlich in sich menschliche Regungen wie Mitgefühl und sogar Mut entdeckt, als sein Bezirk von einer rivalisierenden Bande bedroht wird...



New York ist himmlisch wurde 1988 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum4. Apr. 2018
ISBN9783743863651
NEW YORK IST HIMMLISCH: Eine satirische Dystopie

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    Buchvorschau

    NEW YORK IST HIMMLISCH - Norbert Stöbe

    Das Buch

    In einer satirischen Zukunftsvision wird der Überlebenskampf in einer Stadt geschildert, die nach einem Chemie-Unfall zur Sperrzone erklärt worden ist. Während im Outland das Leben weitergeht, müssen die Menschen in der Stadt mit Lebensmittelknappheit, Verwahrlosung und Gesetzlosigkeit fertig werden. Sie folgen dabei einzig ihrem weitgehend auf Instinkte reduzierten Überlebenswillen, teilen die Stadt in verschiedene, von Despoten regierte Bezirke auf und ergeben sich in ihre Frustration.

    Einzig Ralfd, die rechte Hand des »Sheriffs von New York«, versucht schließlich, dieser Hoffnungslosigkeit zu entrinnen und entwickelt sich vom ironischen Beobachter zum aktiv Handelnden, der plötzlich in sich menschliche Regungen wie Mitgefühl und sogar Mut entdeckt, als sein Bezirk von einer rivalisierenden Bande bedroht wird...

    New York ist himmlisch wurde 1988 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

    Der Autor

    Norbert Stöbe, Jahrgang 1953.

    Norbert Stöbe ist ein deutscher Übersetzer und Science-Fiction-Schriftsteller.

    Sein Debüt-Roman Spielzeit erschien im Jahre 1986; es folgten die Werke New York ist himmlisch (1988), Namenlos (1989), Der Weg nach unten (1991) und Morgenröte (2014). Für Februar 2017 ist sein neuester Roman Kolonie (Heyne-Verlag, München) angekündigt.

    Überdies hat Norbert Stöbe diverse herausragende Werke ins Deutsche übersetzt – u.a. Das zweite Spiel (Replay, 1986) von Ken Grimwood, Das Orakel vom Berge (The Man In The High Castle, 1962) von Philip K. Dick, Hitzefühler (Heatseeker, 1988) von John Shirley, Das Haus der Sonnen (House Of Suns, 2008) von Alastair Reynolds und Das Blut der Rosen (The Blood Of Roses, 1990) von Tanith Lee.

    Mehrfach wurde Stöbe mit Preisen ausgezeichnet: 1985 mit dem Bertelsmann Förderpreis, 1988 und 1995 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis (für seinen Roman New York ist himmlisch sowie für die Erzählung Der Durst der Stadt) und 1992 mit dem Deutschen Science Fiction-Preis (für seine Erzählung Zehn Punkte).

    NEW YORK IST HIMMLISCH

      Eine Stadt wächst, so lange sie lebt. Sie ist wie ein großer, gefräßiger Körper, der immer noch größer werden will. Sie wächst an ihren Rändern; im Innern herrscht das gleiche Umwühlen, Verdauen, Zersetzen und Umbauen wie bei jedem anderen Organismus auch. Das Absterben und Neu-Zusammen- setzen dauert vielleicht etwas länger, aber zehn Jahre sind auch für eine Stadt eine lange Zeit. Zehn Jahre reichen aus, einen Stadtteil, dessen Bürgersteige mit Gold bepflastert sind, in einen Haufen Dreck zu verwandeln.

    Es fängt alles ganz harmlos an, und keiner weiß warum. Zuerst zieht eine verdiente Persönlichkeit weg, man liest davon in der Zeitung. Dann stehen auf einmal überall in den Straßen der Reichen Möbelwagen, die eine oder andere Bank rüstet auf Automatikkassen um, und irgendwann hängt am Eingang ein Schild Filiale geschlossen. Die Mieten fallen, ebenso die Grundstückspreise. Künstler tauchen in der Gegend auf, Chinesen, Schwarze, eine Menge Leute mit dem gewissen Knick im Lebenslauf. Köche aus aller Welt scheinen wild darauf zu sein, gerade hier ein Restaurant aufzumachen. Dann ist es eine Zeitlang noch ganz lustig, bis einem eines Tages auffällt, dass die Autos in den Straßen verdammt viel Rost angesetzt haben. Das Leitsystem ist längst zusammengebrochen, die Schlaglöcher werden nicht mehr aufgefüllt, und die Müllabfuhr kommt unregelmäßig. Man will an der Ecke ein paar Äpfel kaufen, aber dort hat jetzt ein Ramschladen aufgemacht. Auf der Treppe sitzen alte Männer und erzählen sich Zoten, obwohl die Mädchen fast schon für ein gutes Wort zu haben sind. Bis zum nächsten Supermarkt muss man eine Viertelstunde gehen, aber das tut keiner mehr. Es ist zu gefährlich. Die Nachrichten im lokalen TV sind voll von Vergewaltigung, Drogen, Einbruch und Raub. Statt Aktientipps werden Hinweise für Fürsorgeempfänger gesendet. Im Briefkasten liegt neben dem Werbeprospekt für den elektronischen Türwächter das schmutzige Besteck eines Junkies. Auch die Dealer annoncieren Sonderangebote in ihrer eigenen Zeitung. Und dann beginnt einem aufzufallen, dass die Polizei keine Streife mehr fährt. Wenn man beim Nachbarn klopft, wird nicht geöffnet. Ist er ausgezogen? Turnt er auf dem Fensterbrett, schneidet er sich gerade die Pulsadern auf? Oder hält er nur den Atem an, eine Hand am Telefon?

    Man fühlt sich allmählich etwas einsam, ruft ein Taxi, und wenn man den Bezirk nennt, legt das Mädchen in der Vermittlung auf. Es gibt auch keinen Handwerker mehr, der den Rohrbruch flickt. Also sucht man sich eine neue Wohnung, dabei ist es unmöglich herauszufinden, wer die Miete kassiert. Spätestens dann weiß man, dass es Zeit ist zu gehen.

    Ich habe das alles als Kind mitgemacht. Ich erinnere mich noch, dass unsere Lehrer eine Weile mit Polizeischutz in die Schule gekarrt wurden. Kurz darauf wurde sie geschlossen. Trotzdem kamen noch dann und wann Touristen in Bussen an, um das Museum zu besuchen und gefälschte Antiquitäten zu kaufen.

    Aber dann passierte der Unfall bei Hitachi-Chemie: Hubschrauber, Feuerwehr, Leute in Schutzanzügen, TV-Teams, Interviews. Auch das Werk wurde geschlossen. Zwei Monate tat sich nichts Besonderes. Dann kamen auf einmal Durchsagen im TV, im Radio, und über Lautsprecherwagen: Evakuierung. Unbewohnbarkeit aus sozialen Gründen. Eine menschenwürdige Existenz kann von den öffentlichen Organen nicht mehr gewährleistet werden. Die Benutzung der Busse ist kostenlos. Möbelwagen werden auf Anfrage verbilligt zur Verfügung gestellt. Es war ein großes, schrilles Theater, nicht sehr überzeugend. Manche gingen, manche blieben da. Wir waren alle etwas überrascht, als wir feststellten, dass wir auf einmal in einer Zone lebten, die von einer Grenze mit Wachtürmen und Personenschleusen eingeschlossen war.

    Wieder ein paar Wochen später lebten wir in New York. Der Anführer einer Chaoten-Gang, der sich Sheriff Baxter nannte, hatte ein Gebiet von der Größe einiger Straßenzüge besetzt und die Straßennamen eigenhändig mit Nummern übermalt. Als sich herausstellte, dass es hier ein Lebensmittellager gab, wuchs sein Einflussbereich rasch. Im Laufe der Jahre sah er immerhin ein, dass es besser war, ein paar Leute mitmachen zu lassen, deren Köpfe nicht bloße Attrappen waren; sie stampften so etwas wie eine Verwaltung aus dem möglicherweise verseuchten Boden, streuten Maissamen in den Park und auf die wenigen Wiesen, organisierten die Wasserversorgung und hielten das E-Werk in Gang. Drei weitere Gruppen teilten die Restbevölkerung unter sich auf, so entstanden Südland, Europa und Haba-Guta.

    Einer der Leute mit Ideen im Kopf war ich. Aber außer dem Sheriff hatte ich noch ein paar andere Probleme; meine Freundin Sue hatte sich mit der neuen synthetischen Droge Micra eingelassen, und es fiel mir im allgemeinen schwer, den anderen klarzumachen, dass ich trotz meiner schwarzen Haut ein Weißer war. Ich legte Wert darauf, dass sie es wussten.

    Wir hatten eine neue Ordnung aus den Trümmern der alten aufgebaut, aber auch diese zeigte Auflösungserscheinungen. Ein alles durchdringender Geruch von Zerfall und Niedergang hing in der Luft. Es schien immer noch eine Stufe zu geben, die man noch nicht hinabgestiegen war. Vielleicht stand ich aber wirklich vor der letzten Stufe an jenem Abend, da ich durch die düsteren Gänge des Hauptquartiers zum Büro des Sheriffs ging, um mir Instruktionen zu holen. Ich war bei diesen Gelegenheiten immer auf das Schlimmste gefasst, und deshalb war es eine angenehme Überraschung, als ich Ellen am Ende des Korridors aus der Tür treten sah...

      1.

    »Vorsicht, er steht unter Strom!«, flüsterte Ellen und blendete mich mit ihrer bleistiftscharf fokussierenden Lampe, damit sie mein Gesicht sehen konnte. Auf der anderen Hand balancierte sie ein Tablett mit einer Kaffeekanne, zwei Tassen und einer Konservendose, die mit Zucker oder Mehl gefüllt war; der Inhalt war jedenfalls weiß.

    »Schlimm?«, fragte ich und drückte ihre Lichtpistole zur Seite. Sie hievte das Tablett in Höhe ihres Kinns: »Voll bis zum Rand.«

    »Du solltest so spät nicht mehr durchs Dunkle laufen«, sagte ich. »Da kann doch allerhand passieren.«

    »Was denn, zum Beispiel?«

    »Dir könnte die Kanne runterrutschen, und dann klaubst du die Scherben zusammen und verlierst deine Kontaktlinsen dabei.«

    »Idiot.«

    Sie mochte mich eben. Ich sah ihr nach, wie sie durch den Korridor entschwand. Sie hatte einen allerliebsten Hintern, und eine Glatze, seitdem sie von den Leuten aus Europa skalpiert worden war. Es war eben schon etwas Besonderes, im Hauptquartier des Sheriffs zu arbeiten; man musste verrückt sein, besonders mutig - oder ein so gut getarnter Feigling wie ich.

    Als sie im Treppenhaus verschwunden war, hatte ich keinen Grund mehr, auf dem Gang herumzustehen. Trotzdem tat ich es, denn ich wusste nicht, was unangenehmer war; der Anblick des leeren, schwarzen Korridors mit einer langen Reihe unterschiedsloser Türen auf der rechten Seite, oder der Sheriff hinter der Tür, vor der ich stand. Vielleicht überlegte ich damals, ob es nicht vernünftiger wäre, den Anzug einzuschalten und irgendwohin zu gehen, wo mich keiner kennt - aber der Mensch ist kein vernünftiges Wesen. Also klopfte ich, wartete das Grunzen ab und ging hinein.

    Ich bewunderte den Sheriff, wirklich. Er war dreckig wie das Schwarze unter meinen Nägeln und so dumm wie meine arme kleine Freundin Sue, wenn sie nach einem Trip wieder ins vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum eintauchte. Er war ein verdammtes Verbrecherschwein, und er hatte selbst die Gesetze gemacht, die er brach. Ich bewunderte ihn wegen seines Stils. Denn er hatte Stil, und deshalb schlug er sich die Nächte in einem schlecht belüfteten Büro um die Ohren, trank billigen Whisky und zermürbte die Nerven seiner besten Mitarbeiter. Das hatte alles herzlich wenig mit Bildung zu tun, sondern mehr mit einem gewissen Instinkt für Situationen und mit zwei oder drei alten amerikanischen Filmen, an die er sich erinnerte. Deshalb war ihm auch entgangen, dass sein geliebter Hut kein Stetson, sondern ein Borsalino war, aber keiner traute sich, es ihm zu sagen. Ich auch nicht.

    Ich knipste meine Lampe aus, hängte sie an den Gürtel und sah, dass Ellen Recht hatte. Der Kopf des Sheriffs glühte im Halbdunkel wie das Innere eines Toasters. Glänzender Schweiß überzog sein fettes Schweinsgesicht wie eine zweite Haut, und als er nach dem Glas neben seinen Stiefeln griff, die auf dem Schreibtisch durchaus am Platze waren, dachte ich unwillkürlich an einen undichten Kessel, in dem man Lauge und Fett zu Seife verkocht, und dem der übelriechende Saft aus allen Poren sickert.

    Der Sheriff trank, und etwas in dem Wulst, der sein Hals war, gluckste. Als er fertig war, sagte er: »'n Abend, Blackie. Ich hab' was für dich.« Er reichte das leere Glas an Peter weiter, der hinter ihm an der Wand lehnte.

    Peter steckte es in eine Tasche seines ausgeleierten Sakkos, schüttelte seinen ältlichen Affenkopf, der so schwarz war, wie Nigger es bei Nacht eben sind, und sagte: »Also...«

    »Ein Glas!«, brüllte der Sheriff, riss sich den Hut vom Kopf und klatschte ihn gegen den Stuhl, auf dessen Hinterbeinen er knarrend kippelte. »Sofort noch ein Glas!«

    »Ah... morgen«, sagte Peter, ohne den Mund zu bewegen. Damit hatte er den elenden Fresssack in der Hand. Und jetzt, im Augenblick seines armseligen Triumphs, gönnte er auch mir einen Blick, dem ich auswich. Ich mochte Nigger nicht besonders. Ich weiß, die Prolos stinken nach Kohl, und den Chinesen sitzt das Messer locker: das war mir alles zu primitiv. Aber ich sagte mir, man erträgt die Nacht doch eigentlich nur wegen der Sterne, und die sind weiß. Wenn Stromausfall war und der ganze Himmel bedeckt mit Wolken, dann konnte man sich eben immer noch sagen: irgendwo da oben leuchten die Sterne. Ich hatte einfach stets so ein komisches Gefühl, wenn ich einen Nigger sah. Meine Mutter war weiß, genau wie mein Vater. Er hatte sich aus irgendeinem Grund einen verdammten Niggerjungen gewünscht. Damals waren solche Sachen hier noch machbar, und so hat er eben mich gemacht; einmal, indem er meine Mutter gebumst hat, und dann durch einen genetischen Trick, für den er kurz seine Kreditkarte zücken musste. Aber ich hatte es auszubaden, und es half mir verdammt wenig, dass manche Frauen immer noch meinten, ein Nigger würde es im Bett eher bringen als ein Weißer. Ich wusste, dass es nicht stimmte.

    »Setz dich«, sagte der Sheriff. »Einen Kaffee?«

    Ich setzte mich vor den Schreibtisch, und Peter räusperte sich, bevor ich ja sagen konnte.

    »Ah, Ellen«, erinnerte sich der Dicke. »Ist leider schon wieder weg. Lass den Leuten ein bisschen lange Leine, und schon lassen sie dich verdursten. Aber der Wahlkampf,' der Wahlkampf! Mach den Affen, schwing den Arsch, und Bitterecht-freundlich! Lassen einen Mann, der nichts weiter will, als seinen Job anständig zu tun, glattweg verdursten. Meine Haut wird schon schrumpelig: Austrocknung, siehst du?« Er kippte vor, schob mir seine rosige Patschhand hin und zupfte an seiner Haut. Ich atmete durch den Mund. Die Knöchel waren rot, an einer Stelle war die Haut gerissen. Weil in diesem Moment die Jungs vom E-Werk ihre Leitungen geflickt oder die Kessel wieder unter Dampf gesetzt hatten, ging das normale Licht an, und ich konnte den Grund für die wunden Knöchel sehen. Ein Mann hockte links vor dem Fenster auf einem Stuhl, und das Blut in seinem Gesicht war erst teilweise getrocknet.

    »Vorsicht!«, rief der Sheriff und drückte sich den Hut ins Gesicht, als gäbe es nur empfindliche Eulen- und Säuferaugen auf der Welt. Peter beugte sich vor und schaltete die Akkulampe aus. Ich musste an Ellen denken, die jetzt mit den Leuten von der Nachtwache unten am Eingang rockte und zockte. Dort gab es bestimmt noch Kaffee, und man konnte sich vorstellen, unter einer etwas sonderbaren Tierart zu sein, der die kulturelle Entdeckung von Mord und Quälerei noch bevorstand.

    »Also, folgendes«, sagte der Sheriff. »Die nächste Show läuft morgen an der Ecke 17./30. um halb drei, vor der Gärtnerei von Montgomery-Einarm. Wir brauchen noch ein paar Babies fürs Aktuelle Kabel, einen halbverhungerten Hund, ein paar Jugendliche, die mit ihren Eltern kommen, und einen Haufen Luftballons. Vielleicht kann sie jemand vorher noch anpinseln, ich hab' mir da ein paar neue Sprüche notiert: Wir lieben Sheriff Baxter! - Die Lage ist schlimm, aber ohne den Sheriff wäre sie hoffnungslos! - Einmal Sheriff Baxter, immer Sheriff Baxter! - Recht und Ordnung - der Sheriff versteht was davon!«.

    »Chef«, sagte ich, »woher soll ich denn die Babies nehmen? Der Hund, okay, aber...«

    »Dann lass dir gefälligst was einfallen, Mann! Verdammt nochmal, wozu ist denn so eine Flasche meine linke Hand?«, brüllte er.

    Ja, ich war seine linke Hand, und Peter seine rechte. Und da es am Kopf haperte, wusste die eine oft nicht, was die andere tat. Ich betastete eine runde Perle in meiner Hosentasche und versuchte herauszufinden, welche es war. Kubus links, Pyramide rechts, es musste eine Zwei-Lila sein.

    »Chef«, sagte ich, »ich werde mein Bestes tun. Aber zaubern kann ich nicht.«

    »Dann musst du's eben lernen! Wer nicht mehr dazu lernt, gibt sich auf! Wer sich aufgibt, baut ab! Wer abbaut, den beißen die Hunde! Der versinkt in der Gosse, der wird eingemacht, bevor er noch einmal Piep sagen kann, und ich weiß, wovon ich rede! Ich hab's selbst erlebt, hab' mich hochgearbeitet aus eigener Kraft, ich...«

    Und so ging es weiter. Ich hörte schließlich weg und wechselte zu einem Kubus über, der eine Drei-Rot sein musste. Ich fühlte den Button des Tandaradeis schwer an der Innenseite meines Schenkels.

    Der Sheriff beruhigte sich schließlich wieder. »Und jetzt Punkt Zwo. Du gehst in die 11. und schaust nach, was dort rumsteht. Das machst du ab jetzt jeden Abend, bis auf weiteres. Natürlich mit Anzug. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Truppe ein bisschen auf eigene Rechnung arbeitet. Wenn ich mich täusche, umso besser. Klar?«

    »Klar.«

    »Gut.« Er fasste den Hut an der Krempe und fächelte sich Kühlung zu. »Ich glaube, das wäre im Moment alles. Oder fällt dir noch was ein, Peter?«

    Sein tumber Nigger gähnte.

    »OKAY!«, brüllte der Sheriff plötzlich. »Dann also los!«

    Ich stand auf und streifte den Mann vor dem Fenster mit einem Blick, den der Sheriff wohl bemerkte.

    »Halt! Nimm den da mit und steck ihn in die Zelle, Sicherheitsverwahrung!«

    »Handschellen?«

    »Der leckt dir noch die Stiefel ab zum Dank, wenn du ihn ohne Zwischenfälle unten ablieferst!« Er kippte den Stuhl wieder auf die Hinterbeine und wischte sich die Backen. Ja, es wird einem wirklich nichts mehr geschenkt heutzutage.

    Der Mann am Fenster hatte mitgehört und mitgedacht und stand auf. Ich sah jetzt auch das Abzeichen mit dem Blütenkelch am Brustlatz, und aus einer Tasche hing etwas, das glitzerte und glänzte.

    »Das Tandaradei«, sagte der Sheriff und zeigte darauf.

    Peter ging hin, zog die Kette hervor und untersuchte den ovalen Button, ohne ihn zu aktivieren. »Zweite Generation«, gab er bekannt.

    »Geschenkt«, sagte der Sheriff.

    Peter stopfte das mit Elektronik vollgepackte Metall-Ei in die Tasche zurück, und ich öffnete inzwischen die Tür und wartete ab, bis der Mann auf dem Korridor stand.

    »Bis morgen, Chef«, sagte ich, und er rief mir nach, dass wir uns bei der Show sehen würden. Das nahm ich zur Kenntnis mit der Gelassenheit eines Weisen, der gewohnt ist, Schicksalsschläge einzustecken.

    Ich musterte prüfend den Mann, um herauszufinden, ob es tatsächlich ein Bruder des Kelches der Barmherzigen All-Mutter war. Aber die Hängeschultern und der Armesünderblick ließen keinen Zweifel offen. Man griff sich bei dem Gedanken an den Kopf, dass diese pseudoreligiösen Flops sich an den Wahlen beteiligten, nur weil sie beim Abzählen ihrer Blütenblätter, oder wie das Pflanzenorakel sonst funktionierte, einen Auftrag der Allmutter persönlich zur Errettung der Welt im Allgemeinen und New Yorks im Speziellen herausgelesen hatten. Aber bei Leuten, die mit ihren Blumentöpfen nonverbale Unterhaltungen pflegten, war kein Sinn für Realitäten zu erwarten.

    »Wir gehen jetzt in den Keller«, sagte ich. »Und da arbeitet die Spinne. Dieser Mann heißt so, weil er Vogelspinnen züchtet. Er macht Dienst von zwölf Uhr morgens bis um sieben, und manchmal dauert's auch länger.« Ich ließ ein paar Sekunden verstreichen, um die Wirkung meiner Worte zu erhöhen. Mir fiel die Kugel zwischen Kubus und Pyramide ein, und ich sah nach. Ich hatte das verzerrte Prisma mit dem Tetraeder verwechselt, und deshalb war es nicht eine Zwei-Lila, sondern eine Vier-Oliv. Ich ärgerte mich. Wir hatten inzwischen die Treppe erreicht; der Lift funktionierte nicht mehr, selbst bei Strom. Etwa jede zweite Lampe brannte oder flackerte noch. Das Schlurfen und Stolpern neben mir machte mich wahnsinnig, und eine Art Wut senkte sich wie eine Feuerkugel durch meinen Schlund zum Magen hinab und brannte dort weiter. Pazifismus war weiß Gott eine hübsche Idee, aber wenn ich mir so die Folgen betrachtete, kotzte er mich an. Du konntest ihnen sagen: gib mir deinen linken Schuh, mein rechter ist kaputt, so gaben sie ihn dir. Sie hielten dir auch die zweite Backe hin und fühlten sich ein bisschen wie Christus dabei, nehme ich an. Sie glaubten an das Gute im Menschen, und dass man durch Beispielgeben erzieherisch wirken kann. Traurig war das, sehr traurig.

    »Er züchtet die Tierchen in den Zellen, um die Leute mürbe zu machen«, fuhr ich fort. »Aber wenn es notwendig werden sollte, kann er auf eine uralte Tradition äußerst subtiler Methoden zurückgreifen. Er ist Chinese und hat das Buch der tausend Schmerzen im Original studiert.«

    »Meine Familie«, sagte das Blumenkind. »Bitte.«

    Ich schwieg und überlegte, was das Wort Familie für mich bedeutete; ein borstiges Stück Erinnerung, eine ungestillte Sehnsucht... Das war eine meiner vielen Schwächen: dass ich kaum eine Gelegenheit ausließ, um sentimental zu werden.

    »Bitte!«, sagte der Mann. »Meine Familie wohnt in der 11., Nummer 236. Wenn Sie sie benachrichtigen könnten... bitte!«

    Ich reagierte nicht. Wir waren jetzt unten, das heißt, im Erdgeschoss. Ich öffnete eine Tür, und wir machten einen Schlenker durch das dunkle, verlassene Gebäude. Ich roch Schweiß und hatte das Ganze satt. Wir kamen durch einen leeren Saal, in dem einmal freundliche junge Damen mit freundlichen jungen Herren freundliche öde Gespräche geführt hatten. Nun lagerten hier Kübel mit den mumifizierten Resten überzüchteter Hydrokulturen, und irgendein Idiot hatte ein Fenster halb offenstehen lassen, das zum Hof führte.

    »Moment«, sagte ich, »mein Schuh ist auf.« Ich bückte mich und löste die Schleife meines rechten Schuhs. Ich tat es langsam, spielte mit den beiden Kordel-Enden, die sich schon wieder einmal aufzwirbelten, und begann schließlich, die Schleife neu zu binden. Der Mann neben mir atmete keuchend, seine Kleidung knisterte, und dann spurtete er endlich los. Ich band die Schleife zu und ging ans Fenster, das jetzt weit offen stand. Kühle, irgendwie saftige Luft wehte mich an, und ich dachte an Wiesen, auf denen das lange Gras durcheinandersteht wie ungekämmtes Haar. Ich sah dem mit der Dunkelheit verwachsenden Schatten nach und überlegte, was ich dem Sheriff morgen erzählen sollte. Trotzdem musste ich lachen. Natürlich war alles nur gelogen gewesen. Soviel ich weiß, brauchen Vogelspinnen Licht und Wärme zum Gedeihen, und beides gab es dort unten im Keller nicht. Und die Spinne hieß in Wirklichkeit Quota, hatte eine Glatze natürlichen Ursprungs und tat wichtig mit einem Schlüsselbund, der fürs ganze Viertel ausgereicht hätte. Aber so sind die Menschen: gib ihnen ein Fetzchen Macht, und sie verderben sich den Charakter.

    Wofür halten Sie mich jetzt? Oder, anders gefragt, wer war ich zu jener Zeit? Wenn Sie eine Antwort haben, wissen Sie mehr als ich damals. Ich spielte den harten Mann, den kalten Mann, aber das war ich nicht. Manchmal hatte ich Angst wie ein kleines Kind, das allein im Dunkeln ist. Aber ich wagte schon lange nicht mehr zu schreien, denn das konnte lebensgefährlich sein.

    Dabei fällt mir eine Geschichte ein, eine Geschichte in der Geschichte. Ich ging über eine Straße. Auf den Weiden zu beiden Seiten wuchs Gras in langen, unordentlichen Büscheln. Die Straße und die Weiden befanden sich in einem Raum, der so groß war, dass ich keine Wand erkennen konnte, ich wusste nur, sie war da. Ich suchte die Ferne ab nach etwas, das warm war, hell und leuchtend, wie die Sonne oder die Berührung einer Frau, die liebt. Denn in dem Raum herrschte ein kaltes graues Licht, fad wie Nebelwetter, das seit Wochen anhält. Ich ging so schnell, dass ich keuchte, und das Herz schlug mir wie verrückt in der Brust. Schließlich begann es zu regnen, und aus einem Seitenweg trat ein Mann an mich heran,

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