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DER WEG NACH UNTEN: Ein dystopischer Science-Fiction-Roman
DER WEG NACH UNTEN: Ein dystopischer Science-Fiction-Roman
DER WEG NACH UNTEN: Ein dystopischer Science-Fiction-Roman
eBook514 Seiten7 Stunden

DER WEG NACH UNTEN: Ein dystopischer Science-Fiction-Roman

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Über dieses E-Book

Die Stadt, eine Hölle, eine erbarmungslose Jagd nach Geld und Sex, ein Kampf um Parkplätze, medizinische Versorgung, einen intakten Telefonapparat. Erholung bieten die Märchentheater der Goldenen Gilde, wo Besucher zu Akteuren werden. Jeremy Wesson alias Prinz sucht sich, wie es scheint, das falsche Theater aus, einen verlassenen Gebäudekomplex, Zufluchtsort verschrobener Künstler, Ich-Sucher und Krimineller.

Da verwandelt sich nach einem Überfall die Märchenklamotte unversehens in brutale Wirklichkeit. Die Theaterbesucher, im 154. Stockwerk vom Rückweg abgeschnitten, geraten zwischen die Fronten pazifistischer Ökos und militanter Heavies. Angeführt von dem faschistoiden Pack machen sie sich auf die Suche nach dem Weg nach unten, der für einige zu einem Weg nach innen, zur Suche nach einer neuen Lebensperspektive wird.

Und das Gebäude wird zum Mikrokosmos, in dem sich der Überlebenskampf des Großstadt-Molochs im Kleinen spiegelt. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit...

Der Weg nach unten – Norbert Stöbes klassische Dystopie – erschien erstmals im Jahr 1991. Der Apex-Verlag veröffentlicht den Roman als Neuausgabe – in den Formaten E-Book, Paperback und Hardcover.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. Aug. 2017
ISBN9783739695822
DER WEG NACH UNTEN: Ein dystopischer Science-Fiction-Roman

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    Buchvorschau

    DER WEG NACH UNTEN - Norbert Stöbe

    Das Buch

    Die Stadt, eine Hölle, eine erbarmungslose Jagd nach Geld und Sex, ein Kampf um Parkplätze, medizinische Versorgung, einen intakten Telefonapparat. Erholung bieten die Märchentheater der Goldenen Gilde, wo Besucher zu Akteuren werden. Jeremy Wesson alias Prinz sucht sich, wie es scheint, das falsche Theater aus, einen verlassenen Gebäudekomplex, Zufluchtsort verschrobener Künstler, Ich-Sucher und Krimineller.

    Da verwandelt sich nach einem Überfall die Märchenklamotte unversehens in brutale Wirklichkeit. Die Theaterbesucher, im 154. Stockwerk vom Rückweg abgeschnitten, geraten zwischen die Fronten pazifistischer Ökos und militanter Heavies. Angeführt von dem faschistoiden Pack machen sie sich auf die Suche nach dem Weg nach unten, der für einige zu einem Weg nach innen, zur Suche nach einer neuen Lebensperspektive wird.

    Und das Gebäude wird zum Mikrokosmos, in dem sich der Überlebenskampf des Großstadt-Molochs im Kleinen spiegelt. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit...

    Der Weg nach unten – Norbert Stöbes klassische Dystopie – erschien erstmals im Jahr 1991. Der Apex-Verlag veröffentlicht den Roman als Neuausgabe – in den Formaten E-Book, Paperback und Hardcover.

    Der Autor

    Norbert Stöbe, Jahrgang 1953.

    Norbert Stöbe ist ein deutscher Übersetzer und Science-Fiction-Schriftsteller.

    Sein Debüt-Roman Spielzeit erschien im Jahre 1986; es folgten die Werke New York ist himmlisch (1988), Namenlos (1989), Der Weg nach unten (1991) und Morgenröte (2014). Im Februar 2017 erschien sein neuester Roman Kolonie (Heyne-Verlag, München).

    Überdies hat Norbert Stöbe diverse herausragende Werke ins Deutsche übersetzt – u.a. Das zweite Spiel (Replay, 1986) von Ken Grimwood, Das Orakel vom Berge (The Man In The High Castle, 1962) von Philip K. Dick, Hitzefühler (Heatseeker, 1988) von John Shirley, Das Haus der Sonnen (House Of Suns, 2008) von Alastair Reynolds und Das Blut der Rosen (The Blood Of Roses, 1990) von Tanith Lee.

    Mehrfach wurde Stöbe mit Preisen ausgezeichnet: 1985 mit dem Bertelsmann Förderpreis, 1988 und 1995 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis (für seinen Roman New York ist himmlisch sowie für die Erzählung Der Durst der Stadt) und 1992 mit dem Deutschen Science Fiction-Preis (für seine Erzählung Zehn Punkte).

    DER WEG NACH UNTEN

      1.

    Glaubte man den Talkshow-Auftritten des Bürgermeisters Philip Doderer, genannt der Strahler, war es eine großartige Stadt. Tagsüber werkelten ihre Bewohner emsig wie die Ameisen an der Vermehrung ihrer Einkünfte und damit der des Steueraufkommens, am Abend verwandelten sie sich aus karrieresüchtigen Workaholics in eine Armee von Schöngeistern, die die Straßen auf der Suche nach kulturellen Highlights durchstreiften, um in Galerien, Theatern, Kinos und gegebenenfalls Sportpalästen ihre wunderbar entfalteten Egos auf ein noch höheres Niveau zu heben und ganz nebenbei die Energie zu tanken, die sie sich umso effektiver in das am nächsten Morgen folgende Arbeitsgetümmel stürzen ließ. Vielleicht übersah der Strahler ein paar Arbeitslose, Fixer und Penner, aber in einem hatte er Recht: Noch niemals zuvor hatten die Segnungen der Kultur so weite Bevölkerungskreise erfasst.

    Ein Theaterbesuch, zumal an einem Wochenende, war so selbstverständlich geworden wie das Glas Ketchup auf dem Tisch. Man ließ das aktuelle Programm über den Bildschirm flimmern, ertrug mit der trainierten Geduld des modernen Menschen die immer wieder eingeblendeten Werbespots, entschied sich nach kurzer Analyse von Polizei- und Verkehrsbericht für eine bestimmte Vorstellung, vergewisserte sich, dass der Fahrstuhl funktionierte, rief ein Taxi oder plante die Route selbst - und dem Vergnügen stand nichts mehr im Wege. Darum, dass der Innenminister unermüdlich behauptete, die Theater bedrohten die Volksgesundheit (die Jugend, die Moral, die Staatssicherheit), scherte sich niemand, nicht einmal der Bürgermeister. Es war der Job des Ministers, Probleme in die Welt zu setzen, deren Existenz sein Gehalt rechtfertigte. Aber kompliziert wurde es, wenn man sich zum Beispiel ein Theater in Planquadrat Q7b ausgesucht hatte. In der neuesten Ausgabe des Stadtplans war dieses Gebiet violett markiert, das hieß, die von den Sparmaßnahmen besonders hart betroffene Polizei hatte dort den Streifendienst eingestellt und es würde schwer sein, ein Taxi zu finden, das die Fahrt wagte.

    Jeremy Wesson stand, in der einen Hand das Goldene Mitgliedsbuch, in der anderen die Fernsteuerung des TV, vor dem Fenster seines Apartments und schaute in die Nacht hinaus. Oben war die Nacht schwarz, unten flimmernd hell, und rechts und links ragten die beiden HITACHI-Türme auf, zwischen deren Fassaden sich allwöchentlich die große Lasershow abspielte. Die Leute kamen aus dem ganzen Stadtgebiet herüber, um sich das Spektakel anzusehen. Der Fremdenverkehr belebte das Viertel, aber Jeremy hatte eine andere Vorstellung von Feierabend. Der Hausmeister wartete schon seit Monaten vergeblich auf die Ersatzteile, mit denen er die Jalousie reparieren wollte.

    Die Luft war ausnahmsweise so trocken und klar, dass es in der Atmosphäre kaum Streulicht gab. Nun, da sich seine Pupillen allmählich weiteten, gewahrte Jeremy die Sterne, funkelnde Edelsteine, ausgestreut nach einem Plan, den nachzudenken sich keiner mehr die Mühe machte. Keiner außer dem Prinzen, dachte er. Der Prinz aber sieht beides, den Himmel und auch die Hölle darunter.

    Die Hölle, das war die Stadt, dieser flimmernde Teppich zwischen den dunklen Säulen der jetzt verlassenen Bürotürme, ein brüllendes, stinkendes Ungeheuer, dass seinen unaufhaltsamen Untergang feierte in einer Orgie von Licht, Verschwendung und Gewalt. Was von hier oben betrachtet den sternenvollen Himmel als einen schwächeren Abglanz der eigenen Pracht erscheinen ließ, war für die da unten eine erbarmungslose Jagd nach Geld und Sex, ein Kampf um Parkplätze, medizinische Versorgung, einen funktionierenden Telefonapparat. Die Stadt war die Hölle, und die da unten waren ihre besinnungslosen Bewohner; gleichgeschaltet in der Verfolgung ihrer Eigensucht und gefährlich wie das Beil des Henkers, wenn man ihnen zu nahe kam.

    Prinz tippte den Code der Taxikette, auf die er abonniert war, ins Manual ein. Der ungeliebte Name Jeremy war längst von ihm abgefallen wie die Larvenhülle von einem Schmetterling, und mit dem Namen auch der Nachklang der übertrieben selbstsicheren Stimmen der Kunden, die ihre Reiseziele falsch aussprachen, und der vulgäre Deo-Geruch seiner Vorgesetzten, die manchmal noch weiße Nasenlöcher hatte, wenn sie vom Klo kam, wo sie - wie jedermann wusste - eine Linie nach der anderen zog. Der ganze Tag im Reisebüro war jetzt ausgelöscht.

    Prinz wandte sich heftig ins Zimmer um, las die Ankunftszeit des Taxis vom Bildschirm ab, es blieb nicht mehr viel Zeit. Er stopfte aus Gewohnheit das Goldene Mitgliedsbuch in die Umhängetasche aus geprägtem Leder, eilte in die Nasszelle und prüfte im Spiegel das herrscherliche Lächeln. Er konnte mit sich zufrieden sein.

    Was er jetzt noch brauchte, war in der rechten Schrankhälfte untergebracht, hinter der weißen Tür mit dem roten Pentagramm, das er mit Lilians Lippenstift gemalt hatte. Er hatte ihr verschwiegen, dass er den vermissten Lippenstift gefunden und benutzt hatte, und als sie aus der Zelle kam, wo sie das Pentagramm gesehen hatte, war sie sinnlos wütend. Es war das letzte Mal, dass sie zu ihm ins Bett gekrochen kam und zärtlich »Prinz, du bist mein Prinz!« flüsterte, bis die Selbstkontrolle sie verließ und das Flüstern in die rhythmische Anrufung eines gewissen Billie überging, der ihr mit seiner Vorliebe für Gummiwäsche und komplizierte Varianten aus dem Katalog der tausendundeins Stellungen anscheinend eine Liebe fürs Leben in die Seele imprägniert hatte. »Bil-lie!«, rief Lilian immer, »Bil-lie!«, und wer wusste schon, was ihr der Lippenstift bedeutete oder was sie in dem Pentagramm erkannt hatte, vielleicht eine Grenze, die sie wie der behörnte Versucher nicht überschreiten konnte.

    Prinz war es egal. Er hatte die unsichtbare Anwesenheit Bil-lies ertragen, und jetzt ertrug er die Einsamkeit. Er kämmte sich und beobachtete, wie sein blasses Haar schwarz wurde und sich wellte. Dann zog er die Weste mit den Stickereien an, Blumen mit Blüten aus Silberfäden und je nach Beleuchtungswinkel hell oder dunkel schimmernden Blättern, eine Antiquität, die ihn zwei Monatsgehälter gekostet hatte, aber das war sie auch wert. Zuerst hatte er sich geschämt, mit allem Prunk auf die Straße zu gehen, aber inzwischen wusste er, dass dies geradezu notwendig war; ein vorbereitendes Ritual, das die Wirklichkeit des Theaters bis in sein trostloses Apartment hinein verlängerte. Es schob den Beginn der Vorstellung weit voraus, es verwandelte den ganzen Abend in ein Fest. Außerdem taten es immer mehr andere auch.

    Als er den königsblauen Umhang entfaltete, straffte er sich, und als das glatte Tuch sich um seine Schultern schmiegte, flog das herrscherliche Lächeln ganz von selbst auf seine Lippen. Prinz entließ sich mit einer huldvollen Handbewegung und schloss die Tür.

    Auf dem Korridor brannte Licht, und tatsächlich waren zwei der vier Aufzüge in Betrieb. Im 37. Stock stiegen ein Micky und eine Minnie ein, im 34. kam ein Rollstuhlfahrer dazu, der Prinz Rätsel aufgab, aber nach drei Nummern drückte er schon den Nothalt und kippte sich, da der Lift zwanzig Zentimeter zu hoch gestoppt hatte, auf den Korridor hinab.

    Micky fummelte derweil an Minnies Rock herum, aber Minnie quiekte und schmetterte ihm ihr lackiertes Handtäschchen vor den Latz. Prinz lächelte das herrscherliche Lächeln; er hatte selbst einmal bei den Mäusen mitgemacht, bevor er sich endgültig festgelegt hatte. Die Mäuse waren Kinderkram.

    Auf dem Platz vor der Treppe warteten vier Taxis in Igelstellung. Minnie kniff ihm ein Auge, als sie in ihres kletterte, Prinz sah es ganz deutlich. Er nannte seinem Fahrer das Ziel. Der Fahrer trug ein Arm-TV, das er ständig im Blick behielt; einer dieser Typen, die mit dem Steuer in der Hand auf die Welt gekommen waren. Er wollte drei Felder mehr auf der Abokarte abknipsen als der Strecke entsprach; es wäre eine Risikofahrt. Prinz schaufelte sich zwischen Hamburgertüten einen Platz für die Füße frei und wies auf die gesetzlich geregelte Beförderungspflicht hin. Der Fahrer hielt mitten auf einer Kreuzung.

    »Gewonnen«, sagte Prinz, und gab ihm die Karte.

      2.

    »Das ist die Nummer«, sagte der Fahrer.

    »Das sind etwa dreihundert Nummern«, sagte Prinz. »Eher mehr.«

    »Hören Sie, wir sind da, und wenn Sie sich ausquatschen wollen, müssen Sie jetzt da reingehen. Der Kunde wartet, und der Kunde ist König.« Er klopfte auf einen flackernden roten Punkt in der Stadtplanprojektion.

    »Sparen Sie sich Ihre Witze für eine Fahrt zum Altersheim«, schlug Prinz vor und stieg aus.

    »Im Abo sparen Sie doppelt: Fahrgeld und Trinkgeld«, sagte der Fahrer. »Von mir ist der Spruch nicht.« Leute wie er legten Wert auf das letzte Wort.

    Prinz wartete, bis das Motorengeheul erträglich geworden war und legte dann den Kopf in den Nacken. Dass es so viel Beton auf der Welt gab, überraschte ihn immer wieder. Es war eins dieser Monumentalgebäude, die mehrere Blocks geschluckt hatten, ein verschachteltes Monstrum, das aus zahllosen Einzelteilen planlos zusammengewachsen war, bis es schließlich einen einzigen Klumpen umbauten Raumes gebildet hatte, in dessen Bauch Büros, Apartments, Geschäfte, Parkplätze und ganze Straßenzüge eingeschlossen waren. Organisches Wachstum hatte das die Verwaltung in Goldrauschzeiten genannt, als die Grundstückspreise in Exponentialschreibweise angegeben wurden. Aber der Rausch war zu Ende, die Banken und Büros waren abgewandert. Nur ein paar Leute waren geblieben, die das Fahrgeld nicht hatten - und natürlich der Beton.

    Ziemlich weit oben glommen Lichter, also gab es immerhin Strom. Trotzdem war es nicht gut, so lange bewegungslos herumzustehen; wer steht, überlegt; wer überlegt, ist fremd; wer fremd ist, hat Angst; wer Angst hat, ist Beute.

    Prinz begann zu gehen und sah sich nach einem Hinweis auf das Theater um. Es war kein Verkehr auf der halbdunklen Straße. In einem tiefen Einschnitt, der einmal ein Kinderspielplatz gewesen war, brannte ein Feuer, Halbwüchsige spielten davor mit einem Ball. Er konnte auf die Entfernung nicht abschätzen, ob er das Risiko eingehen sollte, sie nach dem Theater zu fragen.

    Natürlich war es ein Fehler gewesen, in das violette Planquadrat zu fahren. Bis auf das Tränengas in der Tasche war er ohne Waffe, er hatte kein Funkgerät, niemand wusste, wo er sich aufhielt. Noch schlimmer: niemanden würde es auch nur interessieren, wenn ihm etwas zustieß, außer Oberaufseherin Schnüffelnase vielleicht, die ihren Rundgang durchs Büro gerne mit einer kleinen Story würzte, die aus dem Programm stammte, das auch alle anderen gesehen hatten. Manchmal lachten sie Tränen - vielleicht vergaßen sie einfach, was sie wussten, wenn Schnüffelnase den Mund aufmachte. Es könnte sie interessieren, zur Abwechslung einmal etwas zu erzählen, das frischer war als die Sojapampe, die in Dosen als französischer Camembert verkauft wurde.

    Er konnte jetzt nicht aufgeben. Seine einzige realistische Chance, die Gegend unbehelligt wieder zu verlassen war, das Theater zu finden und von dort aus entweder ein Taxi herbeizulocken oder sich von einem Besucher nach der Vorstellung im Auto mitnehmen zu lassen. Autos parkten auch auf dem Bürgersteig, unter einem bis zur Fahrbahn vorspringenden Keil aus weißem Marmor, und das wirkte eigentlich ganz vertrauenerweckend. Als Prinz nähergekommen war, musste er allerdings feststellen, dass die Autos auf Ziegelsteinen aufgebockt waren. Außerdem waren sie bewohnt, aber das erschreckte ihn nicht. Die unüberschaubare Gegenwart des Steinpalastes machte die Wracks zu Spielzeugfiguren, die mit Spielzeuggefahren drohten.

    Das erste Auto war dunkel, im zweiten brannte eine Lampe. Es war ausgehöhlt von Motor- bis Kofferraum, ein Mann und eine Frau hockten sich nackt im Lotussitz gegenüber und bissen abwechselnd in einen Candy-Riegel, den sie sich mit so feierlichen Bewegungen reichten, als wäre er eine transsubstantüerte Oblate und keine Kalorienbombe. Beim dritten Auto ragten Füße aus dem Rahmen der Windschutzscheibe. An der Fahrertür war ein elektrisches Laufband befestigt:

    ...Volkstheater LATERNE...37. Folge...

    Nächste Vorstellung 22³⁰...

    Mit phosphoreszierenden grünen Schablonenbuchstaben war das Motto aufgeklebt:

    In bunten Bildern wenig Klarheit,

    Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit...

    Darunter stand in Krakelschrift:

    Sensation: Die Technik von übermorgen!

    Ein Fest der Überraschungen!

    Das reine Abenteuer!

    Als Prinz gegen das Seitenfenster klopfte, verschwanden die Füße, und ein Bürodrehstuhl rollte in die Bucht vor, die in den Motorkasten gesägt worden war. Ein Mondmädchen saß darauf, das runde Gesicht besetzt mit weiß und blau glitzernden Sternen, einen silbernen Halbmondkamm im schwarzen Haar. Es klimperte mit den Wimpern, dass es hätte Sterntaler regnen mögen, beäugte seine Kreditkarte und sagte: »Wir nehmen nur Bargeld, bitte.«

    Schon ihre Stimme war mehr, als Prinz sich hier noch erhofft hatte. Sein Herz begann zu klopfen. Er hatte das Theater gefunden, wie eine Sternschnuppe war es vom Himmel gefallen, ihm vor die Füße, und auf einmal wusste er, es würde ein großer Abend werden. Er durchwühlte seine Tasche nach einem Geldschein, und als das Mondmädchen das Goldene Mitgliedsbuch sah, sagte les: »Das reicht. Wir sind seit drei Tagen Mitglied der Goldenen Gilde.«

    Prinz trennte einen Abo-Bon von der Serviceseite ab und bekam dafür die Eintrittskarte. Er hielt sie vor das Schriftband, um den Text zu lesen, aber es standen nur Name und Adresse des Theaters, eine Nummer und die Klassifizierung Prinz darauf.

    Das Mädchen griff hinter sich ans Armaturenbrett, drehte den Starter und legte den Bon in einen Beutel. Ein Elektromotor summte, und während der Beutel in die Höhe stieg, tauchte aus der Dunkelheit, an einer Schnur, die Prinz bisher übersehen hatte, ein zweiter Beutel herunter.

    »Es ist eine unsichere Gegend«, erklärte das Mädchen mit einem traurigen Lächeln. »Wir können es uns nicht leisten, eine volle Kasse auf der Straße zu lassen.«

    »Aber es war doch nur ein Bon.«

    »Es war auch noch etwas Geld drin.« Das Mädchen reichte ihm einen in Goldfolie verpackten Schokoladedukaten. Jede ihrer Gesten schien etwas zu enthalten, das, dächte man nur lange genug darüber nach, eine ganze Geschichte ergäbe.

    »Der Eingang ist hier...« - sie deutete unter den Marmorkeil - »und der Aufzug ist beleuchtet. Du fährst in die 154. Etage...«  

    »Oh!«

    »...und dann ist es beschildert. Gute Unterhaltung!«

    Der Eingang unter dem Keil wirkte wie zusammengepresst. Auch der Nachhall der Schritte war hell, singend, komprimiert. Es war einer von dutzenden, hunderten Eingängen, die in das Gebäude führten, aber durch den steinernen Überhang war er anders als alle anderen.

    Hinter der Glastür war tiefe Schwärze, an deren Ende ein rotes Auge glomm. Mit ausgestreckten Armen tappte Prinz bis zu den Aufzügen vor. Die beiden rechten waren mit Latten vernagelt, die beiden linken mit Seilen verhängt. Die Schalttafel des äußeren seilverhängten Aufzugs war beleuchtet.

    So ging es zu in der angeblich so modernen Welt; irgendwann einmal hatte ein pubertärer Tunichtgut entdeckt, wie die Schaltmechanismen der automatischen Türen zu blockieren waren, eine Zeitung hatte davon berichtet - und es hatte sich ausgebreitet wie seinerzeit das Tabakkauen oder die Pest. Die unterbeschäftigte Subkultur schien ein Heer von Türblockierern geworden zu sein. Eine Zeitlang konkurrierten die Türenhersteller mit den Blockierern unter Einsatz immer stärkerer, immer raffinierterer Apparaturen, aber diese blockaderesistenten Mechanismen klemmten Regenschirme, Arme und Beine ein und zerquetschten die Passagiere, deren Reaktionsvermögen den neuen Zeiten nicht gewachsen war. Also ließ man die Türen nach Abwägung des Für und Wider schließlich weg, aber irritierend war es doch, nur durch ein eingeklinktes Seil von einem Abgrund getrennt zu sein.

    Prinz drückte die Ruftaste und wartete. Er wartete lange. Schließlich beugte er sich vorsichtig in den Schacht, um zu prüfen, ob der Fahrstuhl kam. Endlich hielt die Kabine, sie war tapeziert mit Werbezetteln des Theaters. Er trat hinein und streckte die Hand nach den Tasten aus, da ließ ihn ein gellender Schrei reflexhaft gegen die Kabinenwand springen.

    »Halt! Vorsicht! Stopp! Nicht losfahren!« Mit hartem Absatzgeklapper und wedelnden Armen lief eine Frau auf den Fahrstuhl zu. Obwohl Prinz keine Taste berührt hatte, setzte sich die Kabine in Bewegung. Instinktiv legte er den Nothalteschalter um.

    »Wollen Sie noch mitfahren?«, erkundigte er sich höflich durch den halbmeterbreiten Spalt. Die Frau hob ihr gerötetes Gesicht in das fahle Kabinenlicht.

    »Der Unbeleuchtete... Wir müssen jetzt den Unbeleuchteten nehmen!«, keuchte sie.

    »Warum das?«, fragte Prinz und lächelte.

    »In dem Beutel war eine Nachricht, es hat Ärger gegeben, irgendein Defekt in der Programmierung. Das Ding würde uns jetzt weiß Gott wohin bringen, bloß nicht zum Theater. Nur der Unbeleuchtete funktioniert.« Prinz ließ sich durch den Spalt auf den Boden hinab. Die Frau griff ihm unter die Arme. Sie war eine Magd mit flachsgelbem, straff geknotetem Haar und rot geschminkten Wangen, die gut zu dem bodenlangen gepunkteten Kleid passten, über das sie eine lederne Schürze gebunden hatte. Das violette Brillengestell passte weniger gut. Die nackten Füße steckten in Schnürsandalen mit fingerlangen klobigen Absätzen. Mager war sie, mit streichholzartigen Handgelenken, und umso mehr beeindruckten ihre enormen Brüste; gewaltige Hervorwölbungen waren das, in der Luft gehalten von einem Zaubermechanismus oder einer rekordverdächtigen Eigenleistung des potentiell milchspendenden Muskels. Sie hob einen Korb vom Boden auf und stellte ihn neben das Nachbarloch.

    Prinz drückte die Ruftaste. Er mochte ihr Parfum und rückte etwas näher, um im Halbdunkel ein Stückchen Brust zu berühren. Ihr Kleid war aus Leinen, frisch gestärkt.

    »Die Umstände«, sagte er, »sind zugestandenermaßen etwas merkwürdig. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass es klug wäre, da rauf zu fahren. Vielleicht war das mit dem Zettel eine Warnung? Ein Wink des Schicksals, was meinen Sie? Oder waren Sie schon einmal hier?«

    »Ich? Nein. Ich bin Widder und habe für diese Woche das beste Horoskop der letzten neununddreißig Jahre.« Sie strich sich glättend übers Haar, und die Brüste sprangen auf und ab.

    Prinz holte die Taschenlampe hervor, um einen zweiten Blick in ihr Gesicht zu werfen. Sie hatte einen müden Mund, als hätte sie schwer gearbeitet.

    »Mein Mann hat mich hergebracht. Wir haben eine Abmachung miteinander; jeder entwirft für den andern ein Unterhaltungsprogramm, einmal die Woche. Man muss dann machen, was der andere sich ausgedacht hat. Das sorgt für Überraschungen, ein Tipp von meinem Eheberater. Ich habe den Fehler gemacht, Bruce mit meiner besten Freundin zum Trockensurfen zu schicken, und jetzt lebt er bei ihr. Aber unsere Abmachung läuft weiter. Ich gehe auch noch mit ihm ins Bett, ist das nicht komisch? Du kannst mich Helen nennen.«

    »Prinz«, sagte Prinz. »Nenn mich einfach Prinz. - Wir können einsteigen, glaube ich.« Er klinkte das Seil aus und klinkte es, als sie eingestiegen waren, automatisch wieder ein.

    Auch die Kabine war unbeleuchtet. Jedesmal, wenn eine Etagenöffnung vorbeiglitt, strich ein kühler Luftzug über ihre Gesichter. Manche Etagen waren beleuchtet, die meisten nicht.

    »Hundertvierundtünfzig«, sagte Prinz und steckte die Lampe ein. »Darf ich dich küssen?«

    Sie lachte. »Heh, was soll das bedeuten?«

    »Nichts. Ich schwöre...«

    »Also los, küss mich!«

    Und Helen nahm die Brille ab.

      3.

    Was habe ich denn erwartet? dachte Prinz. Die Wunder aus Tausendundeiner Nacht? Ein Wolkenschloss mit Stühlen aus Elfenbein und stumme Wächter, die silberne Zeremonialschwerter an den Hüften tragen?

    Sie waren den Schildern durch endlose Korridore gefolgt, waren in einem verglasten Gang, von dessen Decke Petroleumlampen hingen, in vermutlich schwindelerregender Höhe zu einem anderen Gebäudeteil übergewechselt; sie waren über ein defektes Rollband gelaufen, hatten das letzte Schild an der kleinen Treppe entdeckt - und jetzt mussten sie sich von einem übelgelaunten Regisseur, dem eine erloschene Zigarette im Mundwinkel klebte, als Blitzableiter missbrauchen Jassen.

    »Wir spielen die 36. Folge für Prinz, Prinzessin, Schwiegermutterkönigin, Abenteurer, Scharfrichter, Hexe, Rabe, Magd und Überraschungsperson«, sagte der Regisseur, der sich als Don Rose vorgestellt hatte. An seinem zitronengelben Hemd waren zwei oder auch drei Knöpfe zu viel geöffnet. Die Zigarette begleitete seine Worte mit winzigen Ausschlägen; ungezielte Hiebe.

    »Die neue Folge ist nicht mehr rechtzeitig fertig geworden, wer das Stück also bereits kennt, kann sich noch dünnemachen. Jimmy nimmt die Eintrittskarten zurück und gibt gegebenenfalls Gutscheine für die nächste Vorstellung aus. Niemand? Ihr macht mich glücklich.«

    Jimmy saß auf einer Obstkiste neben der Tür und betrachtete die kümmerlichen Reste seines Haars in einem Taschenspiegel. Er hielt dabei ein Feuerzeug an seinen Schädel, das er in regelmäßigen Abständen klicken ließ. An den Wänden standen Bürodrehsessel Marke Chef und ein Zahnarztstuhl, dessen Lehne mit Regisseur beschriftet war. In einer elektronischen Fensterattrappe glühte ein blutroter Sonnenball. Das Beste war noch die an der Decke hängende Technik: Scheinwerfer, ein Stroboskop, gewaltige Lautsprecher und Nebeltrichter. Auch das Steuergerät neben dem Behandlungsstuhl sah mit seiner glänzenden Antenne und den leuchtenden Knöpfen vielversprechend aus.

    Während der Regisseur für die Quereinsteiger aus anderen Produktionen die Handlung der letzten Folgen zusammenfasste, musterte Prinz seine Mitspieler. Vier leichtgeschürzte Abenteurer waren gekommen, drei abenteuerlich zurechtgemachte Hexen, zwei Raben in schwarzen Monturen mit angenähten Schwänzen und Pappschnäbeln, die ihnen an Gummibändern vor der Brust baumelten, außerdem vier Prinzessinnen, zwei Mägde, einige Prinzen und ein Scharfrichter.

    Zwei der Frauen erschienen Prinz als Partnerinnen von Reiz. Der einen glitzerte das grüne Wasser der Antarktis in den Augen; die Pupille war der Riss in der Scholle, durch das der Eisbär nach silbernen Fischen jagt, und der rote Kirschmund in der Eiswüste des überschminkten Gesichts eine verirrte exotische Frucht, die eine zweifellos köstlich kalte Zunge in Erwartung unerhörter Freuden befeuchtete. Mit dem kleinen Finger stocherte die Prinzessin in ihrem hochgetürmten schwarzen Haar und spannte so die Glocken ihrer Brüste, denen der V-Ausschnitt eines weißen Spitzenkleids exakt die Spitzen teilte. Vielleicht war es das Brautkleid einer extravaganten Großmutter, und wie eine Braut sah sie auch aus; eine Braut wie eine Eistorte, mit kleinen heißen Geschmacksvulkanen im Innern versteckt. Noch stand sie abseits von den andern und hing mit ihren grünen Wasseraugen an Don Rose, als wäre er es, der ihr den Geliebten bringen würde. Wahrscheinlich war er es auch.

    Der anderen sah man den Fünfstundentag am Terminal an. Sie hatte den huschenden Roten Blick und konnte ihre Finger nicht unter Kontrolle halten. Sie trug ein braunes T-Shirt und einen weißen geschlitzten Rock, dazu Sandalen mit Teleskopabsätzen. Eine Kette aus Glasperlen und Silberdraht hing viel zu tief auf ihre Brust hinab. Ihr sommersprossiges Gesicht war wie die Kleidung eher gewöhnlich, fast ein bisschen ordinär, aber es bildete innere Kanten und Verwerfungen ab, die einen Telefonnummernaustausch nach der Vorstellung als lohnend erscheinen ließen. Mit ihrem strähnigen gelbblonden Haar, dessen Farbe nicht weniger künstlich als eine Perücke war, und dem halb spöttischen, halb ängstlichen Lächeln wirkte sie eher wie ein verkleidetes Kind, das sich auf einer Geburtstagsparty noch nicht recht heimisch fühlt, denn wie eine Magd. Sie war das Gegenteil der Eisprinzessin, warm, berührbar, der Typ, den man anrief, wenn alle anderen Möglichkeiten versagten; man konnte sich darauf verlassen, die Antwort wäre ja. Offensichtlich war es ihr erster Theaterbesuch.

    Prinz, dem der Geschmack eines Mundwassers am Gaumen klebte, das in der Werbung als sexy, hexy, partnersafe angepriesen wurde, blickte ein wenig schuldbewusst zu Helen hinüber, die bei den anderen Prinzen stand, durch eine schulterhohe Kulissenwand von den übrigen Akteuren getrennt. Neben der Computermaus war sie die einzige Magd, und sie genoss es. Immer noch brillenlos, blinzelte sie aufgeregt in die Runde, und der Mund, den Prinz eben noch geküsst hatte, plapperte unaufhörlich. Anscheinend gehörte sie zu der Sorte Mensch, denen es die Gnade ihrer Natur verwehrt zu bemerken, wann sie stören.

    Jimmy hatte den Spiegel endlich weggesteckt und teilte die Empfänger aus. Er passte die Kopfbügel an und pegelte die Lautstärke ein. Als er fertig war, stellte sich Don in die Mitte des Raums, ruckte am Kragenmikrofon und knurrte: »Achtung, Mikrofonprobe! Eins-zwei-drei... eins-zwei-drei...« Er schwenkte einen Haufen loser Blätter.

    »Okay, Leute, fangen wir an! Die Show beginnt. Es ist ein tolles Stück, unser Drehbuchautor hat keine Mühen gescheut. Ihr werdet auf eure Kosten kommen, dafür stehe ich gerade. Ach ja - falls jemand das erste Mal in einem Theater ist, dann soll er es jetzt sagen. Wir haben alle mal klein angefangen.«

    Prinz beobachtete die nervöse Magd, gespannt darauf, ob sie um Einweisung bitten würde. Sie wrang die Kette in den Händen, wagte aber nicht, das erwartungsschwere Schweigen zu brechen. Als Prinz für einen Moment ihre Augen in seinen spürte, nickte er aufmunternd und wandte sich an Don Rose: »Ich. Ich bin das erste Mal dabei.« In der Prinzenecke wurde ärgerlich gehüstelt.

      »Okay«, sagte Don Rose. »Macht nichts. Eigentlich gibt es nicht viel zu erklären. Du wirst gleich vom Magischen Wein kosten und dich dann verwandeln. Du wirst den Prinzen nicht spielen, du wirst der Prinz sein, zusammen mit den anderen Prinzen natürlich, okay? Du wirst die Worte, die du hörst, selber sprechen, das heißt, wenn du an der Reihe bist. Und du wirst vollkommen locker tun, was du tun willst, verstanden? Was du tun willst, das wirst du spüren, du musst nur locker sein, darauf kommt es an. Vollkommen locker. Alles klar dann? Tja, und jetzt geht es los.« Er blickte theatralisch zur Decke hoch und winkte.

    »Danke«, sagte Prinz. Die Magd lächelte und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

    Don rezitierte:

    »Wind geschwind,

    Sonne, Mond und Sterne!

    Bringt uns die Zauberfee herbei aus der Ferne!«

    Das Licht erlosch bis auf den Sonnenball, der sich ein wenig hob und dessen Farbe von Rot über Orange in Zitronengelb überging. Jimmy öffnete die Tür, und aus einer gleißenden Helle tänzelte ein von durchsichtigen Schleiern umwehtes Wesen hervor: die Zauberfee.

    Prinz konnte sich auch diesmal nicht der verzaubernden Wirkung des Schauspiels entziehen. Die Inszenierung mochte noch so plump und schäbig sein, dick aufgetragen und verlogen - er stand an der Schwelle zu einer anderen Welt der Wunder und Abenteuer. Um dieser Erfahrung willen ertrug er die Langeweile im Büro, die langen Fahrten durch die wuchernde, verfallende Stadt, die Müdigkeit und die Verzweiflung am Tag danach. Und er reckte und streckte sich und erstarrte zu einer Pose würdevoller, ja: prinzlicher Erwartung.

    Zwei dunkel gekleidete Regieassistenten verschoben die Kulissenwände und dirigierten die ersten Akteure an die richtigen Stellen. Die Fee hüpfte von einem zum andern, knickste und hob den mit blendendem Geschmeide verzierten Kelch dem Empfangenden an die Lippen.

    Prinz stand bereits auf Position. Gemessenen Schritts, die Kinnlade vorgereckt, traten die anderen Prinzen an ihn heran.

    Er nickte wieder, als die Zauberfee vor ihm knickste, bemerkte, dass sie den Kelch drehte, damit er an einer unbenetzten Stelle trinken konnte - und schluckte gierig das köstliche Gift, bis die Fee ihm den Kelch so ungestüm entzog, dass sie ihm den Umhang bekleckerte.

    Eine wohlige Wärme strahlte in seinem Magen auf. Plötzlich schien ihm, der Raum sei von viel mehr Menschen angefüllt als eben noch, er glaubte die piepsige Stimme einer frühreifen Straßengöre zu hören, den harten Slang der Gosse aus Kindermund. Er fühlte einen kitzelnden Atem im Nacken, doch als er sich umdrehte, war niemand da. Aber ein Murmeln sprach ihn an aus weiter Ferne, nicht mehr ganz befand er sich im Theater, noch nicht ganz an jenem Ort, wo ein Prinz des Beistands eines Abenteurers bedurfte, den selbst Hexenzauber nicht schreckte, wo der Feind in der eigenen königlichen Familie lauerte, die Schwiegermutterkönigin. Er sah sie sich über den Hof entfernen, ihr graues Haar in dem morgendlichen, strahlenden Licht wie von Raureif bedeckte Spinnweben an einem Wintertag. Draußen vor dem Fenster des Stalles, in dem die prachtvollen Rosse in Erwartung eines Ausritts mit den Hufen scharrten, hatte sie alles mitangesehen: wie er Gundel, die. Küchenmagd, aufs Stroh geworfen hatte, wie sie erst schamhaft tat und sich zierte, dann aber mit einem brünstigen Lachen das Kleid raffte und ihm zu Willen war, wie er es nicht anders kannte von den jungen Bauerntöchtern, die entschlossen waren, am Hof ihr Glück zu machen. Es war nur ein unbedeutendes Abenteuer, eine winzige Episode in seinem funkelnden Leben, er war der Prinzessin in aufrichtiger Liebe zugetan, aber Abwechslung förderte den Appetit, und so war es Sitte.

    Gundel tat schön vor ihm, kämmte sich Halme aus dem gelben Haar, ihre Wangen waren gerötet von der genossenen Liebe. Er sah, wie er sich verbeugte und sie. küsste, sein Gesicht gefiel ihm nicht, er sah sich einen kurzen, erschreckenden Augenblick lang verdoppelt, vervierfacht an der Magd hantieren, doch da schon küsste er sie selbst und drückte noch einmal ihren prallen Busen und sprach: »Ich muss jetzt eilen. Wir wurden von der Königin belauscht, und diese will mir nicht wohl.«

    »Oh, weh!«, rief Gundel und schlug sich die Hand vor den Mund. »Was werdet Ihr nun tun? Was werdet Ihr erleiden müssen um meinetwillen? Und was geschieht mit mir? Ich bin verloren!«

    »Das wird die Zukunft enthüllen, so oder so. Die Königin wird alles meiner Gemahlin berichten und sich dann mit der Hexe beraten. Gemeinsam werden sie auf Rache sinnen. Dieses tückische Weib!«

    »Das ist ja schrecklich!« rief Gundel. »Mir bricht das Herz!« Sie wusste sich nicht mehr zu helfen in ihrer Angst, sank zu Boden und umklammerte des Prinzen Knie.

    »Sei getrost!«, sprach dieser und streichelte begütigend ihr Haar, indes heiße Tränen ihre Wangen netzten.

    »Du wirst den Hof verlassen müssen...«

    »Nicht das, oh, Herr! Das dürft Ihr nicht verlangen! - Doch verzeiht, ich vergaß mich...«

    »Nein, nein, mein Kind. Es ist ja nur auf Zeit. Du wirst dich im Dorf umtun und mir einen rechten Abenteurer herbeischaffen. Der soll im Wald für mich den klugen Raben finden. ihn will ich fragen, ob er nicht ein Mittel weiß, dem üblen Hexenzauber zu begegnen. Also eile, wie ich zur Prinzessin eilen will, ihr das Geschehene zu beichten. Sie hat ein großes Herz, vielleicht wird sie mich verstehen.«

    Er kniff Gundel zum Abschied in die Wange und küsste sie auf den Mund. Er wusste nicht, wie ihm dabei geschah, dass er davon einen Schmerz an der Stirn zurückbehielt, der, als er das Gemach der Prinzessin erreicht hatte, auf dem besten Wege war, sich in eine Beule zu verwandeln.

      4.

    »Ich will nicht weinen«, sagte Pretty und rieb sich mit den kleinen Fäusten  über die Wangen, wobei sie aufpasste, dass kein Pickel zerplatzte. »Ich bin zu alt zum Weinen. Direktor hat gesagt, ich darf eine Rolltrage führen. Maude baut gerade eine Trage, die klein genug für mich ist. Direktor hat auch gesagt, es ist das erste Mal, dass ein Mädchen, das noch nicht... das noch nicht kann, eine Trage führen darf. Und ich habe ihm gesagt, es gibt schon zwei Jungen, die ganz wild darauf sind, dass ich in ihre Gruppe komme, und dass ich ganz sicher bin, dass ich... dass ich kann, wenn wir in der neuen Siedlung sind, und dass ich mir deshalb schon vorher eine Gruppe aussuchen will. Aber Direktor hat nein gesagt. Und das mit den Jungen stimmt auch nicht. Ich bin hässlich. Und es soll eine extra kleine Trage werden, Alan hat gemeint, ich sollte doch meine Puppen darauf setzen, dann sähe es so aus, als wäre ich wenigstens zu etwas nütze...« Pretty weinte.

    »Du Dumme!«, sagte Maria zärtlich. »Alan ist ein Fiesling, und ich bin sicher, die Trage wird so groß, dass du mit ihm darauf Schlittenfahren kannst.« Sie beugte sich über Pretty und küsste sie aufs Haar.

    »Schau!«, flüsterte sie. »Der Kleine Himmel hängt voller Tränen. Der Kleine Himmel weint auch.«

    Sie sahen gemeinsam zum Kleinen Himmel hinauf, zu den rotglühenden Wassertröpfchen, in denen sich der Schein des Feuers spiegelte. Ein junger, noch bartloser Wachmann kam vorbei, nickte ihnen zu und entfernte sich, als kein Grußwort die Bereitschaft zu einem Schwatz signalisierte, in Richtung Garten, wo die Wäsche zum Trocknen ausgespannt war. Ab und zu sprang hartgewordene Enz-Paste von einem Wäschestück ab und fiel raschelnd zu Boden: »Es lebt!«, sagte  Oma Ruth immer geheimnisvoll, die das Enz betreute und dafür sorgte, dass es wuchs und vor dem Waschtag rechtzeitig geteilt wurde: »Es ist hungrig auf Schmutz!«

    Der Mann balancierte dicht am Rand der Plattform entlang, stolz auf die noch so leichte Bürde der Verantwortung. Ein Teil des Gartens war bereits abgebaut worden, und auch die Wäsche würde morgen gebürstet und verpackt werden, und Oma Ruth würde noch die kleinsten Enz-Krümel aufsammeln und in den Komposter schütten. Wenn der Stamm einmal weitergezogen war, sollten keine Spuren zurückbleiben.

    »Ich weine nicht«, sagte Pretty und schnuffelte. »Ich bin zu alt, um zu weinen.«

    Maria zog Pretty eng an sich heran. »Sei nicht blöd«, sagte sie leise. »Zum Weinen ist man nie zu alt. Je älter du wirst, desto bessere Gründe zum Weinen wirst du haben, das ist nun einmal so. Es ist nicht gut, wenn du alles schluckst. Du bekommst davon einen harten Bauch, und wenn du schwanger wirst, tut er weh.«

    Pretty lachte verlegen. »Wann hast du das letzte Mal geweint?«, fragte sie.

    Maria überlegte einen Augenblick lang und seufzte. »Als ich den Großen Himmel gesehen hab. Das war vor zwei Monden. Wir waren zu dritt, und Pitt. Wir haben Pitt vorgeschickt, und als wir sahen, dass die Luft rein war, sind wir über den schmalen Weg nach oben gestiegen.«

    »Das ist verboten!«, sagte Pretty erschrocken.

    »Stimmt. Und zu Recht. Aber manchmal muss man eben etwas Verbotenes tun, sonst kann man nicht leben. Sonst kann man hier nicht leben.«

    Pretty dachte darüber nach. Dann fragte sie: »Und wie war's?« Sie hatte lange nicht mehr den Großen Himmel gesehen, aber manchmal träumte sie davon.

    Dann stand sie unter einem wunderbar tiefen, samtigen Schwarz, und irgendwie gelang es ihr, dieses Schwarz mit dem Finger zu berühren, und wenn sie den Finger

    zurückzog, blieb ein leuchtendes Pünktchen davon haften, und das machte sie im Traum so oft, bis die Nacht hell geworden war; hell von Sternen, die sie mit dem Finger an den Großen Himmel getupft hatte.

    »Ich habe an Greg gedacht«, sagte Maria.

    Pretty schwieg bedrückt. Maria und Greg hatten zusammen ein Stromsucherteam gebildet. Sein Handschuh war gerissen, als er ein aktives Kabel an einen Trafo anschließen wollte; er war schnell gestorben. Pretty erinnerte sich genau an die seitsamen Worte, die er zur Beschreibung seiner Arbeit gebraucht hatte und die mit ihm im Ewigen Kreislauf verschwunden waren um irgendwann verwandelt wiederzukommen - als was? Die Worte als Melodie, und Greg als ein Apfel? Eine Bohne? Ein Kürbis? Als die Decke verrutschte, hatte das weiße Gesicht mit dem schiefen Mund sie angesehen, als wollte es ihr zulächeln und konnte es bloß nicht mehr...Dann hatte Maria ihre blitzenden, piepsenden Geräte abliefern und zu den Kompostbauern gehen müssen, und Schiller hatte aus einer spannenden, fröhlichen Arbeit etwas Düsteres, Gefährliches gemacht.

    Aber Schiller lebte, und Greg war tot...

    Immer wenn Pretty daran dachte, was Maria hatte durchmachen müssen, erschienen ihr die eigenen Sorgen lächerlich gering; die Angst vor dem Aufbruch, der alles, was ihr lieb war, in einen Strudel unberechenbarer Veränderung zog, ihre widersprüchlichen Empfindungen Alan und den anderen Jungen gegenüber, die sie Pickelgesicht nannten und wegen ihrer Kleinheit hänselten. Das waren Sorgen für Kinder, die Puppen auf Puppentragen durch die Gegend schleppten.

    Sie drückte ihren Kopf gegen Marias Schulter und blickte zu dem Kleinen Himmel empor, der voller Tränen hing.

    »Es wird eine kalte Nacht«, sagte Maria nach einer langen Weile. Hinten bei den Hütten rief jemand Prettys Namen.

    »Das ist Mona. Ich muss gehen.«

    »Okay. Welche Gruppe wirst du nehmen, wenn es soweit ist?«

    »Dubbel«, sagte Pretty ein bisschen widerstrebend.

    »Ich glaube, ich werde zu Dubbel gehen. Er... er will Sänger werden.«

    »Ja«, sagte Maria. Dubbel war Außenseiter wie Pretty, und vielleicht aus diesem Grund hatten sie zueinander Zutrauen gefasst. Aber Dubbel träumte von Ritual  und Tabu und erfundenen Mythen, wo Prettys wacher Verstand sich an

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