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eBook475 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Eine zufällige Begegnung in der Tram: Tim und Ahmed. Wenige Wochen später treffen sie sich erneut, werden Zeugen, sind Beteiligte eines banalen Vorfalls in einem Supermarkt. Ralf klaut. Wird ertappt und die Geschichte nimmt ihren Verlauf: Ahmed droht die Abschiebung, Ralf Gefängnis. Tim und seine frühere Freundin Gesine sehen nicht einfach zu, sie handeln und werden verstrickt in etwas, das sie über Jahre, Jahrzehnte begleitet. Die Jahre vergehen, die Zeitläufte ändern sich, das Leben wird schneller, unberechenbarer; Sara, Ahmeds tot geglaubte Schwester taucht plötzlich auf, dann machen sich unerwartete Perspektiven auf. Aus Paaren werden Familien, man geht seiner Wege, die Eltern werden alt, die Kinder erwachsen. Alle geben ihr Bestes, das Leben ist soweit im Lot, bis eine neue Zeit sie antreibt, sich nochmals neu zu orientieren. 
Der Roman spannt die Handlung über zwei Jahrzehnte, vom Jahr 2000 bis Ende 2022, und zeichnet darin nach, als ungewisses Dokument, was war und was ist, fragmentarisch, aus wechselnder Perspektive, anhand flüchtiger Gedanken, Unterhaltungen, Begebenheiten, im Verlauf des Bemühens der verschiedenen Personen, das jeweils vermeintlich Richtige zu tun.

Wolfgang Kügel, geb. 1953, Studium der Geschichte und Anglistik in München, langjähriger Mitarbeiter in einem internationalen Konzern, lebt heute – nach vielen Jahren in München und Berlin – in Baden. 
Von demselben Autor: Überleben, 13 Geschichten, 2022
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum26. Okt. 2023
ISBN9791220146692
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    Buchvorschau

    Unter Freunden - Wolfgang Kügel

    Teil 1

    1

    4. November 2000 – Gespräch im Garten

    „Nicht zu springen, brachte mich fast um den Verstand." Er schwieg und sah über die Wiese im Park, über die Eiben hinweg auf die Kuppel des Kirchturms und die dahinter aufscheinenden Berge. Untergehende Sonne. Ihre Strahlen brachen sich im herbstlichen Blattwerk der Bäume. Aber es hatte den Anschein, als nähme er all das nicht wahr. 

    „Eine Steilküste, der Strand bei Ebbe gerade mal drei, vier Meter breit, die Felswand jäh aufragend, ich stieg los, einfach so, kletterte die Wand hinauf, die ersten Griffe waren leicht, plötzlich war ich weit oben, und etwas stimmte nicht, die Wand, diese kaum merkliche Neigung, als ich begriff, was es bedeutete, schien es mir schon zu spät. Wie absteigen, wenn die Wand überhing? Ich harrte aus. Nähmaschine. Kennst du diesen Ausdruck, Ernst? Nähmaschine: Wenn das Bein, das dich trägt, plötzlich anfängt zu hämmern? Spring! dachte ich. Besser als abzustürzen! Da waren es schon zehn, fünfzehn Meter bis runter zum Strand. Bei Niedrigwasser, egal ob am Ufer oder weiter draußen, nichts weiter als Geröll, Felsbrocken, ein bisschen Sand und Kiesel, du prallst unweigerlich auf irgendeinen Stein, spring nicht, dachte ich. Und wäre am liebsten gesprungen."

    Tim hielt inne, trank einen Schluck Wein, sah durch das Laubdach der alten Bäume hinauf, es war früh am Abend, Anfang November, zu warm für einen November. 

    „Wenn Ralf nicht aufgetaucht wäre, sagte er plötzlich, als hätte er gespürt, woran Ernst gerade dachte, „wäre alles anders gekommen. Ralf war eine Art Katalysator, ohne ihn wäre all das nicht geschehen.

    Stille. Ernst sagte nichts, und Tim war zu verwirrt, um ausdrücken zu können, was er seinem Freund begreiflich machen wollte.

    „Damals jedenfalls, sagte er, „damals in der Wand überlegte ich einen Moment lang, zu springen. Dann wäre es vorbei, dachte ich. Besser so, als abzustürzen. Das Leben folgt keinen Regeln, egal was passiert, im Nachhinein lassen sich immer passende Gründe dafür finden, weshalb dies oder jenes geschehen ist oder eben nicht. Ich bin nicht gesprungen damals. Andernfalls säße ich jetzt nicht hier und unterhielte mich mit dir über diese Geschichte, die du ansatzweise kennst, aus Telefonaten, aus Gesprächen mit deiner Frau, die vor nicht allzu ferner Zeit meine Geliebte gewesen ist, was sage ich, ein Paar waren wir, Gesine und ich. Aber ich bin ihr nicht gram, ich an ihrer Stelle hätte mich auch für dich entschieden. Lassen wir das Thema, du und ich, Gesine und ich, wir verstehen einander. Darauf kommt es an. Damals in der Wand ließ ich mich Griff für Griff, Schritt für Schritt hinab, erst die letzten Meter sprang ich hinunter. Habe mir nicht mal den Knöchel verstaucht. Lag eine Weile wie dumm da, dann richtete ich mich auf, stieg unbeholfen zwischen all den Steinen hinaus ins Offene, schwamm durch die Bucht hinüber zum Lido, legte mich dort auf eine Liege und dachte nur eines: Du bist nicht tot.

    Es war eine liebevoll drollige Geste, wie Ernst sein Glas hob, Tim tat es ihm gleich, etwas verlegen, und sie stießen an, tranken, setzten das Glas nicht ab, hielten es in der Schwebe und tranken noch einen Nachschluck. „Weshalb berichte ich dir all das?, sagte Tim, noch während er sein Glas abstellte vor sich auf dem alten runden, klapprigen Tisch. Er warf einen Blick rundum in den Garten. „Weil das, was Anne und Ahmed, was Ralf widerfahren ist, worin Gesine und ich und Anne und Ahmed und Ralf, worin wir alle – du, Ernst, ein stückweit ausgenommen – verstrickt sind, und das sind wir, wir sind es noch, auch wenn die Geschichte beendet zu sein scheint, was ich nicht glaube, mich an damals erinnert, als ich überlegte, besser in den Tod zu springen, als ihn zu erleiden. Mir ist, als hingen wir alle fest, oben in einer himmelhohen Wand, und wüssten nicht ob hinauf oder hinunter, ob steigen oder springen.

    Weshalb war er hinausgezogen vor wenigen Monaten, im August, in diese weltvergessene Kreisstadt, dorthin, wo alles in die Brüche gegangen war? 

    Wann hatte all das angefangen? überlegte er. 

    Mit ihrer Begegnung in der Tram und ihrem sich daran anschließenden Gespräch? Ja, ein Gespräch war das gewesen, keine Plauderei auf dem Bahnsteig. Oder war es diese Geschichte im Supermarkt, dieser lächerliche, völlig missratene Ladendiebstahl, mit dem alles anfing? Oder doch später erst, als Ralf dieses Fest gab, ein paar hundert Meter entfernt von hier? 

    „Danke, dass du gekommen bist, sagte er zu Ernst. Hier sitzen wir nun also beisammen, er und ich. Auch dies letztlich ein Ergebnis zufälliger Begebenheiten. Ernst und Gesine hatten sich auf der Straße kennengelernt. Sie hatten einander kennengelernt, als Ernst sie nach dem Weg fragte: „Zum nächsten Postamt? Er war in Eile gewesen und hatte ein Päckchen unterm Arm, ein Geschenk für eine ältere Dame zu ihrem achtzigsten Geburtstag. Gesine half gerne, wenn sie konnte. Sie beschrieb ihm den Weg, nein, das war zu kompliziert, „besser, ich begleite Sie!" Eine Zufallsbekanntschaft: Gesine und Ernst. Kurz darauf haben Gesine und ich uns getrennt, nicht auf eine Weise, wie man sich eine Trennung im Allgemeinen vorstellt: Wir blieben Freunde. Trafen uns regelmäßig, verstanden uns blendend, nicht nur in alltäglichen Sachen. Wir tauschen uns aus. Wir reden miteinander über alle uns wichtigen Themen: Gesine und ich. Ernst ist im Grunde ein Familienmensch, auch wenn es ihn nicht drängte, partout Vater zu werden. Mutter sein, das war Gesines Wunsch! Dieser Gedanke hatte sie mit einem Mal nicht mehr losgelassen. Im Gegensatz zu Gesine, die von ihrem Erbe lebt, ist Ernst gut positioniert, leitender Angestellter, er hat das Zeug zu höherem. Ich schätze an ihm seinen analytischen Verstand, politisch kann ich ihn nirgendwo verorten, dafür ist er viel zu normal. Ich meine das nicht negativ, ganz im Gegenteil. Er hat keine Allüren, ist einem zugewandt und höflich, elegant gekleidet, und er versteht es zu genießen. Ein geselliger Mensch. Es dürften Gesines Kinderwunsch und seine joviale Art gewesen sein, die sie zueinander finden ließ. Immerhin hatten wir beide, Ernst und ich, uns von Anfang an akzeptiert in der einem jeden von uns zugeteilten Rolle. Inzwischen bin ich ja so etwas wie ein Freund des Hauses: Trauzeuge bei ihrer Hochzeit, Taufpate ihrer Tochter Regina wenige Monate später. 

    Oder hatte all das viel früher begonnen? Ein, zwei Generationen früher, Welten von hier entfernt? 

    „Verzeih meine Zerstreutheit, sagte er zu Ernst, goss ihm und sich nach von dem Wein, sie stießen an, überflüssigerweise, das zweite Mal schon, steif und ein wenig verlegen, was man nun sagen sollte nach diesem kurzen Schweigen, als ein jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachgegangen war. „Ich weiß nicht, was oder wieviel Gesine dir berichtet hat, es geht mich auch nichts an, sagte Tim, „die Geschichte tangiert dich, da Gesine darin verwickelt ist, aber du warst kein Akteur, du warst Beobachter, Unterstützer, Helfer. Deshalb wollte ich mit dir darüber reden. „Jederzeit, danke für die Einladung, Tim, erwiderte Ernst. 

    „Ich danke dir!" Er hatte Ernst nicht gebeten, zu kommen; nur so viel hatte er gesagt: Ich würde mich freuen. Die Geschichte mit Ralf und Ahmed, mit Ahmed und Anne, fand Tim, war noch nicht zu Ende. Zöge er Ernst nun tiefer mit hinein infolge dieses gemeinsamen Gesprächs, das eher einer Anhörung glich, einer Selbstvergewisserung? 

    Die Sonne war inzwischen weg, die Berge, „untertags blau, manchmal rosa, je nach Tageszeit, sagte er zu Ernst, waren nichts weiter als eine dunkle dräuende Masse hinter einem Rest Stadtmauer und Wehrtürmen. Eine Katze, die bei den Eiben, die das Grundstück nach Süden begrenzten, herumstrich, hatte ihrer beider Aufmerksamkeit erregt. „Ich könnte stundenlang hier sitzen, sagte Ernst „und einfach nur schauen, was sich so tut. Enorm beruhigend das!"

    „Du weißt ja, wie die Geschichte bislang verlaufen ist, fuhr Tim fort, „es gibt Fakten, der Ablauf und die Folgen des Geschehens sind dokumentiert, von der Polizei, von Ämtern, vor Gericht, von Ärzten, doch habe ich immer noch nicht verstanden, wie es letztlich dazu kam.

    „Ich an deiner Stelle würde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, entgegnete Ernst. „Eine Handlung zieht zig andere nach sich. Was wir Verantwortung nennen, Verantwortung für unser Handeln, für das, was wir tun oder unterlassen, berücksichtigt stets nur eine lineare Abfolge einzelner Handlungen. Wir glauben, damit dem Grund eines Geschehens näher zu kommen. Das ist ein Irrtum. Wir sind Schlafwandler, dem Instinkt beraubt, wie er Tieren Sicherheit bietet, dafür mit einem Verstand ausgestattet, der nur einen Bruchteil dessen begreift, was um uns herum geschieht. Das ist der Sündenfall, mein Lieber! Die Vertreibung aus dem Paradies! Also hör auf damit, dich zu fragen, was gewesen wäre wenn. Womit glaubst du, fängt diese Geschichte an: Mit der Flucht von Annes Eltern aus Siebenbürgen? Mit Ralf, als er auf Diebestour ging im Supermarkt? Gar mit der Geburt von Ahmed? Wäre er nicht gezeugt worden, gäbe es ihn nicht. Ein dummer Satz, aber ist es nicht so? Nimm allein Ahmed: Wie viele, wenn dies und wenn das nicht, denkst du, ließen sich finden, die Einfluss nahmen auf das, was geschah?

    „Erübrigt sich damit nicht jede Rechtsprechung, jeder Prozess? Ich stimme dir nicht zu, erwiderte Tim. „Nicht zur Gänze. Identität und Halt, diese Suche nach irgendwelchen Maßstäben, das ist es überhaupt: Maßstäbe, Regeln, dachte Tim. Heute gibt es zu wenige – oder zu viele und zu verschiedene. Die Maßstäbe von Anne, Ralf und Ahmed, oder sollte ich besser sagen, die Art, wie sie die Welt sehen, ihre ethischen, moralischen Einstellungen, sind allesamt grundverschieden. Und sie vertragen sich nicht miteinander. Ganz und gar nicht.

    Und so wie die Menschen durcheinander geworfen werden, von einer dunklen Ecke der Welt in eine andere, wird sich an dieser Zerrissenheit auch nichts ändern. 

    Die Kirche, inzwischen angestrahlt – was für ein Kontrast zu den dunklen perspektivlos aufragenden Bergen – war wundersam anzusehen. „Wie aus der Zeit gefallen, meinte Ernst, „Impressionismus, ein Bild auf Leinwand.

    Ich habe genug von dieser Idylle, dachte Tim. Im letzten Krieg, als die Alliierten dazu übergegangen waren, Innenstädte zu bombardieren, um den Kriegsfortschritt zu beschleunigen, hat Gesines Großvater die Bombennächte nicht unweit von hier in seiner Villa am See verbracht. Im eigens dafür vorgesehenen Salon rauchte er seine Stumpen, trank Cognac, setzte seine schwungvolle Unterschrift unter irgendwelche Schriftstücke, und eine sommersprossige Achtzehnjährige, sein Dienstmädchen, fuhr mit dem Straußenfederwisch über Goethe und Schiller, Nietzsche und Kierkegaard. Das Schauspiel der brennenden Stadt war für ihn ein Feuerzauber gewesen, der die Sternbilder verblassen ließ. Und ohne sich dessen zu schämen, hatte der Alte wohl dabei mit dem Stumpen im Mund daran gedacht, wie die Felchen anderntags beißen würden. 

    Er hielt kurz inne in seinen Gedanken, versuchte, sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren, auf das Rascheln eines Igels im Gras, auf die Katze, die ihn plötzlich anstarrte, als sorge sie sich um ihn. 

    „Wenn man die Wahrheit über schlimme Zustände begreifen will, muss man nach ihren vermeidbaren Ursachen suchen, sagte Ernst. Es war ihm so eingefallen, gerade eben. „Ist von Bert Brecht, glaube ich. Weshalb erzählst du mir nicht einfach der Reihe nach, was geschehen ist? Die Geschichte an sich ist mir ja nicht fremd, wie du weißt.

    „Gut, sagte Tim. „Ist gut. Ich will es versuchen. Er setzte zum Sprechen an, und er hätte sehr gern über alles gesprochen, denn es lag wie Ballast auf ihm. Doch dann fiel ihm ein, dass er über Sachen hätte sprechen müssen, die Ernst nichts angingen. Laut sagte er: „Ich kann, was geschah, nicht erzählen, als wüsste ich um die Wahrheit. Ich interpretiere, ich stelle Vermutungen an, müssen wir uns nicht alle fortwährend in andere hineinversetzen, um zu verstehen, in Ansätzen zumindest, weshalb sie so und nicht anders gehandelt haben? Kurz und gut, ich müsste dir von Gesine berichten, private Details, die es so gegeben haben mochte oder auch nicht."

    Ernst lachte schallend. „Selbstverständlich interpretierst du, wenn du etwas erzählst. Einige glauben gar, vielleicht zurecht, unser aller Leben wäre nichts weiter als eine Erzählung, ein Traum, eine Simulation. Erzähle einfach, es liegt bei mir, was ich davon für wahr erachte und was nicht. Und was Gesine anbelangt… Was ihr in Italien getrieben habt oder auch nicht, ich meine das nicht abschätzig, das geht mich nichts an, das ist das Leben. Es wäre verheerend, würden wir einander stets misstrauen, an Sachen rühren, die uns nichts angehen. Es liegt heutzutage ohnehin viel zu viel Moral in der Luft, kaum dass man es noch wagt, seine Meinung frei heraus zu äußern."

    2

    Meine damalige Wohnung, ich glaube du warst nie dort, nur Gesine, jedenfalls: Meine Wohnung, eine praktische, zum Krankwerden normale Wohnung, keine vierzehn Tage, nachdem ich eingezogen war, wurde ich krank, ja, glaub` mir, ich wurde krank! Diese Wohnung, ich habe den Faden verloren, diese Wohnung also lag in der Nähe des Supermarkts, in dem Anne arbeitete. Ein x-beliebiger Supermarkt, ich erinnere mich nicht mal mehr an den Namen, egal, tut nichts zur Sache. Wie gesagt, lag er gleich um die Ecke. Nicht groß, ein paar Regalreihen, Gefriertruhen, Getränke, eine Theke für Wurst und Käse, ein paar Auslagen mit Obst und Gemüse, Haushaltswaren, teurer Krimskrams zum Teil, Kosmetika, Elektroartikel… Dort arbeitete Anne. Als Kassiererin und Lagerhilfe.

    Dann eines Tages… Ich fuhr mit der Tram stadtauswärts, vom Hauptbahnhof herkommend, du kennst die Strecke. Das Abteil war überfüllt, man stand Arm an Arm. Zunächst war es nur seine Stimme, die mir auffiel. Ich sah die beiden nicht, die sich da unterhielten. Aber die wenigen Worte, die ich hörte, ließen mich vermuten, dass es Asylanten waren, welche aus dem Lager, ein, zwei Stationen weiter stadtauswärts. Sie stiegen an derselben Haltestelle aus wie ich, einer, wohl arabischer Herkunft, der es eilig hatte, fortzukommen, ein junger Hagerer, der sich noch umwendend, schon im Lauf, mit einem Handzeichen verabschiedete von einem, dessen Stimme mich in der Tram hatte aufhorchen lassen. Wie ich ihn so auf dem Bahnsteig stehen sah, empfand ich ein nicht näher bestimmbares Gefühl, eine vage Vorahnung, als ob wir einander nicht grundlos begegnet seien, vielmehr, dass unser Zusammentreffen, so zufällig es war, Einfluss nehmen würde auf unser beider Leben, dass ich an einem Wendepunkt angelangt sei, an dem ich mich zu entscheiden hätte, ob dahin oder dorthin, vor oder zurück. 

    Ich musste ihn regelrecht angestarrt haben. Beiderseitiges Erstaunen! Wir taten ein paar Schritte aufeinander zu, und schon waren wir in einem Wortwechsel, aus dem ein Gespräch entstand, das plötzlich spannend wurde. Als hätte jemand den Himmel aufgerissen! Ein Wort gab das andere, und als stünden wir auf einer Bühne, einen Dialog deklamierend, breiteten wir alles aus, was einem zuoberst lag. Eine Tour de force durch hundert Jahre Geschichte. Dann trennten wir uns, wie wir uns getroffen haben, von einem Moment auf den anderen. 

    Als Ahmed – wir hatten einander unsere Namen genannt – durch einen Spalt im Maschendrahtzaun im Lager verschwand, überkam mich Scham. Die Vorstellung, dass er dort drinnen lebte, hinter Holunderbüschen und Maschendrahtzaun, war schwer zu ertragen. 

    In der nächsten Zeit liefen wir uns ein ums andere Mal über den Weg. Meist im Supermarkt. Wenn wenig Kundschaft im Laden war, unterhielten wir uns mit Anne, standen zu dritt um die Kasse herum, und es funkte zwischen den beiden. Ahmed behandelte Anne wie eine Prinzessin, liebenswürdig, zuvorkommend, zugewandt. Und Anne blühte auf. Sie, die sonst aus Schüchternheit jedes überflüssige Wort und jeden Blickkontakt vermied mit den Kunden, die sie abzukassieren hatte, aus Angst, ins Stottern zu geraten –, sie redete und redete, und Ahmed hörte zu, nahm keinen Anstoß an ihrem Rededrang, und nach und nach wurden wir so etwas wie drei Freunde. 

    Eines Tages lud Anne Ahmed zu sich nach Hause ein. Sie wohnt, wie du ja weißt, zusammen mit ihrer Mutter, in einem der wenigen dort erhaltenen alten Häuser, in einer von Kastanienbäumen gesäumten ruhigen Straße. Ich war ein paarmal dort zu Kaffee und Kuchen, der Tisch ein jedes Mal sorgfältig gedeckt mit altem Porzellan, Deckchen, Servietten, selbst ein Stövchen gab es, um die Kanne warmzuhalten. Die Tortenstücke waren üppig, mit viel Schoko und Sahne, gar mit einem Schuss Likör. Es ist eine geräumige Wohnung im dritten Stock, mit verwinkelten Gängen und vielen Türen. Sie wirkt auf mich, als sei die Zeit dort stehen geblieben. Für Annes Mutter jedoch mussten die Jahre umso schneller vergangen sein: mit gerade mal Neunundsechzig sieht sie aus wie weit in den Achtzigern; eine gealterte, zerbrechlich wirkende Frau mit wachen Augen und leiser Stimme. Ich hatte von Anfang an so etwas wie Ehrfurcht vor ihr, ich weiß, das klingt abgehoben, aber so ist es.

    Ahmed und Anne trafen sich bald regelmäßig. Auf eine Tasse Kaffee, ein Glas Wein oder einfach nur, um auf dem Balkon zu sitzen und miteinander zu reden. Auch Herta, Annes Mutter, schien mir, hatte Gefallen gefunden an Ahmed.

    Eines Tages kam Gesine überraschend auf einen Sprung bei mir vorbei. Ich wollte Tee aufbrühen, aber der Zucker war alle, du weißt ja, sie trinkt ihren Tee nur mit Zucker drin. Wir also rüber in den Supermarkt, Gesine war nur noch auf Zucker fixiert, jetzt, auf der Stelle!

    Wir eilten durch die Gänge, vorbei an Mineralwasserpackungen, Haushaltswaren und Fertiggerichten, während vorn an einer der beiden Kassen – die zweite war unbesetzt – Anne mit ihren kräftigen Händen, knack-knack!, Rollen mit Kleingeld am Rand der Lade aufbrach und die Münzen in die Fächer schüttete. Schon staute sich Kundschaft. Ich ließ Gesine ihren Zucker suchen und stellte mich schon mal bei der Kasse an hinten in der Schlange. Ahmed stand weiter seitlich beim Obst, schon beim Eintreten hatte ich ihn bemerkt, aber keine Gelegenheit gehabt, zu ihm zu gehen. 

    Vor mir in der Schlange, Bauch an Rücken, standen ein paar Männer. Unterhemden, Shorts, Bermudas. Sandalen, dazu Tennissocken. Aggressiv gestikulierend ein Obdachloser, Wortfetzen ausspuckend. Während eine Schwarze – ihr buntes Kleid nach frischer Wäsche duftend – eine Kleine an der Hand hielt, kaum dass diese die Hand greifen konnte, aufblickend, sich umblickend; dabei fiel ihr Kopf mal da, mal dorthin, mal in den Nacken. Hinter ihnen, das Kind schier erdrückend, zerrte eine Frau an ihrem übervollen Einkaufswagen. Ein paar Jugendliche riefen andauernd fuck, fuck you und fuck it, während sie einander schubsten, traten und an ihren Handys herumfummelten. 

    Zuhinterst, ein Stück abgesetzt vom Gros der Schlange, sah ich den arbeitslosen Diplommathematiker, der in demselben Karree wohnte wie ich, nur einen Block nebenan, in Block C, in dessen Nasszelle ich von meiner Küche aus hineinsehen konnte. Mit seinem Kapuziner Bart und dem nach innen gewandten Blick kam er mir vor wie von einem anderen Stern. Sein Antlitz verriet nicht, womit er sich gerade beschäftigte. Er schien in weit entfernte Rätsel zu blicken. Und allein an der Kasse, eingekeilt zwischen Zigaretten und Ständern mit Allerlei: Anne.

    Inzwischen hat Gesine ihr Paket Zucker gefunden, braunen grobkörnigen Zucker, eine ganze Riesenpackung hat sie im Arm. „Der Braune ist viel gesünder als der Raffinierte", sagt sie und sieht sich nervös um, ob es eine zweite Kraft für die unbesetzte Kasse gäbe. Aber Anne muss alles allein bewältigen. Der schlaksige, rotgesichtige Filialleiter mit Bläschen an der Unterlippe war hinter einem Verschlag verschwunden und schien damit beschäftigt zu sein, Kartons hin und her zu beugen. Ich hörte nur seine dünne Stimme, wenn er der zweiten Kraft etwas zurief, die hinten im Laden Regale auffüllte. Ich stand teilnahmslos herum und dachte von mir in der dritten Person: Hat Tim noch einen Begehr? Will er noch etwas kaufen? Nein, er hat genug, Tim will gehen. Ich besinne mich jedoch: Ich will noch Wein besorgen! Ich trete ans Regal, prüfe, suche. Gesine mit der Riesenpackung Zucker in der Hand steht an der Kasse an. Als ich eine Flasche Merlot aus dem Regal nehme und das Etikett studiere – ich musste dazu die Brille absetzen –, sehe ich ihn: Langes Haar, Trenchcoat – und das bei der Hitze! Erinnerst du dich, dieser nie enden wollende heiße Sommer?! Ich hantiere an meiner Brille, es fällt mir schwer, sie mit einer Hand aufzusetzen, schließlich sehe ich die Dinge wieder klar, ein wenig schief zwar, denn die Brille sitzt nicht richtig auf der Nase, die Perspektive ist verzerrt, die Linien stürzen ineinander, aber alles in allem entsteht ein Bild. Trenchcoat trägt Bart, genauer gesagt ein paar Haarfäden unterhalb des Kinns zu einem Ziegenbart geknotet, er hat Piercings in Augenbrauen und Nase, und in seinen Augen lese ich unsäglichen Überdruss, wunde Sehnsucht – und Konzentration! Trenchcoat geht die Regalreihe längs, wie nebenbei greift er ins Regal, und teure kleine Sachen verschwinden unter seinem Mantel. 

    Anne kramt über die geöffnete Lade gebeugt nach Wechselgeld, blickt kurz auf – und: Dass sie es überhaupt bemerkt hat! 

    „Hey!, ruft sie. „Das – das geht aber nicht!

    Trenchcoat hätte jetzt die Sachen einfach zurückstellen können ins Regal, aber er besinnt sich anders. Er versucht, zu türmen, tritt gegen die Kartons, die um die Kasse herumstehen, einer trifft Anne im Gesicht. Sofort weint sie. 

    Trenchcoat hält inne. Einen Moment lang, den entscheidenden Moment lang zögert er. Da packt ihn auch schon Ahmed, im Nu prügeln sie sich, stürzen übereinander, wälzen sich am Boden, dass alles aus den Regalen fliegt.

    Die Polizei war so schnell da, als hätte sie um die Ecke herum gewartet. Wenige Handgriffe, und schon lag Ahmed am Boden, während ihm Handschellen angelegt wurden.

    Anne begehrt auf: „Das ist Ahmed!", ruft sie.

    Trenchcoat – keine Lust mehr zu fliehen – beugt sich über sie. Versucht, zu trösten. „Ralf, sagt er. „Ich heiße Ralf.

    „Anne", sagt Anne.

    Da führen sie Ahmed schon ab. „Den Schwarzen trifft keine Schuld!, rufe ich, und Gesine sagt Ähnliches beinahe zeitgleich. Da heult eine Sirene auf, die Schar Neugieriger vor dem Supermarkt bildet eine Gasse, ein Krankenwagen hält, zwei Sanitäter steigen aus, eilen herbei, beugen sich über Anne. „Ihr fehlt nichts, sage ich. 

    Trenchcoat – inzwischen kennen alle Umstehenden seinen Namen: Ralf – also Ralf sagt, immer noch in der Hocke neben Anne kauernd: „Es tut mir leid." Steht auf und holt unter seinem Mantel hervor, was er erbeutet hat. 

    Eine respektable Ausbeute.

    Einer der Polizisten kommt näher, einen Moment lang scheint es, als müsse er erst die Lage sondieren. Dann ruft er: „Eh! Der hier hat geklaut!"

    Anne sagt: „Ist schon gut, ist gut! Das bringe ich in Ordnung."

    Da fassen sie Ralf auch schon unter und bringen ihn zum Auto. 

    Anne wird auf eine Krankenbahre gelegt, sie bekommt eine Decke übergeworfen, dann wird sie aus dem Laden getragen. 

    „Weshalb `ne Bahre?", frage ich Gesine.

    „Fußballer werden auch mal auf einer Bahre vom Feld getragen nach einem Foul, erwidert sie. „Es könnte ein Schock vorliegen, sicher hat sie einen Schock erlitten. „Stimmt", sage ich, irritiert über mein Unverständnis.

    Wir gingen um die Ecke, in meine Wohnung. Ich brühte eine Kanne Tee auf. Eine Weile redeten wir von was anderem. Dann sind wir wortlos aufgestanden, stellten das Geschirr in die Spüle, zogen die Balkontür zu, sind runter auf die Straße, eilten die Straße längs, vorbei am Supermarkt, vor zur Kreuzung und rüber zur Haltestelle. Während wir auf die Tram warteten, rief Gesine ihren Rechtsanwalt an. Wir fuhren ein paar Stationen, von da waren es nur noch wenige Schritte bis zum Revier. Der Anwalt traf fast zeitgleich mit uns ein, und wir machten unsere Aussage.

    _ _ _

    Anne hatte sich beruhigt während der Fahrt ins Krankenhaus. Sie war nicht ernstlich verletzt. Ein paar Schrammen vielleicht. Sie betrachtete die Milchglasscheiben des Rettungswagens, in dem sie lag, und versuchte die Schriftzüge zu entziffern, die außen aufgemalt waren: Telefonnummer, E-Mail-Adresse. Es war wohl ein privater Notdienst. Sie hatte mit Mühe das Wort Schlüsselblümchenweg zusammengesetzt, als sie die Konzentration verlor und ihre Gedanken abschweiften. Sie glitten von kleineren Begebenheiten der letzten Tage, minimalen Fehlständen in der Kasse, falsch gestapeltem Leergut oder unzureichend ausgezeichneter Ware, zurück in die Vergangenheit, zu Geschichten aus ihrer Kindheit, zu Bildern, die ihr von ihrer Mutter und vor langer Zeit noch von ihrem Vater herübergereicht worden waren aus Zeiten, als sie noch gar nicht auf der Welt war. Diese eine Empfindung gehörte zu ihrem Leben: Hineingeboren worden zu sein in eine seltsame Familie. Diese Andersartigkeit hatte sie stets empfunden: eine Ungarndeutsche zu sein aus Siebenbürgen. Den Rumänen galten sie als Ungarn und den Ungarn als Deutsche. Schließlich waren sie nach Deutschland gegangen, in den Westen. Und dort erst, so steht es in meinen Papieren, kam ich auf die Welt. Mein Vater war krank, er blieb mir in Erinnerung als kranker Mann mit angegriffener Lunge. Ich war sechs, als er starb. Wenige Tage nach Heilig Abend ging er aus dem guten Zimmer, wie wir sagten, in dem wie jedes Jahr der Christbaum stand, um sich auszuhusten, wie er noch sagte. Er kam nicht mehr zurück. Er war 44 Jahre alt. 

    In den Wochen und Monaten nach Vaters Tod, wenn ich den Halt im Leben zu verlieren drohte, zog ich mich zurück in eine Nebenwelt, tausendmal realer als die Welt, die mich umgab. Dort ging ich stets denselben Weg, er führte gesäumt von Büschen und Bäumen hinauf in die Berge, und eines Tages kam mir dort eine Karre entgegen, mit hohen Rädern, von zwei Ochsen gezogen, und der Bauer, der das Gespann führte, grüßte mich. Ich sah zu ihm auf, da war er schon vorüber mitsamt dem Gespann, gleich einem wankenden Schiff. Und ich stand da, umgeben von leuchtend roten duftenden Büschen. Dieser da, der mich gegrüßt hatte, schwor ich, müsse mein Vater gewesen sein. 

    Sie hatte dieses Bild aus Kindertagen nie vergessen. Sie hatte es vor Augen, als die Türen des Rettungswagens geöffnet wurden, die Trage, auf der sie lag, herausgezogen, in die Schräge gekippt, herumgewirbelt und durch überfüllte Gänge geschoben wurde. Schließlich setzte ihr jemand eine Spritze, während sie flüsterte: „Das ist nicht nötig. Das ist doch gar nicht nötig." Und sie hatte nicht einmal gestottert dabei.

    Später, als eine resolute Frau sie eine Spur zu fürsorglich nach ihrem Befinden erkundigte, brachte sie keinen geraden Satz heraus, woraufhin sie erneut durch Gänge gerollt, samt Trage in die Schräge gekippt und in einem Wagen fixiert wurde, der nicht aus dem Schlüsselblümchenweg kam, sondern Buchstaben trug, die ihr spiegelverkehrt aufgetragen worden zu sein schienen. So gelangte sie in die Geschlossene. 

    An die folgenden Stunden konnte sie sich später nicht mehr erinnern. Weder Traum, noch Schlaf. Black-out. „Ich weiß nicht, was für Zeug sie mir gespritzt haben", sagte sie zu Tim. Er saß neben ihr am Bett.

    Nach einer Weile stand sie auf und ging zum Fenster. „Ich komme bald raus", versicherte sie ihm. Ihr Blick fiel auf eine Taube, die mit angelegten Flügeln von irgendwoher in den Hinterhof hinunterflog. Pfeilschnell. 

    _ _ _

    Ahmed hatte sich seiner Verhaftung im Supermarkt nicht widersetzt. Er kannte das Prozedere, das Anlegen der Handschellen, die gebückte Haltung, in der er zum Wagen verbracht wurde, das Niederdrücken des Kopfes unter das Wagendach. Im Fonds sitzend sah er einen der Polizisten an der Beifahrertüre stehen, den Ellbogen aufs Dach gestützt, während er ruhige Worte ins Funkgerät sprach. Dann brachten sie den Kerl heraus, mit dem er sich geprügelt hatte Annes wegen, verstauten ihn auf der Rückbank, linkerhand von ihm, und schon schoss der Wagen los. 

    Während der Fahrt empfand Ahmed eine irritierende Komplizenschaft mit dem Burschen neben sich. Sie saßen so eng beisammen, dass sie einander berührten, und bald schon ging ihr Atem synchron. Nach einer Weile trafen sich ihre Blicke, kurz nur, aus den Augenwinkeln, und Ahmed war, als erkannten sie einander als Komplizen, als Schauspieler auf ein und derselben Bühne, ungeachtet ihrer grundverschiedenen Rollen. 

    Einmal in der Zelle reduzierte sich die Welt für Ahmed auf das, was ihn umgab: vergittertes Fenster, Waschbecken, Pritsche, zusammengefaltet am Fußende eine Decke, Abort, Tür mit Spion und verschlossener Durchreiche. Er stand eine Weile herum, dann setze er sich aufs Bett. 

    Als die Tür aufging, lag er mit dem Gesicht zur Wand.

    „Sie können gehen!"

    Er erhielt zurück, was er ausgehändigt hatte. Zu seinem Erstaunen fühlte er weder Erleichterung über seine Entlassung, noch Groll auf das, was geschehen war. Er ging zu Fuß. Den ganzen Weg zurück ins Lager, die breite Ausfallstraße entlang, vorbei an Annes Supermarkt und vor zur Kreuzung. Dort stand er eine Weile eingekeilt zwischen Bikern. Auch Blader kamen angeschossen: Pirouette, Auspendeln der Arme, Stand. Dann tändelten sie, setzten nervös zu ersten Tritten an, fieberten dem Start entgegen. Sobald die Ampel für die Autos auf Gelb wechselte, schossen sie los, verschafften sich durch weit ausschwingende Armbewegungen Raum, sprangen im Hocksprung über die Gleise der Tram, und schon erfolgten Antritt und Sprung auf den gegenüberliegenden Gehsteig.

    Das Lager war umgeben von einem Dickicht aus Büschen, zumeist Ebereschen, Hasel und Ahorn, sowie einem Drahtzaun, der jedoch an einer Stelle niedergetreten war, so dass, wer sich auskannte, auf einem schmalen Pfad hineingelangte durchs Unterholz bis vor zu den Containern: Baracken mit Fensterläden und Türen, davor das übliche Allerlei eines prekären Lebens: Grills, Campingstühle, Bänke, Tische, Wäscheständer, Kinder. 

    Seine Sachen waren noch so da, wie er sie verlassen hatte, auch Spind und Bett. Er setzte sich auf die Trittstufen des Containers. Aus seinen Mails schloss er, dass auch Ralf und Anne wieder auf freiem Fuß seien. 

    _ _ _

    Es war Gesines Idee gewesen, dass wir uns alle treffen sollten: „Anne und Ahmed, Ralf und wir beide – der harte Kern, sagte sie zu mir und lachte, „wir könnten ins Sportlerheim gehen, es liegt gleich neben der Asylunterkunft. Ich war nicht begeistert von dem Vorschlag. Nach einigem Drängen jedoch gab ich nach, vielleicht, dachte ich, war es gar keine so schlechte Idee. Ein, zwei Anrufe, ein kurzer Chat, und es war beschlossene Sache. 

    Wir gingen ins Sportlerheim. Anne trug, was sie immer trug, unscheinbare Sachen, Bluse, Rock, alles in gedeckten Farben; in ihrem dunklen lockigen Haar hatten sich Blüten verfangen, kleine welke Farbkleckse, sie sagte selten etwas, und wenn, dann nur knappe, kurze Sätze, während sie auf ihre Fußspitzen blickte, als ob es ihr Mühe bereitete, einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Gesine, wie immer top gepflegt, weißes Hemd, schwarze Hose, schritt kräftig aus, während sie die Leute musterte, die Gegend, überhaupt alles, was vor sich ging. Ihre Beobachtungsgabe war phänomenal, und sie sprach aus, was ihr gerade dazu einfiel. „Wie du wieder herumläufst, sagte sie plötzlich zu mir, „mit deinem ausgeblichenen T-Shirt und dieser abgetragenen Jeans. Ich lachte. Ich hatte nie besonders auf mein Äußeres geachtet, ob Kleidung oder Haarschnitt. 

    Auf dem Gehweg längs der Straße ging es hektisch zu. Das Fahrrad oder Bike, wie es nun hieß, hatte sich nach und nach neues Terrain erobert, frisch gezogene weiße oder gelbe Demarkationslinien verwiesen Fußgänger an Hauswände, und was auf den infolgedessen neu entstandenen Radwegen herumflitzte, hatte nichts mehr mit den Fahrrädern zu tun, wie man sie von früher her kannte. Vorbei die Zeiten, als man ohne Helm und Warnweste, gemach tretend, vor sich hin radeln konnte, in friedlicher Eintracht mit frei laufenden Hunden und herumtollenden Kindern mit ihren untergehakt spazieren gehenden Eltern. Auch sportliche Betätigungen, die es früher eher selten gegeben hatte, waren nun nicht mehr wegzudenken aus dem öffentlichen Raum. Gehwege und Plätze mutierten zu Sportstätten. Jogger, Blader, Skater erzeugten, abgesehen von einem Luftzug unterschiedlicher Güte, eine nicht näher erklärbare Irritation. Man konnte noch so sehr auf sie gefasst sein – schließlich sah man sie in der Regel auf einen zukommen –, und doch stand man kurzzeitig wie auf dem Sprung, als fürchtete man, ihnen ausweichen zu müssen. Was das eine oder andere Mal auch angeraten war. Ich kann diesem öffentlichen Treiben wenig abgewinnen. Weshalb auf Gehsteigen und Plätzen? Vor Eisdielen, Cafés und Restaurants, in Parks? „Es gibt einfach keine Muße mehr, sagte ich, „keinen Raum, um zu flanieren, keine Plätze, um zu verweilen. Wenn ein Blader vorbeirauschte, kamen mir dessen Eislaufbewegungen affektiert vor. „Elegant!, widersprach Gesine, „richtig elegant! 

    Wir hatten nun die ehemaligen Kasernen erreicht, große Baukörper, in denen sich in den letzten Jahren Filmstudios und Architekturbüros eingemietet hatten, auch Lofts und Eigentumswohnungen waren entstanden; längs der Straße, unter den Alleebäumen, waren Lieferwagen geparkt, Lkws, Wohnmobile und Wohnwagen; einige davon sahen aus, als seien sie dort schon vor Jahren abgestellt worden: mit platten Reifen und abgelaufenem TÜV, schimmlig, vergraut, verkrustet von Ruß, Schmutz und allem, was so von den Bäumen herunterfällt im Lauf der Zeit. 

    Wir bogen in die Seitenstraße ein, die am Lager vorbei zum Sportlerheim führte. Aus nahegelegenen Ställen roch es nach Schafsmist und Pferdeäpfeln. „Ich sehe mal nach, ob Ahmed da ist", sagte Anne leise, winkte mir und Gesine zu, hob die Hand kaum in Hüfthöhe dabei und ging Richtung Asylheim. 

    „Dann mal tschüss!", meinte Gesine, eine Spur zu heiter. 

    „Ihr kommt doch nach, du und Ahmed?", rief ich.

    „Mal sehen", hörten wir Anne sagen, ohne dass sie sich umwandte. 

    Ich sah ihr nach: „Bis gleich!", rief ich. 

    „Ihr geht `s nicht gut", konstatierte Gesine.

    Es waren nur mehr wenige Schritte bis zum Sportlerheim. Als wir das Eingangstor erreicht hatten, ein monumentales Tor aus massiven Holzpfeilern und Querbalken, ähnlich dem Eingang zu einer Ranch irgendwo im Outback, sagte ich: „Ich habe Durst, willst du auch ein Bier? Gesine verneinte. „Ich trinke lieber erst was Fruchtiges. Ich bog ab in Richtung Tresen, bestellte, zahlte, ging zur Durchreiche und nahm die Getränke in Empfang. Ich war gern dort. Draußen auf der Wiese saßen nur wenige Gäste.

    _ _ _

    Anne wusste, wo sie Ahmed finden würde im Lager, sie war schon einige Male hier gewesen. Während sie an den Wohn-Containern entlang ging, rollte ihr plötzlich ein Ball vor die Füße, ein bunter Ball mit Girlanden Muster. Aufgrund der Bewegung des Balles drehte sich das Muster in einem fort, und als sie sich bückte, um den Ball dem Mädchen zuzuwerfen, dem der Ball beim Spiel entglitten war, wurde ihr schwindelig, und wirre Bilder kamen ihr plötzlich in den Sinn, eine Abfolge unzusammenhängender, nicht zuordenbarer Assoziationen. Dann schlagartig, als hätte jemand einen Hebel umgelegt in ihrem Kopf, wusste sie nicht mehr, wer sie war und wo sie sei. Sie blieb stumm stehen, unfähig, sich zu bewegen. Das Mädchen, dessen Ball ihr vor die Füße gerollt war, blickte erschrocken zu ihr auf.  „Anne!, rief Ahmed. „Anne, was ist los mit dir? Er war plötzlich da, drückte sie an sich. 

    „Nichts, sagte sie. „Ich war nur in Gedanken! Sie hielt sich an Ahmed fest und starrte mit umflorten Augen in eine ihr unbegreifliche, bedrückende Leere. 

    „Da nimm!", rief das Mädchen und hielt ihr den Ball hin, besorgt und ein wenig verängstigt. 

    Anne bückte sich, nahm den Ball auf und warf ihn der Kleinen zu. Das Kind lachte, trat gegen den Ball, rannte ihm hinterher, sorglos und weltvergessen.

    „Komm!, sagte Ahmed leise. „Gehen wir kurz zu mir.

    Da fing Anne an, bitterlich zu weinen.

    _ _ _

    Gesine hatte einen Tisch nahe einer Fichtenreihe gewählt. Die Sitzgruppe bestand aus einem gewöhnlichen Biergartentisch und zwei Bänken. Auf einem nahegelegenen Sportplatz war ein Match im Gange, man hörte dumpfe Aufschläge, wenn gegen den Ball getreten wurde, insbesondere beim Torabschlag, und einige leichthin gerufene Anweisungen der Trainer und

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