Flucht in die Tierolei
Von Wolfgang Berg
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Buchvorschau
Flucht in die Tierolei - Wolfgang Berg
Namensliste
I
Im Ausbildungscamp
Ein kaum vernehmbares Wiehern drang durch die nächtliche Stille des Stalls, in dem sich weit über hundert Pferde von den Strapazen des Tages erholten. Die meisten von ihnen lagen zu dieser nächtlichen Stunde in tiefem Schlaf.
Carlo, ein Ostfriese, stand in seiner Pferdebox und döste vor sich hin. Das rechte Hinterbein hatte er leicht angehoben, um die Muskeln und Sehnen zu entspannen, die am Tag so stark beansprucht wurden. Sein Kopf war zum Boden geneigt und erhob sich in diesem Moment des auf ihn einwirkenden Geräuschs. Er war sich nicht ganz sicher, ob der wiehernde Gruß eben von Mona-Lisa kam, einer Stute, mit der er während der Ausbildung in einer Gruppe trainierte. Mit einem tiefen Brummen antwortet er, in der Hoffnung, dass Mona-Lisa Weiteres von sich hören lässt.
„Auf meinem elterlichen Hof wäre es mir im Traum nicht eingefallen, die ganze Nacht stehend und in so einer schlaffen Haltung zu schlafen, döste er weiter vor sich hin. „Hier in diesem Camp für Pferde fehlt mir jegliche Sicherheit und innere Ruhe, um richtig fest im Liegen schlafen zu können. Diese Ausbildungsstätte ist für mich ein regelrechtes Gefangenenlager.
Carlo war ein muskulöses Pferd mit ausdrucksstarkem Kopf, großen Augen und weiten Nüstern. Er war jetzt in Gedanken in einer ganz anderen Welt, und zwar auf dem Hof, auf dem er einst groß geworden ist. Wenn er seinen neuen Herren richtig verstand, sollte er hier für die nächste Zeit bleiben und als Turnier-, Show- oder Freizeitpferd ausgebildet werden. Ein Leben als Freizeitpferd konnte er sich vielleicht noch vorstellen. Aber ob das seine Zukunft sein würde, war ungewiss.
Vielleicht würde er eines Tages zu einem Zirkus kommen, mit der Aufgabe, die Menschen dort zu belustigen, sich hinzulegen, zu sitzen oder Männchen zu machen, wie es sein Herr gerade für richtig hielt. Das wollte er auf keinen Fall, denn er war Freiheit gewöhnt und hatte keine Lust, sich zum Affen zu machen. Schließlich war er ein sehr attraktives und intelligentes Pferd, und das machte ihn auch ein wenig stolz.
„Meine neuen Herren können mir nicht das Wasser reichen, schimpfte er innerlich weiter. „Wir Pferde sehen, riechen, hören, fühlen und schmecken viel intensiver als die Menschen. Damit hätten wir ein mindestens ebenso gutes Leben wie sie verdient. Aber sie machen uns einfach zu ihren Gefangenen. Die Menschen haben lediglich den einen Vorteil uns gegenüber, sie haben Hände, beherrschen das Schreiben und sie können mit ihren Händen auch noch viele andere Dinge tun, wie zum Beispiel Geld zählen und Geschäfte mit diesem verdammten Geld abwickeln – und sie können uns greifen. Schlauer als der Mensch sind allerdings wir Pferde. Wir haben ja auch einen größeren Kopf.
Carlo konnte sich nicht so recht an seine neue Umgebung gewöhnen. Er dachte, dass es auf der Welt ungerecht zugeht:
„Die Menschen machen einfach, was sie wollen, und nehmen dabei auf nichts Rücksicht, wenn es um ihren Wohlstand geht. Die Tiere und die gesamte Umwelt spielen für sie eine nachgeordnete Rolle. Ich als Pferd werde nicht gefragt, ob mir das gefällt, was die Menschen mit mir gerade vorhaben. Für sie bin ich eine Ware, aus der sie viel Geld herausschlagen können. Eine schöne Figur zu haben und dabei noch klug und schön zu sein, hat manchmal auch seine Nachteile. Die Arbeitspferde auf meinem ehemaligen Hof haben es zwar auch nicht leicht, aber zumindest führen sie ein geregeltes und sicheres Leben und werden immer gut versorgt."
*
Jetzt zu dieser Nachtzeit herrschte in dem großen Pferdestall gewöhnlich Ruhe, doch Carlo hörte nun auch dieses tiefe Brummen, das er selbst vor wenigen Momenten dem Wiehern erwiderte. Er ging zur Boxtür und schaute nach rechts den Gang entlang. Mona-Lisa hatte zwei Boxen weiter ihren Kopf auf die Brüstung der Tür gelegt. Sie schnaubte indessen leise Carlo zu, und er spürte ihre positiven Emotionen, wusste, dass nur glückliche Pferde so schnauben können. Und als der Ostfriese seinen Namen rufen hörte, spitzte er seine Ohren, die bis eben noch schlaff zur Seite hingen, und schaute zu Mona-Lisa rüber. Sie atmete ruhig und tief, ließ die Ohren zur Seite kippen und die Unterlippe locker nach unten hängen. Die Augen hatte sie halb geschlossen.
*
Mona-Lisa fand gleich bei ihrer Ankunft im Stall des Ausbildungscamps einen Verbündeten in Joseph, dem Stallburschen. Er baute sofort eine Beziehung zu ihr auf, indem er sie streichelte und mit ihr in Körpersprache kommunizierte. Die freundschaftliche Verbindung zwischen den beiden war perfekt, da Joseph schnell erkannte, was Mona-Lisa ausdrückte und was sie von ihm wollte, und er ging auf ihre Wünsche ein.
Joseph schlief auch in diesem Pferdestall, hatte sein Strohlager am Ende des Gebäudes. Er musste immer zur Stelle sein, wenn sich Außergewöhnliches im Stall ereignete. Dieses leise Rufen Mona-Lisas empfand er als außergewöhnlich, und die Stute wusste, dass Joseph sie verstand. Sie konnte Gedanken lesen, wie es alle Pferde konnten, und Joseph verstand die Pferdesprache. Sie nahm ihren Kopf von der Brüstung der Tür und flehmte