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Ganz miese Gesellschaft: Kriminalroman aus Münster
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eBook352 Seiten4 Stunden

Ganz miese Gesellschaft: Kriminalroman aus Münster

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Über dieses E-Book

Halali in Münster!!!

In der Davert, der Parklandschaft vor den Toren Münsters, leben Fuchs und Hase friedlich zusammen. Doch das Idyll ist trügerisch. Der Fund einer stark verstümmelten Leiche mit Bissspuren, die mutmaßlich von einem Grizzly stammen, alarmiert die Stadt. Noch nie wurden hier Bären gesichtet, und Grizzlys kennt man nur aus Nordamerika.

Der mysteriöse Tierangriff ist kein Fall für die Kripo und schon gar nicht für Exkommissar de Jong – bis sich herausstellt, dass der Tote schon tot war, bevor der Bär ihn gefressen hat. Von da an ist klar, dass es sich um einen Mord handelt.

Und noch jemand kommt auf mysteriöse Weise zu Tode, und dieses Mal ist de Jong sogar persönlich involviert: Das Opfer ist Aurora Trapp, eine investigative Journalistin und die beste Freundin von Giulia, de Jongs Ex. Hat ihr Tod etwas mit ihren Recherchen zu tun? De Jongs Ermittlungen führen ihn zu einem exklusiven Jagdclub, der sich »Gute Gesellschaft« nennt. Er stolpert von einer brenzligen Situation in die nächste und muss bald feststellen, dass hinter der malerischen Naturkulisse der Davert mehr als nur ein schreckliches Geheimnis lauert …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Sept. 2023
ISBN9783954416684
Ganz miese Gesellschaft: Kriminalroman aus Münster
Autor

Christoph Güsken

Christoph Güsken (*1958) studierte in Bonn und Münster und war Buchhändler in Köln. Seit 1995 lebt Güsken in Münster und lässt dort den schrägen Ex-Hauptkommissar Niklas de Jong bei seiner Suche nach dem Sinn des Ganzen ständig über die schlimmsten Verbrechen stolpern. »Ganz miese Gesellschaft« ist bereits der siebte Roman dieser Reihe. www.christoph-güsken.de

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    Buchvorschau

    Ganz miese Gesellschaft - Christoph Güsken

    1. Kapitel

    Niemals hätte Pfarrer Anselm Krull damit gerechnet, auf seinem alltäglich vertrauten Spaziergang dem Bösen in seiner realen Gestalt zu begegnen. Für ihn kam es völlig unerwartet, obwohl er in Gedanken gerade genau bei diesem Thema verweilte: dem Bösen in seiner realen Gestalt.

    Es war ein feuchter Frühlingsabend, Regen lag in der Luft, wenn auch kein Niederschlag. Ein lustloses Wetter, das man nicht hassen, aber auch nicht lieben konnte. Vielleicht ein schwacher Beitrag zur allseits gedrückten Stimmung, die – wenigstens für Katholiken – in der Karwoche schon durch den Glauben geboten war. Kein Wetter jedenfalls, um sich nach Sonnenuntergang draußen in den Wäldern südlich der Stadt herumzutreiben. Anselm Krull jedoch, Pfarrer der St.-Clemens-Gemeinde in Hiltrup-Amelsbüren, hatte keine andere Wahl. Denn morgen, am Karfreitag, der noch um so einiges düsterer werden würde als der heutige Gründonnerstag, würde er eine Andacht halten und anlässlich dieser Andacht eine Predigt. Und nichts eignete sich so gut, um seine Gedanken zu sammeln und sich für eine Predigt inspirieren zu lassen, als seine gewohnte Route durch die Davert.

    Sein Startpunkt war immer der Hiltruper See, ein friedliches Gewässer, vor langer Zeit entstanden durch den Sandabbau, später zum Badesee avanciert und heutiges Naturschutzgebiet, in den Abendstunden wie geschaffen als Ausgangspunkt für eine meditative Wanderung geistlicher Art. Außerdem konnte er dort auf dem Parkplatz seinen Renault Clio abstellen.

    Nach einer halben Umrundung des Sees verließ er die Hohe Ward, indem er die B 54 überquerte, um auf der anderen Seite, südlich vom Haus Heidhorn, in die finsteren Gefilde der Davert einzudringen. Jenes unwirtliche Waldgebiet, das noch bis ins vorletzte Jahrhundert gefürchtet gewesen war wegen der Hexen, Kobolde und anderer seltsamer Gestalten, die dort immer wieder gesichtet worden waren. Obwohl sich damals nur wenige Sterbliche in den mal moorigen, mal sandigen Wald hineintrauten. Pfarrer Krull jedoch liebte es, in diese Mythen einzutauchen, sie gaben ihm Stoff für seine Predigten und Meditationen, und oft ließ er sich dazu hinreißen, die sicheren Wege zu verlassen und querfeldein durch das Gehölz zu stapfen. An lauschigen Sommerabenden sehr gern, nicht jedoch heute, wo zwar kein Regen fiel, es aber allenthalben von den Blättern der Bäume tropfte.

    Der Geistliche sah der Dunkelheit dabei zu, wie sie sich mit einer bewundernswerten Behutsamkeit über die Landschaft herabsenkte. Er hob die Handflächen gen Himmel, vermeinte jetzt doch, Regen zu spüren, war sich aber nicht sicher. Dann zog er den Reißverschluss seiner neu erworbenen Regenjacke bis unter das Kinn und schritt weiter aus. Thema seiner Predigt: der Teufel. Den man auch den Leibhaftigen nannte. Das Böse in seiner realen Gestalt. Die gehörnte Bestie. Die natürlich nicht wirklich existierte, jedoch in ihrer sinnlichen, furchtbaren Erscheinungsform bis heute nicht aus dem christlichen Kosmos wegzudenken war. In all ihrer Dringlichkeit. Das mochten Mythen sein, aber solche, die für notorische Rationalisten durchaus eine Bewandtnis hatten. Eine Bedeutung. Gerade heute, in unserer rationalen Welt, die Daten und Fakten anbetete. Gerade hier, in diesem finsteren Wald, der in genau diesem Augenblick gar nicht mehr so finster war, weil die dichte Wolkendecke dort oben einen feinen Riss bekommen hatte, und den nutzte der Mond dazu, die Umgebung in fahles, unwirkliches Licht zu tauchen. Und ganz besonders heute, dachte der Pfarrer und hob den Finger, was er oft tat, wenn ihm etwas Wichtiges einfiel: Er musste nämlich an die Legende vom Ritter Meinhövel auf der Burg Davensberg denken. War der nicht am Ostersonntag auf die Jagd gegangen? Ein Frevel, den höchsten Feiertag nicht zu achten, weshalb der Ritter dazu verdammt worden war, in den Wäldern der Davert auf ewig sein Unwesen zu treiben und seine schreckliche, geifernde Meute auf einen Hirsch zu hetzen, den sie niemals ergreifen würde. Wieder und wieder, bis ans Ende aller Zeiten. Welch ein Gleichnis für Gier, für die Unersättlichkeit des Menschen, sein cor incorvatum, das auf sich selbst gekrümmte Herz, welches ihn dem Teufel – also den Mächten des Bösen – anheimfallen ließ! Die geifernde Meute als starkes Sinnbild für unsere dunklen, egoistischen Triebe, die in uns dräuen, schlimmer als die Erbsünde. Der Geifer. Das heisere Gebell. Welch ein eindrückliches Bild für das Böse.

    Und der Hirsch als Sinnbild für … den Gehörnten? – Nein, der Hirsch war doch nicht gehörnt. Krulls ausgestreckter Zeigefinger wanderte jetzt zu seiner Nasenspitze, wohin er immer wanderte, wenn ein Gedanke falsch war, aber dennoch wert zu bedenken. Keine Hörner, der Hirsch trug ein edles Geweih, stolz und als Zeichen seiner Männlichkeit. Demnach wäre er eben nicht der Gehörnte, sondern – der Geweihte? Welcher Geweihte und wem oder was geweiht? Egal, Hauptsache geweiht – theologisch war da immer was zu machen, davon war Krull überzeugt. Er würde mal in den Paulusbriefen nachsehen, da fand man immer etwas Brauchbares …

    Der Geistliche stoppte, weil er glaubte, etwas gehört zu haben. Ein Rascheln, direkt hinter ihm. Zu laut, um von einem Vogel zu stammen. Da stand er, mitten auf dem Weg, im blassen Mondlicht, und starrte in die Richtung, aus der er gekommen war. Hinter ihm lag der Weg, der sich im trüben Dämmerlicht verlor. Kein Rascheln mehr. Kein Geräusch.

    Aber dann, nach einer Weile, raschelte es wieder. Dazu kam eine Art – Grunzen! Ein verstörender Laut. Tierisch. Jedenfalls nicht menschlich. Und er kam nicht von hinten, sondern von dort drüben, aus dem dichten Waldstück, das er sich gerade anschickte zu durchqueren, um dahinter wieder auf die Bundesstraße zu stoßen.

    Anselm Krull hielt den Atem an.

    Es grunzte wieder. Und da war auch ein Schaben. Es grunzte immer noch, aber gleichzeitig schabte es. Und riss. Gleich da drüben in dem Dickicht. Vielleicht ein Fuchs. Nein, kein Fuchs, nie und nimmer! Es war etwas viel Größeres. Ein Wildschwein? Vor denen musste man sich in Acht nehmen. Auf der Hut sein. Stark im Glauben. Das hier war eben nicht der unheimliche Ritter von Davensberg und seine Meute, sondern ein Borstentier, das alles Recht hatte, hier zu sein und noch dazu Gottes Geschöpf war. Krull atmete durch und verschränkte die Hände wie zum Gebet. Oh nein, er würde nicht umkehren und sich in dem mittlerweile nachtschwarzen Wald verirren. Am besten legte er die wenigen Meter bis zur Bundesstraße zurück und machte einfach einen kleinen Bogen um das grunzende und schabende Gebüsch. Erneutes Rascheln, dann krachte es, ein seltsam widerwärtiges Geräusch, das ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Der Pfarrer zwang sich vorwärts. Zwei Schritte, vier …

    Und dann brach urplötzlich etwas krachend aus dem Gebüsch. Kein Wildschwein, sondern eine Bestie, riesengroß, ihre kleinen bösartigen Augen funkelten den Pfarrer wütend an, und sie hielt etwas in ihrem zähnebewehrten Maul, das Krull für einen großen Ast gehalten hätte, wenn da nicht etwas im Mondlicht aufgeblitzt hätte: Das war nämlich kein Ast, sondern ein Arm, der blutige Rest eines Arms, daran eine Hand und am Handgelenk eine Uhr mit einem silbern funkelnden Armband! Dort stand es vor ihm, ein menschenfressendes Ungeheuer, und es war nie und nimmer Gottes Geschöpf – sondern das Böse in seiner realen Gestalt! Der Leibhaftige!

    Des Pfarrers Herz raste, er hätte ein Stoßgebet gen Himmel gesandt, wenn ihn die Panik nicht im Griff gehabt hätte, dass es ihm schier die Luft abschnürte. Währenddessen die schreckliche Ausgeburt der Hölle schmatzte und knurrte, den Menschenarm im Maul. Und es kam näher, der Priester spürte, wie er erstarrte und, hilflos und unfähig, sich zu bewegen, seinem Schicksal entgegensah. Eine einzige, rettende Sekunde blieb ihm noch, in der er fähig war, sich zu regen.

    »Weiche, Satan!«, brüllte er das Biest an, versuchte es dann noch auf Latein, aber seine Stimme klang dünn und zittrig.

    Und dann rannte der Mann Gottes los. Nicht nur um seine Seele. Sondern um sein blankes Leben …

    2. Kapitel

    Für den Ostermontag war eigentlich Regen angesagt. Aber der blieb aus, die dunkle Wolkendecke zerfaserte an den Rändern wie eine alte, abgewetzte Wolldecke, und hier und da schaute die Sonne hervor, schüchtern noch, vielleicht sogar misstrauisch, jederzeit bereit, sich wieder zurückzuziehen und den Tag seinem trübseligen Schicksal zu überlassen. Erst als die Decke am späten Vormittag eindeutig in Fetzen hing, traute sie sich ganz heraus und schien entschlossen zu bleiben; sie strahlte über einem Tag, der trotzdem nichts Gemütliches an sich hatte. Ein allzu kalter Wind, der sich außerdem feucht anfühlte, verdarb einem die Feiertagsgemütlichkeit.

    Fairerweise war aber festzuhalten: Selbst wenn sie sich deutlich mehr angestrengt und es geschafft hätte, die Temperatur über die Zwanzig-Grad-Marke zu heben, selbst dann hätte die Sonne in Sachen Gemütlichkeit dieses Mal nicht viel erreicht. Was nicht ihre Schuld war. Denn was konnte sie dafür, dass diese für ihr adrettes und ordentlich aufgeräumtes Äußeres fast schon weltbekannte Stadt sich in einem Zustand befand, für den einige schon die Bezeichnung »bürgerkriegsartig« benutzt hatten. Wer wissen wollte, was damit gemeint war, brauchte nur einen tiefen Atemzug zu nehmen: Der Geruch von verbranntem Gummi und verschmortem Kunststoff verpestete die Luft; niemand konnte ihm entkommen.

    Schon wieder war ein Auto in Flammen aufgegangen, das dritte innerhalb kurzer Zeit. Eins hatte es im eingeschränkten Halteverbot vor dem Rathaus erwischt, am vergangenen Mittwoch, als Markttag war und wer weiß was hätte passieren können. Ein anderes hatte im Parkhaus Bahnhofstraße für einen Großeinsatz der Feuerwehr und weiträumige Absperrungen gesorgt. Schließlich letzte Nacht: Ein Osterfeuer der besonderen Art auf der Warendorfer Straße hatte nicht nur ein Fahrzeug dahingerafft, sondern noch dazu eine Wertstofftonne, eine Papiertonne und einen Restmüllbehälter, die direkt daneben abgestellt gewesen waren. Ja, die Münsteraner und ihre Liebe zur Mülltrennung!

    Die SoKo Autoterror, Pariser Banlieue-Verhältnisse befürchtend, ermittelte rund um die Uhr, konnte aber bisher noch keine brauchbaren Ergebnisse vorweisen. Nur, dass es eben nicht irgendwelche Autos erwischte, sondern ausschließlich Sport Utility Vehicles, von ihren Gegnern auch als Super Unnecessary Vehicles verunglimpft. Beide, sowohl stolze Besitzer als auch erbitterte Gegner, benutzten die Abkürzung. SUV. Dass die dran glauben mussten, war kein Zufall, wie die Täter in ihren Bekennerschreiben betonten. Und aufgrund dieser Schreiben wusste man auch, wer hinter den Anschlägen steckte – korrekt ausgedrückt: Man wusste, wer behauptete dahinterzustecken: eine mysteriöse Gruppe, die sich »Die fossilen Verbrenner« nannte und ihre Kampagne mit dem Schlachtruf »Nicht lange fackeln – abfackeln!« überschrieben hatte. Vollmundig forderten sie eine radikale Verkehrswende und für den Anfang ein SUV-Verbot für Innenstädte; das taten sie aber nicht im Netz, sondern auf altmodische Weise auf papiernen Flyern, die in diversen Kneipen und der Mensa herumlagen und von denen keiner wusste, wie sie dahin gekommen waren. Die lokale Politik verortete die Gruppe in der militanten Radfahrer-Szene und bezeichnete ihre Mitglieder als radelnde Taliban und E-Bike-Dschihadisten.

    Das Dumme war, dass niemand einen Schimmer hatte, wer diese Dschihadisten waren.

    Unbestätigten Gerüchten zufolge wurde im Rathaus mittlerweile über ein begrenztes Fahrverbot für SUVs nachgedacht – eine rein prophylaktische Maßnahme, die ausschließlich zum Schutz der Betroffenen gedacht war. Trotzdem war schon jetzt die Empörung darüber, dass man die Opfer bestrafte, weil man der Täter nicht habhaft werden konnte, groß und der öffentliche Frieden zum Zerreißen gespannt.

    »Ich bin sicher, der Kollege weiß schon, was er tut«, hatte Hauptkommissar Bühlow gemeint und damit von Hauptkommissar Merzenich gesprochen, der die Leitung der SoKo Autoterror übernommen hatte. Ex-Hauptkommissar de Jong dagegen war sich nicht sicher gewesen, ob der Rheinländer der Mann der Stunde war. Was dessen besondere Stärken anging, so fiel ihm vor allem der Frohsinn ein – eine klassisch rheinische Tugend, die ja eine gute Sache war und Merzenich zu einem patenten Kerl machte. Aber vielleicht nicht die allererste Empfehlung, wenn es darum ging, radelnden Taliban das Handwerk zu legen.

    »Der Punkt ist auch, dass sie noch gar nicht rausgekriegt haben, wie es passiert ist«, hatte Bühlow gesagt.

    »Du meinst, die Autos sind gar nicht abgefackelt worden?«

    »Doch, das schon. Aber nicht auf die klassische Art: Benzinkanister und brennendes Streichholz. Es sieht danach aus, dass die Brandsätze irgendwie ferngezündet worden sind. Genau. Wie genau, kriegen die schon noch raus.«

    Was nun den Ostermontag anging, so verbrachte Ex-Hauptkommissar Niklas de Jong ihn hauptsächlich dösend und in seine Winterjacke eingewickelt auf dem Achterdeck des Alten Mädchens, seines Hausbootes, das eigentlich kein Hausboot war, sondern ein alter, motorisierter Kahn, den irgendein Holländer vor Jahrzehnten zu einer Wohnlichkeit umgerüstet hatte. Besagter Holländer hatte dieses Projekt auf beeindruckende Weise gelöst, auch wenn seine Maßnahmen auf Schritt und Tritt bewiesen, dass er nicht der geborene Handwerker gewesen war. Ebenso wenig wie de Jong übrigens, dessen gelegentliche und meist halbherzige Renovierungsmaßnahmen sich darauf beschränkten, morsche Holzplanken in knalligen Farben zu überstreichen und Plastikschalen dort auf dem Boden zu platzieren, wo es durch die Decke tropfte. Und wenn schon, dachte er sich, schließlich konnte man ja auch nicht sagen, dass er der geborene Bulle gewesen sei. Insofern stimmte es, was ihm Giulia vor Jahren an den Kopf geworfen hatte: dass er nicht nur seinen Beruf, sondern auch sein Leben verfehlt habe.

    Erst neulich hatte er einen Film zum Thema verfehltes Leben gesehen. Über einen jungen Kerl, der die Liebe seines Lebens trifft, aber sich nicht mit ihr verabredet, weil er beim Basketballtraining nicht fehlen will. Der eine magische Moment ist verpasst, beide leben jahrzehntelang jeder für sich ein übliches, langweiliges Leben, bis sie einander eines Tages wieder über den Weg laufen. Und dieses Wiedertreffen lässt das Früher mit all seinen Verlockungen über den jetzt nicht mehr jungen Kerl hereinbrechen. Was damals alles möglich gewesen wäre, als die Zukunft noch vor ihnen lag wie ein weites, grünes Land. Hätte er damals bloß nicht gesagt, sorry, aber sein Basketballtraining gehe leider vor! Mithilfe eines magisch angehauchten Wissenschaftlers schafft er es dann, in die Vergangenheit zu reisen und die Chance, die er damals leichtfertig verstreichen ließ, wahrzunehmen. Dieses Mal schwänzt er das Training – und schlagartig ist alles anders. Wieder zurück in der Gegenwart, ist er mit seiner Traumfrau zusammen und blickt auf erfüllte Jahrzehnte zurück. Ja, im Grunde genommen sei es doch ganz leicht, aus einem verfehlten Leben noch ein gelungenes zu machen – so ungefähr lautete wohl die Botschaft des Films.

    »Ahoi, Skipper!«

    De Jong drehte den Kopf zur Seite, blinzelte in die tiefstehende Sonne und sah an der Anlegestelle einen Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken stehen und winken. Der Mann war von massiger Gestalt, stand mit hochgezogenen Schultern und leicht nach vorn gebeugtem Körper da. Sein Gesicht war von der Anstrengung tiefrot angelaufen – das konnte man gegen das Sonnenlicht natürlich nicht sehen, aber de Jong wusste, dass es so war. Der Mann war Eugen Küppers, zu de Jongs Kommissarszeiten lange Jahre Kollege und mittlerweile sein bester Freund.

    De Jong winkte vage zurück, wandte sich dann aber in Gedanken seinem bevorstehenden Trip nach Sizilien zu, in sein Häuschen in Monreale, oberhalb von Palermo. Nicht wirklich ein Urlaub, vielmehr eine gewagte Aktion, die nicht ohne Risiko war. Aber er war dazu entschlossen. Giulia, seine Ehemalige und vielleicht schon Zukünftige, würde da sein. Sie hatte sich dorthin zurückgezogen, nachdem sie mit Wolfram, ihrem Derzeitigen, Schluss gemacht hatte; jetzt plante sie, sich in der sizilianischen Abgeschiedenheit neu zu erfinden.

    Küppers war inzwischen an Bord gekommen, kämpfte sich umständlich aus den Gurten, an denen der Rucksack hing, und stellte das Ding mit einem Rums auf dem Boden ab. »Da wäre ich also«, stellte er fest.

    »Ja«, sagte de Jong. »Das sehe ich. Und weiter?«

    Küppers grinste seicht, mit einem irritierten Unterton, so wie man auf einen Witz reagiert, von dem man nicht recht weiß, ob er als solcher gemeint ist. »Ich wollte mich nur verabschieden. Tschüss sagen.«

    »Verabschieden? Wanderst du aus, oder was?«

    Eugen Küppers stapfte schnaufend über das Achterdeck, wo er sich einen freien Stuhl schnappte, den er neben de Jongs Liegestuhl schob. Er pflanzte sich darauf, wobei ihm ein genussvoller Seufzer und gleichzeitig auch ein Furz entfuhren. »Sag bloß, du hast das komplett vergessen.«

    »Nein, natürlich nicht«, sagte de Jong. »Willst du was trinken?«

    »Einen Kaffee, wenn du hast. Ich kann nicht lange bleiben, bin so gut wie auf dem Sprung in die weite Welt.«

    Während der Ex-Kommissar hinunter in die Küche ging und einen Kaffee organisierte, plauderte sein Gast drauflos von einer Pilgerfahrt, zu der er aufzubrechen gedenke. Küppers war nicht der Fitteste, aber heute sprühte er geradezu vor Tatendrang. Dieses Sprühen machte de Jong neidisch.

    »Schon mal was vom Bischofs-Steig gehört?«

    »Nee«, sagte der Ex-Kommissar.

    Vorwurfsvolles Kopfschütteln. »Solltest du aber. Von dem hab ich dir nämlich erzählt. Letzte Woche.«

    »Ach ja, stimmt. Deine Auszeit.«

    »Schön, dass du dich wenigstens daran erinnerst.«

    Wörtlich genommen hatte Giulia gar nicht erwähnt, dass sie sich trennen wollte; aber de Jongs Bauchgefühl zufolge war das auch überflüssig. Neulich erst war sie mit dem herausgerückt, was sie schon von Anfang an an Wolfram genervt habe: seine Unfähigkeit zu lachen. Die Welt, das Leben und die Dinge zu ernst zu nehmen. Keine große Sache eigentlich, sollte man meinen, aber so, wie sie es gesagt hatte, war ihm damals schon klar gewesen, dass die Tage dieses Mannes gezählt waren. Und daraus ergab sich seine Chance. Schließlich war es ihm nicht gegeben, in die Vergangenheit zu reisen und alles auf Anfang zu stellen.

    »… und von York geht’s dann wieder zurück. Aber erst nach zwei Tagen Aufenthalt. Zum Auftanken sozusagen. Na?«

    »Spannend«, sagte de Jong, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte. »Dann kannst du ja auch die Freiheitsstatue besichtigen, was? Und die berühmte Brooklyn-Bridge.«

    Hauptkommissar Küppers amüsierte sich; sein Lachen klang ein bisschen zurechtweisend. »Nee, die steht bekanntlich drüben in den Staaten, Niklas. Aber ich meine nicht New, sondern Old York. An der dortigen Domschule hat er im Jahre 767 nämlich studiert, und sein Lehrer war der weltberühmte Alkuin.«

    »Wer jetzt?«

    »Na, von wem rede ich denn die ganze Zeit? Der Heilige Liudger, der Münsters erster Bischof war. Deswegen heißt der Weg ja Bischofs-Steig.«

    »Ein Wanderweg?«

    Küppers schätzte es nicht, alles noch einmal erzählen zu müssen. Deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten die Arme vor der Brust verschränkt und gesagt: selbst schuld, wenn du nie zuhörst, wenn ich dir was erzähle. Aber lange vermochte er seinem Mitteilungsdrang nicht zu widerstehen, also hievte er seinen Wanderrucksack vom Boden auf den Tisch und zog eine Karte aus der Seitentasche. Entfaltete sie und breitete sie zwischen den Kaffeetassen aus. »Heute geht’s los«, sagte er und deutete auf eine rote Linie, die sich durch eine Landschaft im Maßstab eins zu zweihunderttausend schlängelte. »Das ist der Bischofs-Steig. Als Erstes geht’s hier über Deventer nach Utrecht, da ist der Heilige geboren. Dann mach ich mit dem Schiff einen Abstecher nach Helgoland und anschließend rüber nach Britannien. Hier liegt York. Und das ist der Rückweg: über viele Umwege nach Billerbeck und von da aus wieder nach Münster.«

    »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«, fragte de Jong ungläubig. »Billerbeck, mein ich. Wer pilgert denn dahin?« Als lohnte sich nur das Pilgern in Metropolen, die vor Sehenswürdigkeiten nur so strotzten.

    »Da ist der gute Mann verstorben«, erklärte sein Gegenüber. »In einer Nacht, als er aus Coesfeld kam, wo er gepredigt hatte. Und überhaupt gehen eine ganze Menge Wunder auf sein Konto.«

    »Ach was«, sagte de Jong. Von Heiligen verstand er nicht allzu viel.

    »Menschen, denen ihr Augenlicht wiedergegeben wurde. Heilung von Irrsinn. Beinkrankheiten. Aber hauptsächlich Augenlicht, da war er irgendwie drauf spezialisiert. Jedenfalls …«

    »Also, ich müsste jetzt leider los!«, unterbrach ihn der Ex-Kommissar, der befürchtete, in einen Vortrag über Heiligenkunde verwickelt zu werden, aus dem es kein Entrinnen gab.

    Sein Gast sah ihn fragend an. Er hatte seinen Kaffee noch nicht ausgetrunken.

    »Zur Probe«, fügte de Jong erklärend hinzu. »Mit deinem Neffen. Wir machen Musik.«

    Küppers stellte die Tasse ab und sah auf seine Uhr. »Stimmt, ich muss ja auch los. Richtung Holland. Übrigens, wenn was ist, dann kannst du mich auf dem Handy erreichen.«

    »Unterwegs auf der Pilgerreise?«

    »Klar. Meistens gibt es da irgendwo ein Netz, hab ich mir sagen lassen.« Küppers stand auf und hängte sich den Rucksack um. Bevor er von Bord ging, wandte er sich, diesmal verschlagen grinsend, de Jong zu und hob den rechten Zeigefinger: »Und immer daran denken: Die Sonne scheint nicht nur.«

    De Jong wusste nicht so recht, er warf einen unsicheren Blick in den Himmel, wo die Sonne genau das tat. »Nicht?«

    »Nein.«

    Der Ex-Kommissar sah das triumphale Grinsen in Küppers rotem Gesicht und wartete auf ein »sondern auch«. Was aber nicht kam.

    »Und?«, fragte de Jong.

    »Das war’s schon. Sie scheint nicht nur. Die Sonne ist echt.« Weiter unablässig grinsend, als hätte er mit dieser schlaffen Pointe ein Golden Goal erzielt, verließ Eugen Küppers das Alte Mädchen, mit dem Wanderrucksack auf dem Rücken, bereit, seine Auszeit zu beginnen. Er winkte zum Abschied, und de Jong winkte zurück.

    3. Kapitel

    Wie immer brauchte der Ex-Hauptkommissar eine Weile, bis ihm auffiel, dass Achim Bühlow gar nicht mehr mitspielte. Wenigstens drei bis vier Takte.

    »Was stimmt jetzt wieder nicht?«

    Bühlow zog die Stirn kraus. Er sah aus wie ein Vogel, obwohl man natürlich noch nie von einem Vogel gehört hatte, der in der Lage war, die Stirn krauszuziehen. Und trotzdem. Bühlow ähnelte einem besserwisserischen Vogel, und das war kein angenehmer Anblick. »Du hast schon wieder einen Major-Sieben-Akkord gespielt«, bemerkte er mit einem tadelnden Unterton, der gut zur krausen Stirn passte.

    »Genau das«, sagte de Jong mit einem Anflug von Stolz.

    »Der gehört da aber nicht hin. An diese Stelle gehört ein stinknormaler Siebener.«

    »Ach, Quatsch.«

    »Dann wirfst du vielleicht ausnahmsweise mal einen Blick in die Noten.«

    De Jong sparte sich das gern. Sobald es um Noten ging, hatte Bühlow meistens recht. »Also gut«, gab er nach. »Dann eben kein Major-Sieben.« Obwohl er diese Major-Akkorde liebend gern spielte, sie klangen so schön nachdenklich und versonnen. »Mir doch egal.« Ungeduldig strich er über die Seiten. »Können wir dann?«

    Das mit der Probe mochte eine Ausrede gewesen sein, um sich einen weitschweifigen hagiografischen Exkurs zu ersparen. Aber keine leere Ausrede. Die Probe fand nämlich tatsächlich statt. Im Partykeller, den Hauptkommissar Achim Bühlow selbst gestaltet hatte, kurz nachdem er und seine Kristin aus der halbdunklen Souterrain-Wohnung am Südpark in dieses kleine, aber feine Häuschen gezogen waren. Es gab eine aus Pressholz-Furnier gezimmerte Bar, eine Sitzecke aus muffigen Sesseln und direkt unter dem schlitzförmigen Kellerfenster eine Art Bühne mit einer aus Schreibtisch-Klemmlampen im Siebzigerjahre-Stil zusammengeschraubten Bühnenbeleuchtung. Deshalb konnte man den Raum auch als Probekeller nutzen. Montagabends brachte de Jong seine alte, eigensinnige Gitarre mit, und Bühlows E-Bass stand immer schon bereit.

    »Vielleicht sollten wir es mal mit einem anderen Song probieren«, überlegte der jüngere Kommissar.

    »Was ist an dem schlecht? Du wolltest doch unbedingt einen Beatles-Song.«

    De Jongs Gitarre quengelte zwei Akkorde, weil sie endlich weiterspielen wollte, aber Bühlows Bass stieg nicht ein.

    »Wenn er das doch wäre«, sagte der Hauptkommissar schließlich und sah noch einen ganzen Tick besserwisserischer aus.

    De Jong nahm sich vor, ihn darauf hinzuweisen, dass ihm diese besserwisserische Miene nicht stand. »Was soll das wieder heißen?«

    »Dass Till there was you weder von Lennon noch von McCartney ist.«

    »Na und? Ich hab zu Hause eine olle Single, da steht es Schwarz auf Weiß …«

    »Der Komponist heißt Meredith Wilson.«

    »Ach was.« De Jong fühlte sich überrumpelt, so wie eben bei der Sache mit Old und New York.

    »Der Titel stammt aus einem Broadway-Musical namens The Music Man«, verfiel Bühlow in einen dozierenden Ton. »Genau. Uraufführung 1957. Handelt von einem betrügerischen Musiker, der den Leuten einredet, sie müssten unbedingt eine Blaskapelle gründen, nur damit sie dann bei ihm die Instrumente kaufen. Er selbst hat mit Musik nicht das Geringste am Hut.«

    Der Blick, der de Jong traf, gefiel dem Ex-Kommissar nicht. Er schien anzudeuten, das Musical handele von ihm, de Jong, weil der mit Musik auch nicht gerade viel am Hut hatte. »Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen, was meinst du?«, schlug er deshalb vor, als Bühlows Bass endlich einen Ton hören ließ.

    Sie packten ihre Instrumente ein und ließen sich jeder auf einem der muffigen Sessel in der Sitzecke nieder. Bühlow stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch und eine Dose Erdnüsse in die Mitte. Und da lag noch eine Zeitung von heute, die sich de Jong schnappte. Auf der Titelseite sah man ein Flammeninferno mit dicken, schwarzen Lettern:

    ÖKOTERROR GEHT WEITER – POLIZEI ÜBERFORDERT?

    De Jong blätterte sofort weiter. Auf der zweiten Seite stieß er auf

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