Ick dank dir och schön!: Von einem unermüdlichen Kampf gegen himmelschreiende Ungerechtigkeit
Von Rita Feinkohl
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Über dieses E-Book
Dies ist meine Geschichte. Ich erzähle, wie mir mein geistig behinderter Onkel unverhofft über den Weg lief und ich ihn in einem zehrenden Kampf mit Behörden und Ämtern aus seiner desolaten Heimsituation befreite, um ihm fünfzehn letzte angenehme Jahre zu ermöglichen. Ein Zwist, der unsere Familie anging, aber vor allem mich selbst, eine Reise, die mich in die tiefsten Abgründe schauen ließ.
Eine Geschichte, von Furcht geprägt, von himmelschreiender Ungerechtigkeit – und dem nicht enden wollenden Glauben an das Gute.
Rita Feinkohl
Rita Feinkohl ist seit über 30 Jahren Unternehmerin und zertifizierte Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung. Mit »Ick dank dir och schön!« stellt sie ihre unglaubliche Geschichte zur Verfügung und macht Menschen in ähnlichen Lebenslagen Mut. Zudem gibt sie einen Einblick in die Wirksamkeit ihrer täglichen Arbeit und wie Rudi sie bis heute prägt. »Was ich mit Rudi erlebt habe, ergänzt die wissenschaftlich fundierten Methoden meiner Arbeit auf perfekte Weise. Mir gelingt es, durch Menschen ›hindurchzuschauen‹ und sie auf tiefer Ebene zu verstehen, sodass sie mit einem Problem zu mir kommen und nach wenigen Minuten die Erkenntnis erlangen, nach denen sie zuvor jahrelang gesucht haben.«
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Buchvorschau
Ick dank dir och schön! - Rita Feinkohl
Einführung
Ich bin Rita.
Oder Edith – je nach dem, wer mich gerade anspricht. Rudi konnte sich Rita nicht merken und sagte stattdessen Edith zu mir. Edith war also ›Rudisch‹ für Rita. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich lange blonde Haare, grazil gelockt, trug gern goldenen Schmuck und rote Fingernägel. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass mir das mit Rudi auf diese Weise widerfahren könnte. Mein Leben lief in geregelten Bahnen, ich führte eine erfolgreiche Agentur, zog eine Tochter groß und lebte friedlich in einem Haus in dem 5.000-Seelen-Dorf Horneburg. Ich weiß noch, wie ich den 80. Geburtstag meines Vaters besuchte und dort, unverhofft, einem älteren Herrn mit Schmolllippen, Knollnase und einer Kapitänsmütze auf dem Kopf in die Arme lief. Er wackelte auf mich zu und begrüßte mich: »Tach och! Ick bin der Rudi – freut mich och schön!«
Schnell erkannte ich: Rudi war anders, besonders, behindert. Und ich war mit ihm verwandt. Wenige Sekunden später wurde er mir offiziell vorgestellt: Rudi war mein Onkel, einer der Brüder meines Vaters, insgesamt waren sie 16 Kinder. Er hatte eine mittelgradige geistige Behinderung, Epilepsie und eine Defektschizophrenie, geistig auf dem Stand eines sechs- bis achtjährigen, per offiziellem Attest »alleine nicht lebens- und existenzfähig«.
Das aber nur auf dem Papier – im echten Leben hatte er ein großes Herz, war vorsichtig und feinfühlig. Ja – ich habe mich schockverliebt in ihn. Als ich im Laufe des Abends und in den darauffolgenden Wochen mehr über ihn und seinen Werdegang erfuhr und mir immer weiter die Kinnlade runterklappte, wusste ich: So konnte es nicht weitergehen, das durfte nicht wahr sein – ich werde nicht darüber hinwegsehen und damit eine Lüge zur Wahrheit machen.
Es begann eine lange, schwierige Zeit, die von Widerstand und Herausforderungen geprägt war, aber auch von unfassbarer Schönheit, weil wir von Rudi unendlich viel gelernt haben und ihn bis heute in unserem Herzen tragen. Es vergeht fast kein Tag, an dem ich nicht an ihn und unsere Zeit denke. Kein Wunder: Die Klinik, die Heime, die Behörden, Teile der eigenen Familie stellten sich uns in den Weg. Ich wollte nur eins: das Beste für Rudi, der unter den damaligen Verhältnissen keine Sekunde länger so weiterleben durfte. Als ich ihn kennenlernte, war er bereits weit über 60 – und ich wollte, dass sein weiteres Leben von Schönheit und Güte geprägt sein sollte, schließlich war er ein Familienmitglied.
In diesem Werk erzähle ich unsere Geschichte, die in dieser Form genauso einzigartig sein soll, wie Rudi es war. Sie ist lebensbejahend, authentisch, komisch und verrückt, aber auch voller Missstände, Falschbehandlung und Profitgier. Voller Überforderung und Verzweiflung, voller Unsicherheit und der ständigen Angst, dass von dem einen auf den anderen Tag alles anders aussehen kann.
Ich habe Freunde und Familienmitglieder unterwegs verloren, andere dazugewonnen. Am Ende war es eine Bereicherung – die sich in den einzelnen Etappen jedoch stellenweise wie Folter anfühlte.
Wir starten meine Erzählung in Rudis Heim. Man hatte ihn, nachdem er im Alter von acht Jahren aufgrund eines Bombenangriffs von einem Baum stürzte, in einer Nervenklinik in Berlin untergebracht. Sie war berüchtigt, umrankt von Anekdoten.
In unserer Schaustellerfamilie gab es wenig Budget, Zeit und Raum für jemanden mit einem solch hohen Betreuungsbedarf. In dieser Klinik verbrachte Rudi über 50 Jahre seines Lebens.
50 Jahre in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung, die ich noch genauer anleuchten sollte.
Beginnen wir jedoch mit …
… Erdbeerkuchen.
TEIL 1
UNTER DEM EINFLUSS ZUSTÄNDIGER VERANTWORTLICHER WAR DIE BETREUUNG NICHT NUR ›NICHT PASSEND‹, SONDERN FALSCH.
DAS WERDE ICH AUF EWIG IN ALLER DEUTLICHKEIT SO AUSSPRECHEN.
ICH WERDE KEINE LÜGE ZUR WAHRHEIT MACHEN.
Kapitel 1: Trautes Heim?
»Schmeckt’s?«
Rudi gluckste vergnügt. In der Cafeteria schien ihn jeder zu kennen. »Na, Rudi? Heut mit einer Dame unterwegs?«, fragte eine freundliche Bedienung und servierte Erdbeerkuchen mit Sahne. Es war Ende März des Jahres 2000. Meine Tochter Jasmin war gerade sieben Jahre alt und mit mir zu Besuch in Rudis Wohnstätte, einem Behindertenwohnheim im Norden Berlins. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, um die Welt kennenzulernen, die ihm in den letzten fünf Jahrzehnten aufgebaut wurde – und waren überwältigt von all den Eindrücken und Menschen, die uns zunickten oder skeptisch beäugten. Mitten im Leben – hallo, Rudi!
Um zu verstehen, was wir dort suchten, gehen wir in der Zeit zurück. Zwei Wochen genügen; am 9. März waren wir auf Vatis 80. Geburtstag eingeladen. Er feierte opulent und ließ auch seinen Bruder Rudolf einfliegen, gemeinsam mit einem seiner Betreuer und einer seiner Schwestern. Ich lief ihm unverhofft in die Arme und verliebte mich in ihn.
Er nannte mich Edith, warum auch immer, und seine Knollnase, seine Kapitänsmütze und seine Fliege hatten es mir angetan. Vor allem war es sein Blick, seine Warmherzigkeit und seine Sprache.
All das löste etwas in mir aus … bedingungslose Liebe vom ersten Moment an. Als mir mein Vater erklärte, dass Rudi einer seiner ›verlorengegangenen‹ Brüder sei, erinnerte ich mich blass … ja, da war was.
Ein behinderter Onkel. Jetzt, wo er vor mir stand, machte alles Sinn. Der war es! Mich packte das schlechte Gewissen, mich nicht schon früher nach ihm erkundigt zu haben. Aber jetzt war er da – und wir genossen das Fest in vollen Zügen, keine Zeit für Grübelei.
Beschwingt und glücklich vereinbarten wir ein baldiges Wiedersehen. Mir war klar, dass ich Rudi nicht einfach Good Bye hätte sagen können, zu sehr hatte ich ihn ins Herz geschlossen. Ich war fasziniert von ihm und gespannt, wie er sich in seinem Heim in Berlin eingerichtet hatte. Ich wusste nichts, weder über seine persönliche Biografie noch allgemein, wie man mit Behinderten umgehen sollte. In mir wechselten sich Neugier und das Verlangen ab, ein geöffnetes mysteriöses Kapitel noch ein wenig weiterlesen zu können …
♦
Zwei Wochen später stand ich mit Jasmin auf der Matte. Wir holten Rudi auf seiner Stube ab und gingen mit ihm in die Cafeteria, um uns bei einem Stück Kuchen zu akklimatisieren. Die ersten Minuten waren angespannt – jedenfalls für mich, alles war neu, die Umgebung, auch mit Rudi fremdelte ich, war es doch das erste Mal, dass ich einem geistig behinderten Menschen unbegleitet gegenüber saß. Die Angestellten begrüßten Rudi und tuschelten untereinander. Wer wohl die Frau und das Kind an seiner Seite war? Ich arrangierte mich mit der Situation. Die Bedienung erzählte, dass Rudi häufiger da sei, Kuchen essen und leere Pfandflaschen abgeben würde. Ich konnte das alles nicht einordnen und lächelte zurückhaltend.
Leere Pfandflaschen? »Ich bin seine Nichte«, stellte ich mich vor. »Ich besuche meinen Onkel heute zum ersten Mal. Schön habt ihr es hier – das Gelände ist riesig« – »Oh ja«, seufzte die Angestellte und räumte das Gedeck vom Tisch.
»Bloß nicht verlaufen! Aber Rudi kennt sich ja hier aus. Ick wünsch’ euch ein’ juten Nachmittag!« Ich mochte die Berliner Unverbindlichkeit. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu einem Rundgang über das Gelände. Rudi wollte uns seine kleine Welt zeigen.
Das Klinikgelände unterteilte sich in mehrere Bereiche. Neben einer geschlossenen Abteilung, in der er über 55 Jahre seines Lebens verbracht hatte, gab es einen Arbeitsbereich, in dem die Bewohner einer körperlichen Arbeit nachgehen konnten. Zudem war da eine Wohngruppe, in der auch Rudi untergebracht war. Sie wurde 1997 von einer Person gegründet, die im weiteren Verlauf dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird.
So viel Ungerechtigkeit … aber bevor ich mich in Rage schreibe, erzähle ich weiter, später mehr dazu. Rudi war damals der erste Bewohner dieser Gruppe und kam dort hinein, weil der Gründer vorher sein behandelnder Arzt war. Die Wohngruppe war das Aushängeschild eines neu gegründeten Vereins, und in der Folge werde ich Rudis Heim auch nur noch ›Verein‹ nennen; gemeint ist stets der Bereich des Klinikgeländes, in dem Rudi leben und wirken konnte.
Wir spazierten weiter. Es war ein sonniger Tag und trotzdem begegneten wir kaum Menschen. Das Gelände umfasste mehrere tausend Quadratmeter, und nur hin und wieder sahen wir andere Bewohner, ein irrer Kontrast. An einem Hof ›erklärte‹ uns Rudi mit leuchtenden Augen, dass er im Winter den Schnee geräumt hatte. Ich setze die Anführungszeichen, weil Rudis Kommunikation besonders und voller Überraschungen war.
Die meisten Worte artikulierte er undeutlich, viele Sätze blieben für mich komplette Rätsel. Früh sagte er zu mir: »Du bist mein Schwein!« – ein Kompliment und »Zeichen seiner Wertschätzung«, wie mich der Betreuer grinsend aufklärte. Rudis Sprache zu entschlüsseln wurde zu einem wiederkehrenden Leitmotiv.
Einen Menschen, der sich nur unverständlich ausdrücken konnte, verstehen, ihn durchleuchten, obwohl er über Jahrzehnte wie weggesperrt war – das prägt mein Denken bis heute, und ich werde im Laufe der Erzählung immer wieder darauf zurückkommen.
An seinem Arbeitsbereich angekommen, deutete er auf eine an der Wand stehende Schippe und erzählte, mit dieser geschlagen worden zu sein. Ich war verdutzt. Geschlagen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Mein Herz wollte Rudi blind vertrauen, doch mein Verstand mahnte zur Vorsicht.
Es sollte sich früh genug herausstellen, dass Rudi mit fast allem recht gehabt hatte, unter anderem, weil ich die Erzählungen Unbeteiligter sowie die Protokolle, die seinen Werdegang und seine Fortschritte dokumentierten, übereinanderlegte. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht – ich sah die Schippe und war perplex.
Es ging weiter, Rudi ließ nichts anbrennen. Er führte uns in ein größeres Gebäude mit kleinen Lädchen, in denen die Bewohner Kleidung kaufen konnten. Was mich zunächst entzückte, enttäuschte mich auf den zweiten Blick aufgrund der minderen Qualität. Aber nun gut – ich war eine Lernende und hatte all das nicht zu bewerten. Ich war froh, dass Rudi sich freute, uns seine Welt zeigen zu können. Er hatte tatsächlich sein eigenes Reich geschaffen – und Jasmin und ich watschelten nebenher und versuchten, uns darin zurechtzufinden.
♦
Wieder im Außenbereich sah ich, was es mit den Pfandflaschen auf sich hatte, und auch mit den Münzen, die verstreut auf den Gehwegen lagen: Passanten warfen von außen manchmal leere Flaschen über den Zaun. Eigentlich respektlos, aber für Rudi ein Grund zur Freude.
Er machte Limonade draus – sprichwörtlich gemeint. Er sammelte sie ein und tauschte sie in der Cafeteria gegen bares Geld, von dem er sich Kuchen oder Kakao leisten konnte. Clever – und beeindruckend. Derartigen Perspektivwechseln würde ich in den nächsten Monaten häufiger begegnen: aus dem Schlechten