Das Zeitreisehaus - Der doppelte Patrick
Von Marie Wollatz und Patricia Wagner
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Buchvorschau
Das Zeitreisehaus - Der doppelte Patrick - Marie Wollatz
Weimar, 03.07.1875
Heute war ein sehr verwirrender Tag für mich. Friedrich hat mich das erste Mal zu sich nach Hause eingeladen. Ich wusste, dass er aus einem betuchten Hause stammt. Die Familie Winter geht auch bei den von Goethes aus und ein und pflegt Kontakte bis in das Großherzogtum. Dennoch hat es mich sehr überrascht. Während Friedrich doch eher der leidenschaftliche Kommunist ist, der am liebsten das ganze System stürzen würde, ist seine Familie so ganz anders, vor allen Dingen seine Zwillingsschwester Anna. Sie spielt wahnsinnig gut Klavier. Wahnsinnig gut ist dabei wahrscheinlich noch stark untertrieben. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mich in ihr Klavierspiel verliebt. Und auch sonst, ist sie sehr elegant, wie aus einem alten Gemälde entsprungen. Sie ist so ganz anders, als die Mädchen hier im Jahr 1986 in Weimar. Ich sehne mich jetzt schon nach ihrer Eleganz. Sie wird wohl der Grund dafür sein, dass ich noch öfter in das Jahr 1875 reisen werde. Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Fehlende Seiten
«Was schreibt er da? Wie, sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf? Hatte Papa, bevor er Mama kennengelernt hatte, sich in diese Anna verliebt?»
Henry legte das Tagebuch, in dem sie gerade gelesen hatte, beiseite. Sie saß an ihrem Schreibtisch und war dabei, die Tagebücher aus dem Keller zu digitalisieren. Im letzten halben Jahr hatte Henry bereits zehn Tagebücher Seite für Seite in ihren PC übertragen. Die Tagebücher waren Aufzeichnungen von den Zeitreisen, die ihre Familie unternahm. Henry seufzte. Sie wusste noch nicht lang von den Zeitreisen der Familie Tempus, genau genommen erst seit dem letzten September, als sie hierher nach Weimar gezogen waren. Sie und ihr Bruder hatten am ersten Umzugstag im Keller des Hauses die Zeitmaschine entdeckt und ihr Vater hatte ihnen daraufhin das große Familiengeheimnis der Tempus eröffnet. Kurz darauf hatten sie als Familie ihre erste Zeitreise unternommen. Es ging ins Jahr 1965. Die Reise war so aufregend gewesen, dass sie seither keine Zeitsprünge mehr gemacht hatten. Ihr Vater meinte: «Wir müssen uns erst einmal in den neuen Alltag einfinden und uns in Weimar einleben.»
Henry stöhnte: «Was für eine mühselige Arbeit.»
Sie musste Wort für Wort abschreiben. Noch dazu war die Handschrift oft unleserlich und sie konnte manchmal nur aus dem Zusammenhang entnehmen, was die Wörter bedeuteten.
Dies hier war die letzte Seite eines Tagebuches aus einem Zeitsprung ihres Vaters ins Jahr 1875. «Das lässt mir keine Ruhe», sprach Henry zu sich selbst. «Irgendetwas stimmt an dieser Seite nicht.»
Aus den vorherigen Eintragungen wusste sie, dass ihr Vater sich in dieser Zeit mit einem Friedrich angefreundet hatte. Friedrich war Anhänger des Kommunismus und Henrys Vater Patrick Tempus hatte ihn auf einer Kundgebung kennengelernt. Sie waren viel zusammen unterwegs. Und nun dieser seltsame Eintrag. Henry übertrug den Tagebuchauszug in ihren PC. Doch was war das?
«Hier scheint jemand mehrere Seiten herausgerissen zu haben», murmelte Henry.
«Na Schwesterchen, in zwei Tagen haben wir Geburtstag. Bis du schon auf das historische Ereignis vorbereitet?»
Hannes, Henrys Zwillingsbruder, schneite in ihr Zimmer herein. Seine dunklen wuscheligen Haare standen nach allen Seiten ab. Henry schaute ihn erschrocken und überrascht an.
«Was, Schwesterchen, hast du etwa unseren Geburtstag vergessen? Den 12. April? Wichtigstes Datum nach Weihnachten?»
Henry rollte mit den Augen. «Ich glaube, es ist für dich das wichtigste Datum im Jahr.»
Ihr Bruder schaute sie mit seinen funkelnden braunen Augen an. «Was machst du hier? Sitzt du etwa schon wieder über den Tagebüchern? Du verpasst das ganze Frühlingswetter. Komm schon, es ist Freitagnachmittag und die Sonne scheint.»
Er riss ihr das Tagebuch aus der Hand und überflog den letzten Eintrag. «Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf? Hat das Papa etwa geschrieben?»
Henry nahm ihm das Tagebuch wieder aus der Hand. «Das versuche ich gerade herauszufinden.»
Sie überlegte kurz, dann setze sie fort: «Sieh mal, irgendwie scheinen hier Seiten zu fehlen.»
Sie zeigte Hannes die Stelle, an der man genau erkennen konnte, dass Seiten aus dem Tagebuch herausgerissen wurden. Hannes setzte sich auf Henrys Bett. «Vielleicht hat er auf die Seiten einen Liebesbrief geschrieben und deshalb die Seiten herausgerissen. Ich habe auch schon mal an Lilly… Ach, vergiss es.»
Damit beendete er seinen Satz. Henry wusste nichts von einer Lilly oder irgendeinem Mädchen, in das ihr Zwillingsbruder verliebt war. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Vielmehr interessierte sie, was es mit diesem Tagebucheintrag auf sich hatte und ob ihr Vater tatsächlich in diese Anna verliebt gewesen war.
«Schade, dass man die Seiten nicht wieder sichtbar machen kann», sagte sie gedankenverloren.
«Na ja, ganze Seiten vielleicht nicht, aber vielleicht gibt es noch Abdrücke auf der letzten Seite, sozusagen auf der Rückseite des Einbandes. Ich habe da mal ein Video eines YouTubers gesehen, der so seiner Schwester hinterherspioniert hatte … Lass mal sehen.»
«Na, hoffentlich spionierst du nicht auch mir hinterher», antwortete Henry schnippisch und gab ihm das Tagebuch.
Hannes ignorierte die Anmerkung seiner Schwester.
«Man muss nur mit einem Bleistift die letzte Seite ausschraffieren. Wenn die Wörter einen Abdruck hinterlassen haben, kann man sie so wieder lesen.»
«Oh ja», rief Henry begeistert. «Lass uns das mal probieren.»
«Henriette, dann brauchen wir noch einen Bleistift!»
Henry sah ihren Bruder böse an. «Nenn mich nicht so! Du weißt, ich mag das nicht! Ich bin Henry!»
«Henriette ist doch ein schöner Name. Paul aus der Klasse über uns, der mir meine Videos für meinen YouTubekanal schneidet, ist jedenfalls schwer begeistert von deinem Namen und möchte dich unbedingt kennenlernen. Er kommt zu unserer Party. Er kann es kaum erwarten.» Hannes zwinkerte seiner Schwester geheimnisvoll zu.
«Du hast was?», Henry kniff ihn in den Arm. «Ich weiß jetzt schon, dass ich keine Lust auf diese Party habe.»
Sie stand auf und holte einen Bleistift vom Schreibtisch. «Hier, und wag ja nicht, irgendeinem Paul etwas von mir zu erzählen. Ich bin Henry und nicht Henriette.»
«Klar, das werde ich ihm ausrichten», neckte Hannes seine Schwester.
Seit sie denken konnte, hasste Henry den Namen Henriette. Sie fand, Henry passte viel besser zu ihr. Henriette hörte sich immer danach an, als wäre sie ein Mädchen mit langen blonden Haaren, das ständig Kleider und Glitzer trug. Tatsächlich hatte Henry braune Haare und sie trug sie seit einem Vierteljahr raspelkurz. Und Kleider hasste Henry auch. Hosen waren ihr lieber. Da musste man nicht ständig aufpassen, wie man sich hinsetzt. Deshalb hatte sie irgendwann beschlossen, dass sie viel lieber Henry als Henriette genannt werden wollte.
Sie überreichte Hannes den Bleistift. «Hier, aber sei vorsichtig».
Hannes schraffierte vorsichtig den Einband aus. Henrys Herz pochte plötzlich vor Aufregung. Da wurden einzelne Buchstaben sichtbar und als Hannes die ganze Seite ausschraffiert hatte, konnte man ein paar Wörter lesen, aber leider nicht den ganzen Text.
«… Leben ohne Anna … endlich … liebe Anna … Friedrich weiß … er hat … politisch verfolgt … habe einen Plan … für immer zusammen … letzter Tagebucheintrag als Tempus … P.»
«Was?», Hannes schaute Henry verwirrt an. «Ich habe da so eine leise Ahnung», entgegnete Henry.
«Irgendwie habe ich die ganze Zeit so ein Gefühl. Weißt du, als wir im Sommer aus dem Jahr 1965 zurückgekommen sind, da fiel ein Foto aus dem Tagebuch. Auf diesem war Papa mit noch einer Frau und einem Mann zu sehen. Das Eigenartige daran war, dass über Papa der Name Friedrich stand und über dem fremden Mann der Name Patrick. Mama hat das Foto auch gesehen und gemeint, da hätte sich jemand mit der Beschriftung vertan. Dann hat sie das Foto mitgenommen und seither habe ich es nicht mehr gesehen. Aber wenn nun diese