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Bournville: Ein Roman in sieben Ereignissen
Bournville: Ein Roman in sieben Ereignissen
Bournville: Ein Roman in sieben Ereignissen
eBook478 Seiten6 Stunden

Bournville: Ein Roman in sieben Ereignissen

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Über dieses E-Book

Ein großes Familienepos, das Erinnerungen weckt und uns lachen lässt – humorvoll, melancholisch und berührend.

Die Krönung Elizabeths II., Wembley 1966, der "Schokoladenkrieg" zwischen England und der EU, James Bond und Prinzessin Diana, Brexit und Pandemie – das sind einige der Fixpunkte im langen Leben der Mary Lamb und ihrer weitverzweigten Familie. Mary ist Herz und Zentrum dieses Romans, als Tochter, Mutter und Großmutter. Das Beispiel von Marys Familie zeigt die Zerrissenheit Englands und gleichzeitig dessen Fähigkeit, in Krisensituationen zusammenzustehen. Nationalismus, latenter Rassismus, Tories oder Labour – die politischen Konflikte ziehen sich auch quer durch die Familie Lamb. Vielstimmig hören wir von Träumen, Enttäuschungen, aber auch vom Glück und der Liebe, die von Mary und den Ihren in der Kleinstadt Bournville gelebt werden.

Der neue Roman von Bestsellerautor Jonathan Coe
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum22. Aug. 2023
ISBN9783990371480
Bournville: Ein Roman in sieben Ereignissen
Autor

Jonathan Coe

Jonathan Coe (Birmingham, 1961) estudió en las universidades de Cambridge y Warwick. En Anagrama ha publicado las novelas ¡Menudo reparto! (Premio John Llewellyn Rhys y, en Francia, Premio al Mejor Libro Extranjero): «El horror y el humor van de la mano en esta novela, a la que habrá que recurrir en el futuro cuando uno quiera saber qué sucedió en la Inglaterra de los años ochenta» (Ramón de España); La casa del sueño (Premio Writers’ Guild of Great Britain Best Novel y, en Francia, Premio Médicis Extranjero): «Si se organizase un festival de escritores verdaderamente originales, habría que invitarlo a él» (Javier Aparicio Maydeu, El Periódico); El Club de los Canallas (Premio Arzobispo Juan de San Clemente y Premio Bollinger Everyman Wodehouse): «La más colorida de las novelas sobre los años más grises» (Rodrigo Fresán); El Círculo Cerrado: «Retrato perfecto de la Inglaterra de finales del siglo XX, lleno de sátira. Un libro altamente devorable» (Kiko Amat); La lluvia antes de caer: «Si buscan novelas que no se lean de un tirón y traten al lector con respeto, si les gusta desentrañarlas y demorarse en ellas, háganse con un ejemplar» (Manuel Rodríguez Rivero, El País); La espantosa intimidad de Maxwell Sim: «¡Genial!... Lo tiene todo. Buenísima, apasionante, divertida, cínica, tierna, única; el final es deslumbrante» (Javier Puebla, Cambio 16); Expo 58: «La novela que habría escrito Graham Greene si hubiera leído más de la cuenta a un Evelyn Waugh poderosamente nostálgico» (Laura Fernández, El Mundo); El número 11: «El mejor retrato imaginable de la Inglaterra actual» (David Morán, Rockdelux); y El corazón de Inglaterra: «La mejor novela para entender el divorcio entre el Reino Unido y Europa» (Juan Cruz, El País).

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    Buchvorschau

    Bournville - Jonathan Coe

    Prolog

    März 2020

    In der Ankunftshalle des Wiener Flughafens herrschte so wenig Betrieb, dass Lorna sie gleich erkannte, obwohl sie sich noch nie begegnet waren. Sie hatte kurzes braunes Haar, eine knabenhafte Figur und braune Augen, die aufleuchteten, als Lorna hinter ihrem riesigen Instrumentenkoffer hervorlugte und sagte:

    „Susanne, stimmt’s?"

    „Hallo, sagte Susanne, wobei sie das Wort mehr sang als sprach. Nach kurzem Zögern umarmte sie Lorna zur Begrüßung. „Das dürfen wir doch noch, oder?

    „Klar dürfen wir das."

    „Ich bin so froh, dass du endlich hier bist."

    „Ich auch", sagte Lorna automatisch. Aber es stimmte.

    „Wie war dein Flug?"

    „Gut. Ziemlich ruhig."

    „Ich bin mit dem Auto da. Mit plötzlicher Sorge musterte sie den glänzenden schwarzen Koffer, in dem sich Lornas Kontrabass befand, und sagte: „Hoffentlich ist es nicht zu klein.

    Draußen war es beinahe kalt genug für Schnee, und die Straßenlaternen warfen hier und da bernsteingelbe Koronen in die Nacht. Auf dem Weg zum Parkplatz erkundigte sich Susanne genauer nach dem Flug (wurde am Flughafen die Temperatur gemessen?), fragte Lorna, ob sie Hunger habe (hatte sie nicht), und erläuterte ihr kurz den Ablauf der nächsten Tage. Lorna und Mark würden im selben Hotel wohnen, aber er würde aus Edinburgh einfliegen und erst am nächsten Vormittag in Wien ankommen. Ihr Auftritt würde um 21 Uhr beginnen, und am Tag darauf würden sie mit dem Zug weiter nach München fahren.

    „Ich kann zu den Konzerten in Deutschland nicht mitkommen, sagte sie, „so leid es mir tut. Das Label hat einfach nicht die Mittel, um mir die Reise zu bezahlen. Wir machen alles auf Sparflamme. Deshalb wirst du auch mit diesem Auto abgeholt und nicht mit einer Stretchlimousine.

    Sie meinte ihren eigenen Wagen, einen zehn Jahre alten Volvo-Kombi, der mit Kratzern und Dellen übersät war und keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck auf Lorna machte.

    „Das müsste gehen", meinte Lorna, aber als sie das Wageninnere in Augenschein nahm, stieß sie auf ein unerwartetes Problem. Auf der Rückbank befand sich ein Kindersitz, umgeben von Dingen, wie sie nur jemand hinterlassen kann, für den Kinderbetreuung oberste Priorität besitzt – Feuchttücher, Keksreste, Plastikspielzeug, Schnuller –, aber noch beunruhigender war, dass jeder verbleibende Quadratzentimeter mit Toilettenpapier besetzt schien, das in Zehnerrollen verpackt war. Es waren bestimmt zwanzig Packungen.

    „Tut mir leid, sagte Susanne. „Lass mich einfach … also, mal schauen, was wir tun können.

    Sie versuchten zunächst, den Bass durch die Heckklappe ins Auto zu bekommen, aber er stieß sogleich auf eine massive Wand aus Klopapierrollen. Lorna nahm neun oder zehn Packungen heraus und legte sie auf den Asphalt, aber trotzdem konnten sie den Hals des Basses nicht durch die ganzen Packungen Toilettenpapier auf dem Rücksitz schieben. Also nahmen sie weitere Rollen vom Sitz und stapelten sie neben dem Auto und gemeinsam schafften sie es, den Bass tief ins Innere zu manövrieren, vorbei am Kindersitz, sodass sein Kopf fast gegen die Windschutzscheibe stieß und die Heckklappe gerade noch zuging. Der Versuch, sämtliche Klopapierrollen um ihn herum zu packen, scheiterte jedoch.

    „Vielleicht sollten wir das Instrument aus dem Koffer nehmen, sagte Susanne, „und den Koffer mit Klopapier füllen … Nein, ich glaube nicht, dass das funktioniert.

    Schließlich lösten sie das Problem, indem Lorna auf dem Beifahrersitz Platz nahm, ihre Wange gegen den Hals der Bassgeige gepresst, und Susanne acht oder neun Packungen Klopapier auf ihren Schoß lud, bis der Turm das Dach des Wagens berührte.

    „Ist das einigermaßen verkehrssicher?", fragte sie besorgt, als sie losfuhr und die fast leeren Straßen Richtung Stadtzentrum einschlug.

    „Klar, sagte Lorna. „Die sind wie ein Airbag. Wenn wir einen Unfall bauen, retten sie mir wahrscheinlich das Leben.

    „Es sieht nicht sonderlich bequem aus. Tut mir echt leid."

    „Kein Problem, das geht schon. Nach einer Pause sagte Lorna: „Also, die Frage drängt sich irgendwie auf … Wieso hast du so viel Klopapier gekauft?

    Susanne warf ihr einen erstaunten Blick zu, als läge die Antwort auf der Hand. „Ich hielt es einfach für ratsam, mich einzudecken. Gut, vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben, aber trotzdem … Man kann ja nicht vorsichtig genug sein, oder? Sie hielt an einer Ampel und fuhr weiter. Aber sie merkte, dass Lorna ihre Erklärung nicht wirklich verstand. „Wegen dem Virus, fügte sie hinzu, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

    „Glaubst du, dass es so ernst ist?"

    „Wer weiß! Aber ja, ich denke schon. Hast du die Berichte aus Wuhan gesehen? Und jetzt riegeln sie ganz Italien ab."

    „Ja, das habe ich gehört, sagte Lorna. „Aber so etwas werden sie hier doch nicht machen, oder? Ich meine, es besteht doch keine Gefahr, dass das Konzert morgen abgesagt wird?

    „Oh nein, das glaube ich nicht. Es ist bereits ausverkauft, weißt du. Es ist kein großer Saal – zweihundert Plätze oder so –, aber für ein Jazzkonzert ist das ziemlich gut. Und morgen früh will ein Journalist von so einer Website mit dir sprechen. Das Interesse ist also groß. Alles wird reibungslos ablaufen, keine Sorge."

    Lorna stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Das hier war eine große Sache für sie. Es war das erste Mal, dass sie und Mark außerhalb des Vereinigten Königreichs auftraten; das erste Mal, dass sie auf Tournee gingen; Lornas erster Verdienst mit Musik seit über einem Jahr. Im normalen Leben war sie eine von vier Frauen, die an der Rezeption eines fünfzehnstöckigen Bürogebäudes im Zentrum von Birmingham arbeiteten. Ihre Kolleginnen hatten eine vage Vorstellung davon, was sie in ihrer Freizeit machte, aber sie wären erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie weit sie es mit ihrer Musik gebracht hatte: dass man sie dafür bezahlte, dass sie nach Österreich und Deutschland reiste, dass man sie in Hotels unterbrachte, dass ein Journalist (großer Gott, sogar ein Journalist von einer Website) sie interviewen wollte. Lorna hatte sich seit Wochen auf die Tournee gefreut, auf sie hingelebt. Es würde ihr das Herz brechen, wenn dieses seltsame kleine Virus alle Pläne über den Haufen werfen würde.

    Susanne setzte sie im Hotel ab und versprach, am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück vorbeizukommen. Es war eine preiswerte Unterkunft, einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Zimmer waren winzig, aber Lorna war einfach nur froh, dort zu sein. Eine halbe Stunde oder länger lag sie auf dem Bett und dachte nach. Sie fragte sich, wer wohl auf die Idee gekommen war, ein derart kleines Zimmer mit Neonlicht auszustatten, das noch dazu nicht gedimmt werden konnte. Sie fragte sich, warum sie sich für ein Instrument entschieden hatte, das mehr Platz im Raum beanspruchte als sie selbst und das beinahe im Aufzug stecken geblieben wäre. Vor allem aber fragte sie sich, warum jemand auf die weltweite Ausbreitung eines Virus mit dem Kauf von zweihundert Rollen Klopapier reagierte. War das wirklich die größte Angst der Menschen: dass sie sich eines Tages aufgrund einer schrecklichen Wirtschaftskrise oder einer Krise des Gesundheitssystems oder einer drohenden Klimakatastrophe nicht mehr den Hintern wischen konnten?

    Sie schaute auf die Uhr. Halb zehn. Halb neun in Birmingham. Das war eine gute Zeit, um zu Hause anzurufen. Mit „zu Hause" meinte sie das Vereinigte Königreich, aber sie hatte nicht vor, ihren Mann Donny anzurufen, der jetzt sicher mit seinen Freunden unterwegs war. Sie wollte auch nicht ihre Eltern anrufen, die verreist waren und die zwangsweise Verlängerung ihres Urlaubs nutzten, nachdem Großbritannien schlussendlich aus der EU ausgetreten war und alle britischen Europaabgeordneten ihren Job verloren hatten. Nein, es war Gran, die bestimmt schon darauf wartete, von ihr zu hören. Lorna hatte versprochen, mit ihr zu skypen, sobald sie in Wien gelandet war. Gran, für die jeder Flug eine potenzielle Katastrophe war, ein Flugzeugabsturz, der nur darauf wartete, einzutreten, würde in einem Zustand verhaltener Unruhe zu Hause sitzen, bis Lorna anrief, um ihr mitzuteilen, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

    Sie setzte sich im Bett auf und öffnete ihren Laptop, ein billiges Gerät aus dem zwielichtigen Elektronikladen bei ihr um die Ecke, das ihr aber bislang gute Dienste geleistet hatte. Da es in ihrem Zimmer weder einen Schreibtisch noch einen anderen Tisch gab, legte sie ein Kissen auf den Schoß, stellte den Computer darauf und klickte auf den Skype-Nutzernamen ihrer Großmutter. Wie immer kam keine Antwort. Das war nie der Fall. Warum versuchte sie es immer wieder auf diese Weise? Man musste Gran erst auf dem Festnetz anrufen. Festnetz und Briefe: Moderneren Kommunikationsformen traute Gran nicht, aber sie hatte sich damit abgefunden, dass es sie gab. Seit sechs Jahren besaß sie ein Tablet – es war ein Geschenk zu ihrem achtzigsten Geburtstag gewesen –, aber sie wusste nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. Man musste sie auf dem Festnetz und gleichzeitig auf Skype anrufen und sie Schritt für Schritt durch den Vorgang führen. Das musste man jedes Mal tun.

    Als das Brimborium schließlich vorbei war, erschien auf Lornas Laptop das übliche Bild: die obere Hälfte von Grans Stirn.

    „Kannst du das Tablet in einem anderen Winkel halten?, fragte sie. „Kipp es zu dir runter.

    Das Bild schwankte heftig und kippte in die falsche Richtung. Jetzt sah sie nur noch Grans Haare, dauergewellt und blond gefärbt wie immer.

    „Ist das besser?"

    „Nicht so richtig."

    „Ich kann dich gut sehen."

    „Das liegt daran, dass ich die Kamera an der richtigen Stelle habe. Egal, Gran, das macht nichts."

    „Ich sehe dich."

    „Gut."

    „Wir können uns doch trotzdem unterhalten."

    „Yep, können wir."

    „Wo bist du?"

    „In meinem Hotelzimmer."

    „In Venedig?"

    „In Wien."

    „Ach ja, richtig. Es sieht sehr hübsch aus."

    „Ja, es ist ganz gemütlich."

    „Wie war dein Flug?"

    „Gut."

    „Keine Probleme?"

    „Nein, keine Probleme. Wie geht es dir, Gran?"

    „Mir geht’s gut. Ich habe gerade die Nachrichten gesehen."

    „Und?"

    „Es ist ein bisschen beunruhigend, um ehrlich zu sein. Alles dreht sich um dieses Virus."

    „Ich weiß. Hier reden sie auch darüber. Die Frau, die mich vom Flughafen abgeholt hat, hatte ungefähr zweihundert Klopapierrollen in ihrem Auto."

    „Zweihundert – was?"

    „Klopapierrollen."

    „Wie lächerlich."

    „Vielleicht solltest du auch ein paar besorgen."

    „Warum in aller Welt sollte ich das tun?"

    „Oder ein paar zusätzliche Dosen Bohnen oder Suppe."

    „Unsinn. Die Leute übertreiben manchmal. Wie auch immer, Jack kauft normalerweise für mich ein, oder Martin. Sie können mir alles besorgen, was ich brauche, es gibt keine Engpässe."

    „Vermutlich nicht. Es ist nur so, dass … Offenbar weiß niemand, was passieren wird."

    „Glaubst du, dass wir es hier kriegen? Das Virus."

    „In Italien haben sie es schon."

    „Das habe ich gesehen. Alle sollen zu Hause bleiben. Es wird wie die Pest werden, stimmt’s? Der Schwarze Tod und der ganze Kokolores."

    Lorna schmunzelte. Das war eins von Grans Lieblingswörtern. Sie verwendete es ständig, ohne dass es ihr bewusst war. Niemand außer ihr hätte den Schwarzen Tod als „Kokolores" bezeichnet.

    „Du sollst einfach nur auf dich aufpassen, mehr nicht, sagte Lorna. „Bleib zu Hause und sei vorsichtig.

    „Keine Sorge, sagte Gran. „Ich gehe nirgendwohin.

    *

    Den nächsten Vormittag verbrachte Lorna in einem Café in der Nähe des Hotels, wo sie frühstückte, ihr Interview gab und dann Susanne auf einen weiteren Kaffee traf. Das Interview war anstrengend: Sie hatte keinerlei Übung darin, mit Journalisten zu reden. Der Typ war ein fröhlicher Hipster Anfang dreißig, der perfekt Englisch sprach und anscheinend mehr an Boris Johnson und dem Brexit interessiert war als an Harmonien und Basslinien. Als es ihr schließlich gelang, das Gespräch auf ein anderes Thema – die Musik – zu lenken, redete sie hauptsächlich über die Mitglieder ihrer Familie: über ihren Onkel Peter, der im BBC Symphony Orchestra Geige spielte, und dann natürlich über Gran. „Ich glaube, meine Musikalität verdanke ich hauptsächlich meiner Großmutter, Mary Lamb, sagte sie. „Sie ist eine wunderbare Pianistin. Wahrscheinlich hätte sie sogar Konzertpianistin werden können. Aber stattdessen wurde sie Hausfrau und Mutter, und am Ende spielte sie einmal pro Woche ‚Jerusalem‘ beim örtlichen WI. Daraufhin brauchte sie eine Weile, um zu erklären, was das Women’s Institute war, und als sie damit fertig war, hatte sie das Gefühl, dass ihr ursprünglicher Punkt verloren gegangen war. Schade, dass Mark nicht dabei sein konnte, dachte sie. Er hatte viel mehr Erfahrung mit solchen Dingen und war immer so witzig und ungehobelt. Die Stimmung wäre viel lockerer gewesen.

    Doch Mark traf erst um 13.30 Uhr im Hotel ein, woraufhin er und Lorna sich sofort auf die Suche nach etwas zu essen machten. Die meisten Restaurants in diesem Bezirk waren charakterlose Fast-Food-Lokale. Sie gingen etwa zehn Minuten, bis sie etwas fanden, das eher traditionell aussah: ein düsteres Interieur mit flackernden Kerzen, schweren Eichentischen und Speisekarten ohne englische Übersetzung. Wochen später erinnerte sich Lorna daran, dass die Stimmung an diesem Tag in dem Restaurant und in der Stadt merkwürdig unruhig war: Eine gewisse Spannung lag in der Luft, als dämmerte den Menschen langsam, dass irgendeine Veränderung, ein unbekanntes, unmittelbar bevorstehendes Ereignis ihr tägliches Leben in einer Weise aus dem Gleichgewicht werfen würde, die sie noch nicht verstanden und auf die sie nicht vorbereitet waren. Die allgemeine Verunsicherung war schwer zu beschreiben, aber greifbar.

    Lorna bestellte einen Salat und ein Mineralwasser; Mark nahm ein Gulasch und zwei Bier. Seine Ernährung machte ihr Sorgen.

    „Schau nicht so missbilligend, sagte er. „Ich muss essen, um bei Kräften zu bleiben. Und in Schottland ist es kalt, weißt du. Man braucht eine Menge Speck am Leib, um dort zu überleben.

    Sie erzählte ihm von dem Interview. „Er wollte wissen, wie wir uns kennengelernt haben."

    Mark hielt inne, die Gabel auf halbem Weg zum Mund.

    „Ich weiß nicht mehr, wie wir uns kennengelernt haben", sagte er.

    „Natürlich weißt du das noch. Du bist zu uns ins College gekommen. Wir hatten alle Gelegenheit, mit dir Musik zu machen."

    „Ach ja, stimmt", sagte er, wobei sein Interesse eher dem aufgespießten Stück Fleisch auf seiner Gabel galt.

    „Ich war die Beste, sagte Lorna und wartete darauf, dass Mark bestätigend nickte. Tat er nicht. „Zumindest hast du gesagt, dass ich die Beste war.

    „Natürlich warst du die Beste", sagte er kauend.

    „Danach sind wir etwas trinken gegangen. Du hast mich gefragt, welches deiner Alben mir am besten gefällt, und ich habe gesagt, dass ich bis zu diesem Tag noch nie von dir gehört hatte."

    Daran erinnere ich mich. Ich war gleichermaßen entzückt über deine Offenheit und entsetzt über deine Unwissenheit."

    „Und dann haben wir einfach … losgelegt."

    „Losgelegt" hieß, dass sie in der darauffolgenden Woche ein paar Stunden zusammen in der Wohnung in Tufnell Park, in der Mark damals wohnte, gespielt hatten. Danach begannen sie, aus der Ferne Aufnahmen zu machen – Mark schickte ihr die Dateien aus seinem Heimstudio in Edinburgh, Lorna fügte die Bassstimme zu Hause hinzu. Auf diese Weise hatten sie viele Stunden Musik angesammelt, die schließlich zu einem siebzigminütigen Album für Marks österreichisches Plattenlabel destilliert wurden. Auf diese Weise hatten sie einen Stil entwickelt, bei dem die langsamen, atmosphärischen Drones, die Mark meditativ seiner Gitarre entlockte, durch Lornas Beiträge am Bass untermalt und bereichert wurden. Sie betrachtete ihr Instrument als melodisch und spielte oft mit dem Bogen. Dass sie innerhalb so kurzer Zeit von einer vielversprechenden Studentin zu einer Musikerin mit Plattenvertrag avanciert war, konnte sie kaum glauben, aber tatsächlich funktionierte die Zusammenarbeit – bei ihr und Mark hatte es von Anfang an klick gemacht –, und obwohl die britische Presse nicht interessiert war und sie nur mit Mühe Auftritte im eigenen Land bekamen, hatte sich ihr Album im restlichen Europa gut verkauft, und da waren sie nun, in Wien, der ersten Station einer sechstägigen Tournee, und gaben ihr Bestes, um die Essenz dieser Studioaufnahmen in einem Live-Setting wiederzugeben. An diesem Abend, als Mark zur Halbzeit ihres Programms eins seiner Solos spielte und Lorna vom Bühnenrand aus zusah, staunte sie wieder einmal darüber, wie dieser Mann – dieser übergewichtige, unflätige, nachlässig gekleidete, insgesamt recht schäbig aussehende Mann – wie ein Engel Musik machen konnte, wenn er wollte, wie er es schaffte, die Gitarre mit Fingern und Pedalen wie ein ganzes Orchester klingen zu lassen, wie er den Raum mit komplexen Harmonien und Obertönen und fragmentierten Melodielinien füllte, die das junge Publikum in eine Art ekstatische Trance versetzten.

    „Ein erbärmlicher Haufen von Wichsern war das heute Abend", sagte er zu Lorna, als sie anschließend zusammen beim Abendessen saßen.

    „Was redest du da? Sie waren begeistert."

    „Ich hatte nicht das Gefühl, viel von ihnen zurückzubekommen, sagte er. „Ich habe schon lebhaftere Leute in einem Leichenschauhaus gesehen.

    Susanne sah zerknirscht aus, als wäre sie persönlich für das Verhalten des Publikums verantwortlich, daher beeilte sich Lorna, sie zu beruhigen:

    „Hör nicht auf ihn. Es war ein tolles Publikum. Ein fantastischer Abend. Das ist seine Art, sich zu bedanken, ob du es glaubst oder nicht."

    Zum Essen hatte sich Ludwig, der Besitzer des Plattenlabels, zu ihnen gesellt. Er hatte sie in ein Lokal namens Café Engländer geführt, das allerdings nichts Englisches an sich hatte: Das Essen war österreichisch und wurde in großzügigen Portionen serviert, darunter ein Schnitzel, das über den Tellerrand hing und groß genug aussah, um selbst Marks Appetit zu stillen.

    „Seht euch das an!", sagte er mit leuchtenden Augen.

    Susanne und Ludwig strahlten, stolz darauf, dass ihre nationale Küche auf solche Begeisterung stieß. Nur Lorna, die wieder einen Salat bestellt hatte, blickte skeptisch drein.

    „Das ist ungefähr ein Dreiviertelkalb, flüsterte sie Mark zu, damit die anderen es nicht hören konnten. „Jemand wie du sollte so etwas nicht essen.

    „Jemand wie ich?, fragte er und nahm sich Kartoffelsalat. „Du meinst jemand, der so fett ist wie ich?

    „Das habe ich nicht gesagt. Ich würde dich nie fett nennen."

    „Gut, sagte Mark. „Ich bin nämlich nicht fett. Mein Arzt meint, ich sei krankhaft übergewichtig.

    Nach ihrem fast zweistündigen Auftritt hätten Mark und Lorna ein lockeres Gespräch bevorzugt, aber das war nicht Ludwigs Art. Er war Ende fünfzig, hatte gepflegtes graues Haar, einen sorgfältig gestutzten Bart, einen scharfen Verstand und eine elegante und präzise Ausdrucksweise. Kaum stand das Essen auf dem Tisch, kam er auf die britische Politik zu sprechen.

    „Wie Sie wissen, Mark, bin ich ein überzeugter Anglophiler. Ich kam 1977 zum ersten Mal nach London, in der Hochphase des Punk. Ich mochte die Musik nicht besonders, aber das Lebensgefühl war faszinierend für einen jungen Mann, der in Salzburg aufgewachsen war, einer ultrakonservativen Stadt ohne jede Gegenkultur, und wenn es sie gab, habe ich davon nichts mitbekommen. Ich weiß noch, dass die Briten in dem Jahr das Silberne Thronjubiläum der Queen feierten, und eine Zeit lang sang man entweder die Nationalhymne oder „God Save the Queen" von den Sex Pistols. Es war irgendwie bezeichnend für das Land, dass diese beiden Songs zur gleichen Zeit in aller Munde waren. Ich glaube, damals habe ich auch diesen James-Bond-Film gesehen, Der Spion, der mich liebte, und das Publikum jubelte, als sich sein Fallschirm öffnete und einen Union Jack enthüllte. Typisch britisch! Sie schmeicheln sich selbst und lachen gleichzeitig über sich selbst. Ich blieb drei Monate in London, und am Ende dieser Zeit war ich in alles verliebt, was ich dort fand: britische Musik, britische Literatur, britisches Fernsehen, britischen Humor – ich fing sogar an, das Essen zu mögen. Ich spürte, dass es dort eine Energie und einen Erfindungsreichtum wie sonst nirgendwo in Europa gab, noch dazu ohne Selbstgefälligkeit, mit dieser außergewöhnlichen Ironie, die den Briten so eigen ist. Und jetzt macht dieselbe Generation … was? Für den Brexit und für Boris Johnson stimmen! Was ist bloß mit ihnen geschehen?"

    Bevor Mark oder Lorna eine Antwort auf diese schwierige Frage geben konnten, fuhr er fort:

    „Das geht nicht nur mir so. Diese Frage stellen wir uns alle. Wir reden hier über ein kluges Land, ein Land, zu dem wir alle aufschauen konnten. Und jetzt habt ihr etwas getan, das euch, soweit sich das beurteilen lässt, schwächer und isolierter macht, und dennoch scheint ihr mit euch zufrieden zu sein. Und dann setzt ihr auch noch diesen Witzbold an die Spitze. Was ist bloß los mit euch?"

    Mark schaute zu Lorna und fragte: „Wo soll man da anfangen?"

    „Vermutlich sollte man damit anfangen, sagte sie, „dass London und England nicht dasselbe sind.

    „Stimmt, sagte Ludwig. „Das ist wahr.

    „Und England und der Rest des Vereinigten Königreichs sind auch nicht dasselbe, fügte Mark hinzu. „Ich bin nicht ohne Grund nach Edinburgh gezogen.

    „Das leuchtet mir auch ein. Aber trotzdem bist du im Herzen Engländer, oder?"

    „So würde ich mich nicht definieren. Es ist nicht meine Kernidentität."

    „Ich glaube nicht, sagte Lorna, ihre Worte sorgfältig wählend, „dass es so etwas wie einen typischen Engländer gibt.

    „Also, ich würde zu gern einen finden, sagte Ludwig. „Und dann würde ich ihm zwei Fragen stellen: Dieser neue Weg, den ihr in den letzten Jahren eingeschlagen habt – warum genau habt ihr ihn gewählt? Und warum habt ihr euch ausgerechnet diesen Mann ausgesucht, um ihn zu beschreiten?

    In diesem Moment summte Susannes Mobiltelefon. Sie tippte auf das Display, um die SMS zu lesen.

    „Wow, sagte sie. „Sieht so aus, als wärt ihr gerade noch rechtzeitig gekommen.

    „Was meinst du?"

    „Eine Nachricht vom Veranstalter. Auf Anweisung der Stadtverwaltung schließen sie ab morgen ihre Türen. Keine öffentlichen Veranstaltungen mehr. Keine Versammlungen mit mehr als fünfzig Personen."

    Die anderen nahmen diese Information zunächst schweigend auf. Die Stimmung war plötzlich düster.

    „Tja, das musste ja so kommen, sagte Ludwig. „Sie reden schon seit Tagen davon.

    „Wenigstens ist es kein totaler Lockdown, wie in Italien", sagte Susanne.

    „Das kommt bestimmt noch", versicherte Ludwig.

    „Wohin fahren wir morgen?, fragte Mark. „München?

    „Ich werde mich gleich morgen früh mit dem Veranstalter in Verbindung setzen, sagte Susanne, „und euch mitteilen, was sie sagen. Aber ich bin mir sicher, dass es kein Problem geben wird.

    Lorna aß von ihrem Salat und nahm ein paar Schlucke Weißwein. Er war süßer, als sie es gewohnt war, und ging runter wie Honig. Sie sah sich im Lokal um und dachte, was für ein schöner Moment das für sie war: so anders als ihr Leben in Handsworth, so anders als ihr Arbeitsalltag – eine Welt voller einladender Gesichter, gleichgesinnter Menschen, Freundlichkeit und Gemütlichkeit. Sie hoffte, dass ihr dieser Moment nicht entrissen würde, bevor sie Zeit hatte, ihn auszukosten.

    *

    Am nächsten Morgen brachte Susanne sie zum Westbahnhof, um sie pünktlich in den Acht-Uhr-Zug zu setzen. Inzwischen sah sie besorgt aus. Mark und Lorna hatten auf ihrer Tournee noch fünf Stationen vor sich: München, Hannover, Hamburg, Berlin und Leipzig. Es schien nun wahrscheinlich, dass zumindest ein paar dieser Auftritte abgesagt werden würden, obgleich jedes deutsche Bundesland diese Entscheidung unabhängig und nach eigenem Gutdünken traf.

    „Das Problem ist, wenn eins der Länder vorprescht, sehen sich die anderen gezwungen, zu folgen. Und ich werde nicht dort sein, um sicherzustellen, dass bei euch alles glatt läuft."

    „Wir kommen schon klar, sagte Mark. „Wenn sie dichtmachen, ziehen wir uns einfach warm an und spielen im Freien. Improvisieren. Mark Irwin und Lorna Simes unplugged.

    „Oh, das würde ich ungern verpassen!", sagte Susanne.

    „Wir nehmen es auf, und du kannst es als Live-Album rausbringen."

    Sie lächelte tapfer. Dann schickte sie sich an, Lorna zum Abschied zu umarmen, wie sie es keine sechsunddreißig Stunden zuvor am Flughafen zur Begrüßung getan hatte. Doch im letzten Moment überlegten es sich beide anders und machten stattdessen jene unbeholfene Geste, die inzwischen üblich war, und stießen kurz ihre Ellbogen gegeneinander, was sich wie ein schwacher Abklatsch einer normalen menschlichen Berührung anfühlte. Mark wollte davon nichts wissen. Er legte seine Arme um Susanne und drückte sie etwa zehn Sekunden lang gegen seinen weichen, vorstehenden Bauch.

    „Sorry, aber kein blödes Virus sollte uns davon abhalten, unsere Gefühle zu zeigen, sagte er. „Du warst großartig. Lade uns wieder ein, wenn du kannst, ja?

    „Unbedingt. Bald wird alles wieder normal sein und dann kommt ihr zurück."

    „Super."

    Er küsste sie auf die Stirn, und dann begannen er und Lorna mit dem mühsamen Verladen ihrer Sachen in den Zug.

    Es war eine vierstündige Reise, und Lorna genoss jede Minute davon. Die Spätwintersonne schien hell und die Landschaft verwandelte sich, während sie die Grenze von Österreich nach Deutschland überquerten. Wie eine Touristin machte sie Dutzende von Fotos von den schneebedeckten bayerischen Alpen und den Städtchen und Dörfern, die sich an die Berghänge schmiegten. Sie schickte ein paar Bilder an Donny und Gran, aber keiner von beiden antwortete. Auf dem Fensterplatz ihr gegenüber döste Mark vor sich hin, schnarchte gelegentlich und wachte dann mit einem Ruck auf. Lorna vermutete, dass er in der Nacht zuvor wenig geschlafen hatte. Er war nach dem Abendessen nicht mit ihr ins Hotel zurückgegangen, sondern hatte über eine Dating-App einen Typ gefunden und war zu einem Club gefahren, um ihn zu treffen. Sie fragte lieber nicht nach, was dann passiert war.

    Neben dem schlafenden Mark saß eine schlanke, gut gekleidete Frau, die in einer deutschen Ausgabe der Vogue blätterte. Lorna sah fasziniert zu, wie sie mit einiger Mühe die Seiten umblätterte, denn sie trug dünne beige Lederhandschuhe. Obwohl es im Abteil warm war und die Frau ihren Mantel und ihre Jacke ausgezogen hatte, behielt sie die Handschuhe während der gesamten Fahrt an.

    *

    Das Virus verfolgte sie weiter durch Deutschland. In München, Hannover, Hamburg und Berlin hatten sie noch Glück: Die Spielstätten blieben geöffnet, bis ihr Auftritt vorbei war, aber am darauffolgenden Tag schlossen nacheinander alle vier ihre Türen. Der Ablauf war jeden Abend derselbe: Soundcheck, gefolgt von einem Auftritt, gefolgt von einem raschen Abendessen mit den Veranstaltern. Bei diesen Mahlzeiten kamen sie stets auf das Virus zu sprechen, auf die Maßnahmen, die von den staatlichen Behörden angekündigt wurden, auf neue Begriffe wie „Social Distancing und „Herdenimmunität, die die Leute jetzt wie Experten gebrauchten, auf die Epidemie nervöser Witze über das Händewaschen und den Namaste-Gruß und das Vermeiden des Händeschüttelns, auf die beängstigenden Berichte über den Lockdown in Wuhan, auf Spekulationen darüber, wie Italien mit seinem Lockdown zurechtkommen würde und ob andere europäische Länder bald nachziehen würden. Diese Gespräche waren meist locker und unbeschwert, mit einem Unterton ungläubiger Besorgnis, einem Gefühl, dass die Dinge, über die sie sprachen, nicht wirklich geschehen konnten oder im Geschehen begriffen waren. Die Veranstalter hatten auch mit unmittelbaren, praktischen Sorgen zu kämpfen: wie lange diese Schließungen andauern würden, wie sie ihr Personal und die Miete bezahlen sollten, ob sie genügend Geld auf dem Konto hatten, um die bevorstehende Krise zu überstehen. Es waren beunruhigende Gespräche, wenn man darüber nachdachte, aber Wein und Essen, Lachen und menschliche Wärme machten sie nicht nur erträglich, sondern angenehm.

    Der Gig in Berlin war wahrscheinlich der beste von allen. Mark lief an diesem Abend zur Höchstform auf. Fast schien es, als wüsste er, dass dies ihr vorerst letzter Auftritt sein würde, und er nutzte die Gelegenheit, um noch einmal alles zu geben, verlor sich in der Musik, gab sich ihr völlig hin, mit einer Versunkenheit und Selbstvergessenheit, die Lorna nicht für möglich gehalten hätte. Sein Spiel war auch großzügig: großzügig ihr gegenüber. Als Bassistin hätte sie nur eine unterstützende Rolle spielen können, aber das ließ er nie zu, gab ihr immer das Gefühl, eine gleichberechtigte Partnerin zu sein. Aber an diesem Abend wusste sie, dass er auf einem anderen Level spielte und sie nicht in der Lage war, mit seinen gelassenen Improvisationen, seinem wunderbaren Flow mitzuhalten. Das war in Ordnung. Es war ein Privileg, an seiner Seite zu sein. Sie spielten an einem seltsamen Ort, dem Keller eines Plattenladens im ehemaligen Ostberlin, nicht weit vom Fernsehturm entfernt. Der Raum fasste höchstens siebzig Zuschauer und war zum Bersten voll. Hin und wieder ertappte sich Lorna dabei, wie sie in die dicht gedrängte Menge junger Berliner blickte und daran dachte, wie sie ein- und ausatmeten, sich gegenseitig berührten, die Stühle berührten und dann die Stühle berührten, die von anderen berührt worden waren, manchmal sogar husteten, und sie stellte sich vor, wie dieser winzige tödliche Organismus, der gerade erst in ihr Bewusstsein gedrungen war, von einer Person zur anderen sprang, von Wirt zu Wirt, auf der Suche nach seiner nächsten Bleibe, der nächsten Gelegenheit, sich zu vermehren und zu töten. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihre Konzentration schwand und sie Mark im Stich ließ, dass sie den Vertrauenspakt brach, der zwischen zwei Musikern auf der Bühne besteht. Rasch riss sie sich zusammen und versuchte, sich wieder auf ihr Spiel zu konzentrieren. Ein paar Mal kam es vor, dass sie und Mark gleichzeitig dasselbe Maß an Intensität erreichten, und dann, nur für wenige Sekunden, geschah etwas Magisches, und während dieser kostbaren Momente vergaßen sie und das Publikum alles um sich herum, die Zeit stand still, und so etwas wie Glückseligkeit erfüllte den Raum. Das waren die Momente, für die sie lebte, aber manchmal spielten sie ein komplettes Programm, ohne dass sich ein solcher Rausch einstellte. An diesem Abend in Berlin hatten sie Glück: Das Nirwana war zum Greifen nah, und als sie anschließend zum Essen gingen, waren sie noch immer in Hochstimmung.

    Doch als Mark und Lorna am nächsten Morgen in Leipzig eintrafen, wartete im Hotel eine Nachricht auf sie: Der Auftritt an diesem Abend, der letzte der Tournee, war abgesagt worden.

    Sie standen niedergeschlagen in der Lobby und fühlten sich fehl am Platz. Lorna klammerte sich an ihren riesigen glänzenden Instrumentenkoffer, dessen Größe noch absurder erschien als sonst.

    Sie riefen Susanne an, die ihr Mitgefühl bekundete. „Ich hab euch ja gesagt, dass das passieren würde", meinte sie. Sie bot ihnen an, einen Rückflug für denselben Tag zu buchen, aber sie wussten, dass dies zusätzliche Kosten verursachen würde, die sich die Plattenfirma nicht leisten konnte.

    „Nicht nötig, sagte Mark. „Wir werden einfach abhängen und morgen früh den Flug nehmen, den du für uns gebucht hast. Mach dir keine Sorgen um uns, wir kommen schon klar. Heute Nachmittag schauen wir uns eben die Stadt an.

    Lorna wusste, dass ihr nichts anderes übrigblieb als Sightseeing, aber ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Natürlich hatten sie unter den gegebenen Umständen Glück, sehr viel Glück gehabt – schließlich hatten sie die Tournee fast zu Ende gebracht und nur einen einzigen Auftritt verpasst; dennoch war die Enttäuschung groß. Sie ließ Mark seinen Spaziergang machen (wo auch immer er ihn hinführen würde) und blieb in ihrem Hotelzimmer, wo sie zwischen den Fernsehkanälen hin und her zappte, bis sie beschloss, ein letztes Mal Gran anzurufen. Die Nachrichten über das Virus waren inzwischen ziemlich besorgniserregend. Lorna bekam richtig Angst, den Leuten zu nahe zu kommen, ihre Hände zu schütteln, angeatmet zu werden, sich anzustecken. Was Gran betraf, so war sie sechsundachtzig, und obwohl sie (abgesehen von ihrem Aneurysma) fit und gesund war, würde sie eine Infektion wahrscheinlich nicht so leicht wegstecken. Sie schien neuerdings eine recht unbekümmerte Einstellung zu ihrer Gesundheit zu haben, und Lorna hielt es für angebracht, ihr klarzumachen, dass sie in den kommenden Wochen unbedingt vorsichtig sein musste.

    Diesmal ertönte der Skype-Ton nur drei oder vier Mal, bevor am anderen Ende eine Antwort kam. Und zur Abwechslung war es nicht die hohe, faltige Stirn von Gran, die zitternd auf dem Bildschirm erschien, sondern das Gesicht von Peter, dem jüngeren Bruder ihres Vaters – vollständig sichtbar und perfekt zentriert.

    „Oh, hallo, sagte sie. „Ich wusste nicht, dass du zu Besuch bist.

    „Ich habe mich erst heute Morgen dazu entschlossen", sagte er.

    „Bist du von Kew hochgefahren?"

    „Ja, ich bin vor einer Stunde angekommen."

    Onkel Peter lebte allein in einem kleinen Reihenhaus, etwa eine halbe Meile von Kew Gardens im Südwesten Londons entfernt. Es war eine zweistündige Fahrt zu seiner Mutter, aber er fuhr regelmäßig hin, alle zwei oder drei Wochen. Sie war seit mehr als sieben Jahren Witwe, und obwohl sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte, wusste er – genau wie Lorna –, dass es Phasen gab, in denen sie die Einsamkeit nur schwer ertragen konnte. Er hielt es für seine Pflicht, sie zu besuchen, wann immer er konnte.

    „Du möchtest bestimmt mit Gran sprechen, sagte er. „Ich hole sie.

    Lorna starrte auf den Schirm, der leer blieb, bis ein großer, stattlicher Kater, dessen Fell eine lebhafte Collage aus schwarzen und weißen Flecken war, auf der Bildfläche erschien und mit vorwurfsvollen grünen Augen in die Kamera blickte, bevor er sich umdrehte und ihr schamlos sein Hinterteil präsentierte. „Charlie, geh vom Tisch runter!", hörte sie Peter sagen, und eine Hand streckte sich aus, um das mauzende Geschöpf, Grans treuen Begleiter, sanft aus dem Blickfeld zu befördern. Danach füllten zwei Gesichter

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