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Tochtervatermann
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eBook376 Seiten4 Stunden

Tochtervatermann

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Über dieses E-Book

Was haben unter anderen ein verkrachter Jurist, ein Top-Journalist, ein promovierter Betriebswirt, ein Hotelier, ein Börsenmakler gemeinsam?
Sie sind Charaktere, die uns an teils tragischen, teils merkwürdigen oder verworrenen Gedanken teilhaben lassen.
Sie gestehen ihr privates oder berufliches Scheitern ein, ihr Versagen als Partner, Vater, Mensch. Indem sie ihre Lebensgeschichten vor uns ausbreiten, versuchen sie, sich von den Lasten auf ihren Seelen zu befreien, was nicht immer gelingt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum8. Nov. 2023
ISBN9783758380242
Tochtervatermann
Autor

Michael Marker

"Michael Marker" ist zugleich das Pseudonym des Autors und einer von mehreren von ihm geschaffenen Ich-Erzählern. Im Bergischen Land geboren und aufgewachsen absolvierte er nach dem Abitur ein Studium der Geschichte und der englischen Philologie. Nach ersten Versuchen zur Schulzeit erst spät zum Schreiben gekommen lebt er mit seiner Frau in deren Heimatstadt Mülheim/Ruhr. Familiäre Wurzeln hat er wie seine wichtigsten Ich-Erzähler in der Mark Brandenburg. Als seine eigene Heimat bezeichnet er meist die deutsche Kultur. Begriffe wie "mainstream" und "political correctness" sind ihm ein Gräuel. Von deren selbsternannten Gralshütern lässt er sich nicht Sprache, Denken und Verhalten vorschreiben oder seiner Phantasie Scheuklappen aufsetzen. Im Gegenteil hat er sich ein gewisses Faible für alles jenseits davon bewahrt oder erworben und pflegt in bescheidenem Rahmen seine "spleens". "Eine Meise braucht der Mensch; wer keine Macke hat ist nicht normal"(©).

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    Buchvorschau

    Tochtervatermann - Michael Marker

    Bisherige Veröffentlichungen des Autors:

    Inhalt

    Vorwort

    Das Schwein

    Tochtervatermann

    Liebes Not

    Schuldig

    Kirschenpflücker

    Urlaub

    Zum Autor

    Vorwort

    Alle Charaktere der in diesem Band enthaltenen Erzählungen entspringen ebenso wie die Handlungen selbst ausschließlich der Phantasie des Verfassers. Etwaige Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

    Oktober 2023

    Michael Marker

    Das Schwein

    Ich wollte ihn schon immer umbringen, solange ich zurückdenken kann. Angefangen hatte es schon in der Volksschule, als er und seine Kumpane in der Pause beim Murmelspielen uns erst die Glaskugeln klauten, später dann unter Androhung von Prügel immer die schönsten Stücke als Tribut einforderten.

    Wir wohnten damals in einer Neubausiedlung aus der Nachkriegszeit, er und seine Bande in einer Arbeitersiedlung aus den dreißiger Jahren. Schule, Sportplatz und Konsum bildeten so etwas wie eine Grenzlinie. Die Bewohner der alten Siedlung galten alle irgendwie als verrufen, brutal und waren dafür bekannt, dass sie es mit Mein und Dein nicht so genau nahmen. Asis eben. Man war froh, wenn man mit denen nichts zu tun hatte und ging ihnen möglichst aus dem Weg. Leider ließ sich das nicht immer vermeiden. Wenn ich mit den anderen Kindern aus unserem Viertel den angrenzenden Busch durchstreifte, konnte es schon einmal vorkommen, denen über den Weg zu laufen. Wir zogen es dann vor, uns zurückzuziehen. Der Klügere gibt eben nach.

    Seine Schikanen endeten für mich erst, als ich auf das Gymnasium wechselte. Ein paar Mal begegnete ich ihm nachmittags im Bus, wo ich einigermaßen sicher vor ihm war und vorsichtshalber stets an einer früheren Haltestelle ausstieg. Als er das spitz bekommen hatte, erwarteten mich beim Ausstieg seine Kumpane und nahmen mich in die Mangel. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er nach mir ebenfalls den Bus verlassen hatte.

    „Hältst dich wohl für besonders schlau, nur weil du aufs Gymnasium gehst. Das nützt dir auch nichts. Ich krieg dich immer, wenn ich will."

    Damals habe ich es ihm zum ersten Male gesagt: „Irgendwann bringe ich dich um."

    „Da habe ich jetzt aber mächtig Angst vor dir", lachte er mir ins Gesicht und verpasste mir einen Faustschlag.

    „Ihr habt es alle gehört und seid meine Zeugen. Er hat mich bedroht."

    Zu seinen speziellen Freundlichkeiten zählten auch, Luft aus dem Fahrrad abzulassen, ein Bein zu stellen oder zu schubsen, so dass ich im Dreck landete. An alles kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Dann habe ich längere Zeit nichts mehr von ihm gehört und gesehen und dachte, er habe vielleicht das Interesse daran verloren, andere Leute zu terrorisieren.

    Zu unserer Konfirmation, bei der er sich ausnahmsweise anständig aufführte, sprach unser Pfarrer davon, dass unser Herr Jesus Christus gerade auch die Sünder liebte.

    „Siehste, raunte er mir von hinten zu, „da ist es doch geradezu meine Verpflichtung, dir ab und zu eins in die Fresse zu hauen, damit du schön brav auch die andere Backe hinhalten kannst, du Opferlamm.

    Dass Reue und Buße vor der Vergebung kamen, schien bei ihm vom Konfirmandenunterricht nicht hängengeblieben zu sein.

    „Und denk immer schön dran, wenn ich dir dein Taschengeld abknöpfe, Geben ist seliger denn Nehmen. Sozusagen opfere ich mich für dich auf."

    Ich weiß noch, dass ich einmal mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft Hand in Hand auf dem Rückweg aus dem Freibad den Weg abkürzte und durch unseren Busch ging. Damals war ich vierzehn und hegte insgeheim den Wunsch, an einem lauschigen Plätzchen unsere Decken auszubreiten und ihr dabei vielleicht ein wenig näherzukommen.

    Plötzlich waren sie da. Ein paar von ihnen hielten mich fest, während er und sein Spezi mein Mädchen zwischen sich durch Stöße gegen den Oberkörper hin und her schubsten, bis er sich zum Abschluss fallen ließ und sie mit sich zu Boden riss.

    „Na, nicht so stürmisch, Schätzchen", sagte er und knutschte sie vor meinen Augen ab.

    „Das zahle ich dir heim!", schrie ich ihm nach, als sie uns schließlich gehen ließen.

    Aus dem Mädchen und mir ist übrigens nichts geworden.

    Einmal war ich mit einigen Jungs aus unserer Siedlung im Busch unterwegs, um Pfeile für unsere selbstgebauten Flitzebögen zu schneiden, als wir trotz aller Vorsicht unvermittelt überrascht wurden. Meine Kameraden suchten das Weite, nur mir gelang es nicht, weil ich kurz zuvor in ein Karnickelloch getreten war und mir den Fuß verknackst hatte. Als sie mich drohend umringten, zog ich mein Fahrtenmesser, das ich wegen des Pfeileschneidens mitführte, und stieß es ihm vor die Brust. War mein Stoß zu schwach, seine Kleidung zu dick oder hatte ich nur sein Brustbein getroffen? Jedenfalls blieb er unverletzt. Das Schicksal hatte mich davor bewahrt, zum Mörder zu werden.

    Er schaute mich nur mit großen Augen an und sagte voller Erstaunen zu seinen Genossen: „Der wollte mich erstechen. Habt ihr das gesehen?!"

    Dann ließen sie mich gehen.

    In der folgenden Zeit ließ er mich in Ruhe. Hatte mein verzweifelter Versuch einer Gegenwehr etwas bei ihm bewirkt, die Einsicht selbst einmal zum Opfer zu werden, wenn er so weitermachte? War er erwachsener und verständiger geworden? Vielleicht war er aber auch einfach zu sehr mit seiner Lehre beschäftigt, um weiterhin auf dumme Gedanken zu kommen.

    Ich traf ihn erst ein paar Jahre später wieder, als ich die Tanzschule besuchte und mich nebenbei in den Abiturvorbereitungen befand. Er schien sich gewandelt zu haben, benahm sich höflich und gesittet, wie es von uns in der Tanzstunde erwartet wurde. Nichts erinnerte mehr an den Halunken von früher. Bei den Mädchen hatte er einen Stein im Brett, weil er als einer der ersten mit einem eigenen Auto vorfuhr. Dass er dies mit seinem Lehrlingsgehalt wohl kaum finanzieren konnte, kam mir nicht in den Sinn.

    Damals hatte ich mich mit einer Mitschülerin mehr als angefreundet, die sich ebenso wie ich für die verschlungenen Pfade des Rechtswesens interessierte. Mehr noch, wir waren uns einig, nach dem Abi unseren gemeinsamen Lebensweg mit dem Studium in Münster zu beginnen. Von gemeinsamem Lernen versprachen wir uns Synergieeffekte, gemeinsame Wohnung und gemeinsames Wirtschaften sollten unsere Kosten senken, auch wenn sie dies nicht nötig hatte, da sie im Gegensatz zu mir aus einem so genannten guten Haus stammte. Ihre Eltern hatten dies vielleicht nicht freudig begrüßt, da ich in ihren Augen keine passende Partie war, aber die Entscheidung ihrer Tochter zumindest respektiert.

    Sie wohnte ein gutes Stück außerhalb in einem Vorort. Nach der Tanzstunde brachte ich sie gewöhnlich zunächst nach Hause, bevor ich mit dem Bus zurück zu meinen Eltern fuhr. Unterwegs schmiedeten wir fleißig an unseren Zukunftsplänen.

    An jenem Abend regnete es in Strömen. Wir warteten durchnässt und frierend an der Haltestelle auf den Bus. Er erbot sich, uns nachhause zu fahren.

    „Du bist mir doch nicht mehr böse wegen damals, oder?", fragte er.

    Mir war nicht sehr wohl bei diesem Gedanken, aber ich wollte nicht nachtragend oder gar ängstlich erscheinen. Von meinen Erfahrungen mit ihm hatte ich Greta nichts gesagt, weil ich vor ihr nicht als Verlierer dastehen wollte. Sie hielt ihn für einen alten Bekannten von mir und entschied sich, sein Angebot anzunehmen.

    Greta hätte sich zunächst bei uns zuhause aufwärmen können, bevor sie meine Eltern später heimgebracht hätten. Oder ich wäre mit zu ihr gegangen und dann von ihren Eltern nachhause gebracht worden. Außer seinem besten Freund saß noch ein weiteres Mädchen mit im Wagen, so dass sie keine Bedenken gehabt hatte, auf seinen Vorschlag einzugehen, erst mich abzusetzen und dann sie heimzubringen. So kämen wir beide früher ins Bett, hatte sie gesagt und mir dabei ins Ohr geflüstert: „Leider ins eigene." Ich solle schön von ihr träumen, sagte sie zum Abschied. Ich sah noch, wie er eine Thermosflasche hervorholte und ihr einen Becher mit heißem Tee anbot.

    Am nächsten Morgen ging Greta nicht wie gewohnt ans Telefon. Stattdessen erschienen am Nachmittag ihre Eltern bei uns und verboten mir in höchster Erregung jeglichen weiteren Umgang mit ihrer Tochter. Eine Erklärung dafür gaben sie nicht, betonten nur immer wieder, sie müssten ihr Kind vor so einem Subjekt wie mir schützen.

    Wenig später erhielt ich eine Vorladung von der Polizei, die mich zum Verlauf des fraglichen Abends einvernehmen wollte. Ich wunderte mich, dass man mir anheimstellte, mich anwaltlich beraten zu lassen oder von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Soweit juristisch vorgebildet war ich nicht nur durch diverse Krimiserien, dass es hier darum ging, eine Straftat aufzuklären, die man offenbar mir anlastete. Trotzdem beantwortete ich alle Fragen wahrheitsgemäß. Ich konnte mir auch nicht erklären, wieso Greta von Zeugen in der Nähe unserer Wohnung hilflos aufgefunden worden sei. Ganz gewiss hatte ich sie nicht unter Drogen gesetzt, um sie zu missbrauchen. Letzteres hatte ich nicht nötig, und von Drogen jeglicher Art hatte ich mich aus Überzeugung stets ferngehalten. Dumm war nur, dass Greta selbst sich an nichts erinnern konnte und die anderen meine Aussage nicht bestätigten. Im Gegenteil. Als man mir deren Einlassungen vorhielt, wusste ich, dass er mich wieder gelinkt hatte, dieses Schwein, dieses abgrundmiese Schwein.

    Im Prozess sagte Greta unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus, dass wir uns hinsichtlich unserer gemeinsamen Zukunft einig gewesen wären. Der Staatsanwalt drehte ihr das Wort im Mund um und folgerte daraus, ich hätte wohl nicht mehr so lange warten wollen. Für mich sprachen meine bisherige Unbescholtenheit und die Tatsache, dass mir auch nicht die geringste Beziehung zum Drogenmilieu vorgehalten werden konnte. Der Miesling von Staatsanwalt wertete auch das ab, indem er erklärte, wenn etwas nicht nachweisbar wäre, bedeutete das nicht, dass es nicht existierte. Gegen mich sprachen die übereinstimmenden Aussagen der beiden Spießgesellen, Greta und ich hätten uns gestritten gehabt und die Tatsache, dass ich diesem Verbrecher im Gerichtssaal entgegengeschrien hatte, ich würde ihn dafür umbringen, was er Greta angetan hätte.

    Mein Anwalt versuchte, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen zu wecken, indem er auf deren wenn auch länger zurückliegenden Lebenswandel verwies.

    Am Ende kam dann zwar ein Freispruch zweiter Klasse heraus, aber mein Ruf war trotzdem ruiniert. Semper aliquid haeret.

    Nur mit Ach und Krach kam ich noch durch das Abitur.

    Alle meine Träume waren geplatzt, alle Pläne nur noch Makulatur. Greta hatte ich verloren. Keine Wohnung, weil ich sie mir allein nicht leisten konnte, keine renommierte Uni, kein Studentenleben. Mir blieb nur die Einsamkeit dieser hässlichen Betonklotzanstalt. Planlos, lustlos, ziellos; so brachte ich Semester um Semester hinter mich und schaffte irgendwann im letzten Anlauf die Prüfung. Den Vorbereitungsdienst überstand ich nur mit Verlängerung und viel Wohlwollen. Das war es dann mit meiner Karriere. Von einer Anstellung in einer großen Kanzlei konnte ich nur träumen, erst recht von einem Job im Staatsdienst. Selbstständigkeit kam für mich sowieso nicht in Frage. Eine Zeit lang hielt ich mich mit Taxifahren über Wasser, bevor mir ein Fahrgast sagte, er suche für sein Notariat einen neuen Kanzleivorsteher. Seither bereitete ich Verträge vor, Kaufverträge, Erbverträge, Gesellschaftsverträge und was es eben alles so an Beurkundungen gab.

    Mein Chef machte die Kohle, ich die Arbeit. Ich vegetierte so vor mich hin. Weder Greta noch das Schwein oder seinen Kumpanen hatte ich je wieder gesehen. Ich ging jetzt stramm auf Mitte der Dreißiger zu und meine Lebensperspektiven waren ziemlich düster. Ich hatte einige kürzere Affären mit irgendwelchen Mäuschen von Renogehilfinnen anderer Kanzleien gehabt, aber auf Dauer reichte es mir nicht, eine Beziehung nur über Bett, Butterbrote und Ballermannurlaub zu definieren. Für die Frauen, die meinen kulturellen und intellektuellen Ansprüchen entsprachen, war ich einfach nur ein Versager, der ihnen nichts zu bieten hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sinnloser erschien mir mein Leben. Früher oder später würde ich mich wohl von dieser schnöden Welt verabschieden.

    `Die Insel fürs Leben´. Der Slogan passte so gar nicht zu meiner Stimmung. Der Werbeprospekt war mir eher zufällig in die Hände gefallen, als mein Chef mir die Kündigung angekündigt und mir anheimgestellt hatte, zunächst einmal unbezahlten Urlaub zu nehmen, bis über die Sache entschieden sei. Die Sache war der unbewiesene Vorwurf einer Kollegin, ich hätte meine Stellung in der Kanzlei dazu benutzt, einer Praktikantin ein spezielles Entgegenkommen abzunötigen. Natürlich war nichts dran an dieser Behauptung, aber ich konnte sie auch leider nicht entkräften, zumal das junge Ding gegenüber meinem Chef die Anschuldigung bestätigte.

    Zugegeben, sie sah ja ganz niedlich aus. Gewiss hätte ich sie auch nicht von der Bettkante geschubst, wenn die Umstände anders gewesen wären. Aber sie war nun einmal nicht mal halb so alt wie ich und vor allem stand sie als Auszubildende in einem Abhängigkeitsverhältnis zu mir als Kanzleivorsteher. Ich bin nicht so blöd, mich aus rein hormonellen Gründen auf einen Konflikt mit dem Strafgesetzbuch einzulassen. Außerdem hatte ich es mir zum Prinzip gemacht, nie etwas mit einer Mitarbeiterin anzufangen. Derlei ist immer schlecht für das Arbeitsklima. Nicht nur, weil sich andere zurückgesetzt fühlen könnten und hinter dem Rücken geredet wird, sondern weil bei einer etwaigen Trennung immer einer beruflich auf der Strecke bleibt. Ich hatte einfach keine Lust, wieder einmal der Verlierer zu sein.

    Die liebe Kollegin, die sich für meine Loyalität und Förderung dadurch bedankt hatte, dass sie mich in die Pfanne haute, übernahm zunächst kommissarisch die Büroleitung. Ich war mir sicher, dass sie die neue Position mit Zähnen und Klauen verteidigen würde.

    Bei der Verhandlung über meine Kündigungsschutzklage und den Versuch, wenigstens eine Abfindung zu erhalten, brachte der gegnerische Anwalt die Sache von damals so geschickt zur Sprache, dass man ihm keine Verleumdung nachweisen konnte, meine Glaubwürdigkeit aber zum Teufel war. Ich hatte keine Chance.

    Wenn Lügner sich zusammentun, erfinden sie die Wahrheit neu.

    Dass das kleine Luder die Nichte des Schwagers der Lügnerin war und die beiden sich abgesprochen hatten, erfuhr ich erst sehr viel später, als ich längst wieder einmal unschuldig auf der Strecke geblieben war.

    In völliger Ungewissheit, wie es weitergehen sollte und ob überhaupt, fuhr ich erst einmal für ein paar Wochen an die Nordsee. Keine Ahnung, ob und wie lange ich es in der platten Ödnis aushalten würde. Während ich mich die schier endlose Strecke beinahe ohne landschaftliche Abwechslungen durch das westliche Münsterland und das Emsland nordwärts quälte, dachte ich darüber nach, auf welche Art ich mich endgültig den Demütigungen und Niederlagen entziehen könnte, die meine verpfuschte Existenz von Anfang an begleitet hatten.

    Soeben hatte eine Tafel am Rande der Autobahn auf die KZ-Gedenkstätte Esterwegen hingewiesen. Auch ich empfand mich als ein `Moorsoldat´, hilflos der Willkür widriger Mächte ausgesetzt und zum Untergang verdammt. Vielleicht sollte ich mir einfach einen dicken Stein um den Hals binden und ins Moor gehen. Irgendwann würde sich dann vielleicht jemand gruseln, der meine Moorleiche entdeckte. Meine Geschichte könnte ich wasser- und moorsäuredicht verpackt mitnehmen und so wenigstens posthum die Wahrheit ans Licht bringen. Wann das geschehen würde, stand allerdings in den Sternen. Natürlich hätte ich dann nichts mehr von meiner erhofften Rehabilitierung, und ob der bloße Gedanke an eine eventuelle späte Gerechtigkeit mir das elende Ersaufen im Moor erleichtern würde, war zweifelhaft. Möglicherweise war das doch keine so gute Idee. Bei meinem Glück würde sicherlich bis dahin der Torfabbau komplett eingestellt werden und ich somit auf ewig unentdeckt bleiben.

    Sein Anblick riss mich blitzartig aus meinen trüben Gedanken. Er war es. Er musste es einfach sein. Schon der überdimensionierte amerikanische Pick-Up war mir aufgefallen. Der Parkplatzverwalter hatte ihm einen Platz ganz vorn zugewiesen, der eigentlich nur Kranken vorbehalten war. Ich selbst wurde ans andere Ende etwa zweihundert Meter entfernt geschickt und durfte mich bei sengender Hitze mit meinen Koffern zur Abfertigung quälen. Er hingegen hatte seinen Handlanger schon vorher mit dem Gepäck abgesetzt und schlenderte nun munter pfeifend der Fähre entgegen. Als einer der letzten erreichte ich das schwankende Gefährt und musste mich mit einem Platz im stickigen Unterdeck begnügen, während er sich wohl auf dem Oberdeck räkelte, sich den Wind um die Nase wehen und von seinem Spießgesellen mit Getränken versorgen ließ.

    Ein Verbrecher wie er fährt nicht einfach so mit einem anderen Gangster in Urlaub, schon gar nicht auf eine ostfriesische Insel, wo sich Fuchs und Hase nur deshalb nicht gute Nacht sagen, weil es dort gar keine Füchse gibt. Irgendetwas führte er im Schilde. Ich beschloss, sehr vorsichtig zu sein, damit er mir bloß nicht wieder etwas in die Schuhe schieben könnte.

    Es war nicht schwierig herauszufinden, wo die beiden abgestiegen waren. Ich mietete mir gleich am Bahnhof ein Rad und folgte ihnen bis zu ihrem Haus, bevor ich mein Zimmer in der Pension aufsuchte, wo mich bereits meine vom Gepäckdienst gelieferten Koffer erwarteten.

    Anstatt mich zu erholen, einfach auf andere Gedanken zu kommen, war der größte Teil meiner Zeit damit ausgefüllt, ihn und den anderen Halunken zu beobachten, um herauszufinden, was sie wohl im Schilde führten, damit ich mich dagegen wappnen könnte.

    Indes gelangte ich auch nach mehr als einer Woche intensiver Beobachtungen zu keinerlei Erkenntnissen über das Treiben der beiden. Sie fuhren mit ihren Rädern umher, erklommen die drei höchsten Stellen der Insel und schauten von dort auf das Meer hinaus. Zwischendurch begaben sie sich in den Hafen und unternahmen Bootstouren, sofern es die Gezeiten zuließen, denn der private Teil des Hafens ist im Gegensatz zum Fährhafen tideabhängig. Kurzum, es war nichts besonders Auffälliges an ihrem Verhalten zu erkennen. Aber gerade das beunruhigte mich umso mehr.

    Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er keine kriminellen Absichten hegte. Was immer es auch sein mochte, um mich zu schützen blieb mir nur, ihm zuvorzukommen und ihn ein für alle Mal auszuschalten. Aber wie?

    Eigentlich bin ich ja ein überaus friedliebender Mensch. Sie wissen ja, selig sind die Sanftmütigen und so. Aber selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, solange es solchen Abschaum gibt, und deshalb brauchte ich jetzt unbedingt einen Mordplan.

    Worauf kommt es also an, wenn man jemanden um die Ecke bringen will? Zunächst einmal darf man am Ort des Geschehens keine Spuren hinterlassen. Ich kaufte mir daher Einmalhandschuhe und Überschuhe sowie eine Duschhaube, um keine Haare zu hinterlassen. Den Krempel könnte ich später irgendwo entsorgen. Gleichermaßen wollte ich mit einer billigen Jeans und einer einfachen Regenjacke verfahren. Wichtig ist es außerdem, den Kadaver möglichst lange verborgen zu halten, was eine Identifizierung erschweren und etwaige Versäumnisse bei der Spurenvermeidung kompensieren könnte. Im Idealfalle würde man die Überreste erst am Sankt-Nimmerleins-Tag entdecken und keine Rückschlüsse mehr daraus ziehen können. Meinetwegen sollten sie ihn doch auf dem Friedhof der Namenlosen gleich um die Ecke vom Lale-Andersen-Haus verscharren. An Verstecken, die mir einen möglichst großen zeitlichen Vorsprung verschaffen würden, kamen verschiedene in Betracht. Vor allem hatte ich mehrere Sielgräben im Kopf, was den Vorteil mit sich brächte, dass im Wasser etwaige Spuren vernichtet werden könnten. In Frage wären auch einige Stellen im Naturschutzgebiet gekommen, die eine Entdeckung auf absehbare Zeit unwahrscheinlich erscheinen ließen.

    Alle Ablageorte hatten allerdings eines gemeinsam: Sie bedingten die Vorhaltung entsprechender Transportkapazitäten, etwa in Gestalt eines Bollerwagens oder Fahrradanhängers, an denen vielleicht Spuren zurückbleiben könnten. Auch könnte sich ein Vermieter vielleicht erinnern, wem er die Karre überlassen hatte.

    Zeit und Ort, möglichst nachts und abgelegen, waren ebenfalls wohl abzuwägen, zumal sich bei der Vermeidung frühzeitiger Entdeckung oder gar Identifizierung potentielle Zeugen überaus störend auswirken können. Und dann kam es natürlich auch noch auf ein passendes Werkzeug an. Abgesehen von der Ermangelung dafür erforderlicher körperlicher Kräfte, würde er sich wohl kaum freiwillig von mir hinterrücks den Hals umdrehen lassen. Mit dem Messer war es mir ja schon in meiner Jugend nicht gelungen, ihn zur Hölle zu schicken, und ein Schießinstrument, mit Schalldämpfer zur Vermeidung unliebsamer Aufmerksamkeit, gehörte leider nicht zu meinem Urlaubsgepäck. Ich würde also wohl gezwungen sein, ihm irgendwie den Schädel einzuschlagen, wobei es eines gewissen Überraschungsmomentes bedurfte, da er mich wohl kaum mit einem Beil in der Hand nahe genug an sich heranlassen würde.

    Schließlich müsste ich dann auch noch die Gelegenheit abwarten, zu der alle wohlbedachten Faktoren optimal zueinander passten.

    Es ist gar nicht so einfach, jemanden um die Ecke zu bringen, wenn man dafür nicht belangt werden will.

    Während ich solchermaßen grübelte, diverse Pläne machte und wieder verwarf, wurde ich mehr und mehr von Zweifeln geplagt.

    Nein, nicht an der Tat als solcher. Einem Verbrecher das Licht auszuknipsen ist ja an sich eine sehr moralische Angelegenheit. Ich berufe mich in dieser Hinsicht auf den berühmten englischen Schriftsteller Graham Greene und seine Romane `Der stille Amerikaner´ und `Der dritte Mann´, in denen die Protagonisten ja auch ihre persönliche Rache mit dem Wohl der Allgemeinheit verknüpfen.

    Leider hat dieser Gedanke bisher nicht Eingang in die Rechtsprechung gefunden.

    Ich hegte vielmehr Bedenken, ob es mir tatsächlich gelingen würde, unentdeckt und folglich unbehelligt zu bleiben, denn ehrlich gesagt, war er es mir nicht wert, seinetwegen mindestens fünfzehn Jahre lang gesiebte Luft zu atmen, nur noch Schwerverbrecher als Gesellschaft zu haben und danach für den Rest meiner Tage auf Kosten des Sozialamtes in einem Wohn-Schlaf-Klo vor mich hinzuvegetieren.

    Sollte ich also die Angelegenheit einstweilen vertagen oder gänzlich davon Abstand nehmen?

    Erst einmal musste ich ihn weiter beobachten, um nicht unangenehm überrascht zu werden. Man konnte ja nie wissen, was er sich so alles einfallen lassen würde.

    Es war die Zeit, zu der sie meistens von ihren Bootsausflügen zurückgekommen waren. Als ich im Hafen ankam, sah ich gerade noch, wie er auf dem Rad davonfuhr. Vielleicht waren sie ja diesmal früher zurückgekehrt oder sein Kumpan war bereits vorausgefahren. Ich wollte mir dies zu Nutze machen und sehen, ob ich auf dem Boot etwas entdecken könnte.

    Ich wartete, bis es zu dämmern begann. Im Hafen war nichts mehr los. Das Café hatte schon lange geschlossen. In der anderen Gaststätte war kaum noch Betrieb. Insgesamt konnte ich damit rechnen, dass ich beim Betreten der verzweigten Steganlage niemandem sonderlich auffallen würde.

    Das Boot und seinen Liegeplatz hatte ich dank meines mitgeführten Feldstechers mühelos ausfindig gemacht und konnte so schnurstracks meinem Ziel entgegenstreben, als gehörte es zu meiner täglichen Routine, mich auf den schwankenden Gitterrosten zu bewegen. Mit einem kleinen Sprung betrat ich das am Steg vertäute, schwankende Gefährt. Auf den ersten Blick war nichts Besonderes zu entdecken. Die Kabinentür war nicht abgeschlossen, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, sondern ging ohne weiteres unter Deck und begann im Lichte meiner Taschenlampe, den Kahn zu durchsuchen. Außer ein paar Getränken förderte ich leider nichts zutage, jedenfalls keine Erkenntnisse darüber, was die beiden auf ihren Touren unternommen haben könnten. Hatte ich mich vielleicht doch in ihnen getäuscht? Hatte mich die Fülle meiner schlechten Erfahrungen zu einem misstrauischen Misanthropen gemacht? Enttäuscht und entmutigt trat ich den Rückzug an.

    Am Rande des Achterdecks lag nur eine wie achtlos hingeworfene Persenning. Ich schenkte ihr keine

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