Hyperion: Ein Fragment von John Keats
Von Manfred Ehmer
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Über dieses E-Book
Manfred Ehmer
Dr. Manfred Ehmer hat sich als wissenschaftlicher Sachbuchautor darum bemüht, die großen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen und die archaischen Weisheitslehren für unsere Zeit neu zu entdecken. Seine thematischen Schwerpunkte sind Hermetik, Neuplatonismus, westliche Mysterien, Theurgie, spirituelle Ökologie, Kultplätze und Mutter-Erde-Verehrung in Europa. Seit 2023 veröffentlicht der Autor seine Werke in dem von ihm gegründeten Verlag Theophania.
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Buchvorschau
Hyperion - Manfred Ehmer
John Keats
Leben und Werk
Der Dichter John Keats (1795–1821), der mit Lord Byron und P. B. Shelley das strahlende Dreigestirn der englischen Romantik bildet, ist zuweilen mit Hölderlin verglichen worden, ja man kann ihn geradezu einen „englischen Hölderlin" nennen; denn auch Keats schuf ein längeres Fragment mit dem Titel Hyperion – allerdings keinen Briefroman, wie der deutsche Klassiker einen schrieb, sondern eine epische Dichtung in Blankversen, formell zwar in der Nachfolge Miltons, aber ganz im Geist der griechischen Klassik gehalten. Unter den englischen Romantikern war Keats derjenige, der am tiefsten den Geist des klassischen Griechentums in sich aufgenommen hat, der am intensivsten auf das große Vorbild der antiken Poesie zu antworten verstand. Während bei Hölderlin jedoch der dunkle, feierlich-bewegte Gesang Pindars forttönt, glaubt man bei Keats eher das attische Lied durchklingen zu hören, wie es zuerst Archilochos, Alkman und Alkaios anstimmten.
Wie Hölderlin zeitlebens in seiner dichterischen Größe unerkannt blieb, schließlich einsam und geistig umnachtet verstarb – so wurde auch Keats zu seinen Lebzeiten verkannt, ja in der literarischen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen; nur wenige seiner engeren Freunde, darunter das Ehepaar Shelley, ahnten wohl seine Bedeutung. Erst lang nach seinem Tod gelangte er in seiner Heimat England im Kreis der Präraffaeliten zu Ansehen und Bekanntheit; in Deutschland hat er sich bis heute noch kein Heimatrecht erworben, obwohl so bedeutende Geister wie Hugo von Hofmansthal und Rainer Maria Rilke immer wieder auf die Leistung dieses poetischen Genies hingewiesen haben. Und Keats war ein Genie; seine Werke, in einem ungeheuer kurzen Leben in einem geradezu fieberhaften Schaffensrausch hingezaubert, gehören zur Weltliteratur. Es war ihm allein vergönnt, wenn auch posthum, alle seine Zeitgenossen zu überflügeln – Wordsworth, Coleridge, Byron, Shelley; er ließ auch alles „Romantische weit hinter sich und wurde zum „Klassiker
vom Format eines Hölderlin. So konnte denn Alfred Tennyson, der allseits anerkannte poeta laureatus der viktorianischen Zeit, über Keats sagen: „Wir alle kommen von ihm, und er wäre unser Größter geworden".
Später, als der Stern Keats' auch in Europa aufging, war es Georg Brandes, der ihn erkannte als den „mit den schärfsten Sinnen und der feinsten universellen Sinnlichkeit ausgestatteten Sensualisten, der alle Nuancen von Farbenpracht und Vogelsang und Seidenweichheit und Traubensaft und Blumenduft, die die Natur umfasst, sieht, hört, fühlt, schmeckt und einatmet". In der Tat: Keats ist der Dichter des englischen Sensualismus, in dem sich eine große Vision, von Milton und Spenser herkommend, mit einer neuen, intensiven, leiden schaftlichen Sinnlichkeit verbindet. Alles wurde dem jungen Dichter zur Natur; alles war ihm blühende, atmende Leibhaftigkeit. Die Neigung des Engländertums zur sinnlichen Erfassung der Wirklichkeit, verbunden meist mit einer Abneigung gegen abstraktes Denken, hat bei Keats – in keiner Weise puritanisch gezügelt, sondern durch die Hinwendung zur griechischen Klassik eher noch bestätigt und gesteigert – den reinsten künstlerischen Ausdruck gefunden. Gerade dieser Zug zum Sinnlichen, Männlich-Herben, Praktischen, Naturhaften unterscheidet ihn von dem ihm ansonsten geistesverwandten Percy Shelley (1792 –1822).
Shelley und Keats, beide in etwa Altersgenossen, beide auch im Dienst an ein gemeinsames Ideal miteinander befreundet, bilden eine Polarität – Shelley, eine zarte sylphengleiche Natur, dessen Verse stets geisterhaft zu schweben und zu schwingen scheinen, ist der eigentliche „Romantiker unter den Engländern: ätherisch, verklärend, stets auf eine geheimnisvolle Geisterwelt hin ausgerichtet, naturverbunden zwar, aber doch immer etwas erdenfern, letzten Endes im Unbestimmten verschwimmend. Keats dagegen ist, im Gegensatz zu diesem allzu Ätherischen, im strengen Sinne der „Klassiker
unter den englischen Dichtern: herber, männlicher, formbestimmter, ganz auf Schönheit, Sinnlichkeit und Harmonie ausgerichtet; seine Verse sind bündiger, kerniger, kompakter als die Shelley's.
Der 1930 verstorbene Robert Bridge, auch ein „Poet laureate in England, sah bei Keats „die höchste aller dichterischen Gaben
vorhanden, nämlich „die Fähigkeit, alle weitverzweigten Mittel der Sprache konzentrisch auf einen Punkt zu richten, derart, dass ein einzelner, anscheinend sich ganz von selbst einstellender Ausdruck die künstlerisch empfängliche Einbildungskraft in dem Augenblick beglückt, in dem ihre Erwartungen und ihre Ansprüche aufs Höchste gestiegen sind und der zugleich dem Geiste einen überraschend neuen Aspekt der Wahrheit erschließt".
Über dem Leben des Dichters John Keats liegt eine große Tragik – die Tragik des Nicht-Vollenden-Könnens; denn sein Leben währte nur 26 Jahre, das