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THE TALE OF WYCCA - Demons (WYCCA-Reihe 1)
THE TALE OF WYCCA - Demons (WYCCA-Reihe 1)
THE TALE OF WYCCA - Demons (WYCCA-Reihe 1)
eBook698 Seiten9 Stunden

THE TALE OF WYCCA - Demons (WYCCA-Reihe 1)

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Über dieses E-Book

*DIE DÄMMERUNG SETZT EIN UND MIT IHR ERHEBEN SICH DIE BLUTIGEN GESTALTEN ZU EHREN DES VERI-FESTES. SIE SAMMELN SICH UM IHREN KÖNIG. DENN ER IST DAS BLUT, DAS DEN NEUANFANG VERKÜNDET.*

Der Preis für die Stadt Avastone war Blut. Blut, das auf ewig durch den Fluss Mandalay fließt, um den Frieden zwischen Menschen und Wycca zu wahren. Als Raevan Tennyson gegen seinen Willen König wird, ist er gezwungen, das Ausmaß seiner Kräfte zu verbergen. Denn jahrhundertelange Kriege haben die Furcht der Menschen vor den Wycca genährt. Und Raevan ist der tödlichste unter ihnen. Doch die Menschen in den Straßen Avastones schmieden eine Waffe, die den König vernichten soll. Um den Thron und sein Leben zu retten, sucht Raevan nach der legendären Blutkrone. Die Spur führt ihn in die berüchtigte Sternengasse, die wegen des Schwarzmarkts für Magie kaum jemand zu betreten wagt. Doch nicht nur die Dunkelheit lockt Raevan. Obwohl er verheiratet ist, verliert er sein Herz an die Menschenfrau Azalea. Er weiß, jede Berührung kann tödlich enden. Denn auf Ehebruch mit dem König steht die Todesstrafe.

DER DUNKLE SCHREI EINES DÜSTEREN AUFTAKTES, EINER ERGREIFENDEN REIHE. THE TALE OF WYCCA!
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum18. Okt. 2023
ISBN9783987180873
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    Buchvorschau

    THE TALE OF WYCCA - Demons (WYCCA-Reihe 1) - Sandy Brandt

    PROLOG

    Raevan Tennyson sollte den Unterschied zwischen einem gebrochenen und einem durchbohrten Herzen kennenlernen, während die Sonne vom Himmel schien.

    Sein Vater auf den Ledersitzen gegenüber beschäftigte sich mit der Zeitung und Rae – der alles Schwarz-Weiße verabscheute – nutzte die Gelegenheit, um die Augen in Prays Richtung zu verdrehen.

    Pray klopfte zweimal mit der Faust auf seine Brust, dort, wo sein Herz saß. Ich fühle mit dir.

    Die Arme auf das heruntergelassene Fenster des Autos gestützt, lehnte Rae sich weiter hinaus. Fremde könnten annehmen, er wäre auf der Flucht und jeder, der ihn kannte, würde dies mit absoluter Gewissheit bestätigen.

    Rae zwinkerte Pray zu. »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.«

    Pray trat dichter an die Limousine, die das Gefängnis seines Freundes darstellte. Seine gehobene Augenbraue glich der Herausforderung eines gezückten Messers. »Mit wem?«

    Das Lachen, das Rae entwich, klang eher wie ein Grunzen und entlockte Pray ebenfalls ein Grinsen. Gleichzeitig hörte Rae, wie sein Vater mit der Zeitung raschelte.

    »Raevan«, sagte sein Vater, aber es klang, als wollte er Enttäuschung sagen. Eine Verwechslung, der Raes Vater häufiger erlag. »Setz dich.«

    Der dunkle Befehlston des Königs ließ Raes Lächeln noch heller strahlen – wie ein weißes Gemälde, das nur in der Dunkelheit zur Geltung kam. Rae streckte eine Hand nach Pray aus. Sofort machte sein Freund einen weiteren Schritt auf ihn zu und schlug ein.

    »Fünf Wochen«, versprach Rae.

    »Keinen Tag länger.«

    Keine Minute länger, fügte Rae in Gedanken hinzu. »Zur Not fahre ich allein zurück.«

    »Es reicht, Raevan.« Sein Vater nutzte den königlichen Tonfall, den er für Hochverräter und seinen zweitgeborenen Sohn reservierte.

    Raes Arme spannten sich an. Doch er regte sich nicht.

    Pray hingegen musste den König ebenfalls gehört haben, denn er ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück.

    Sein Anblick erinnerte trotz der maßgeschneiderten Kleidung an eine Vogelscheuche. Eine einsame Figur. Breit genug, um Krähen zu verschrecken, aber machtlos gegen die Landbesitzer, die jeden Moment entscheiden könnten, dass er überflüssig wäre.

    Rae überkam der Wunsch, seinen Oberkörper durch das schmale Fenster zu schieben, um zu Pray zu gelangen.

    »Ich muss eh wieder rein.« Prays Lächeln war so wacklig wie eine Nussschale auf hoher See und Rae glaubte ihm kein Wort. »Wir sehen uns, wenn du zurück bist.«

    »Fünf Wochen.«

    Pray winkte zum Abschied. Mit den Händen umklammerte Rae den Fensterrahmen, um dem Drang zu widerstehen, alles hinzuschmeißen und ihm zu folgen. Doch dann verschwand er durch die grauen Schiefertüren des Palasts und die Chance war vertan.

    Er blickte seinem Freund hinterher, betrachtete die weiße Fassade und die grauen Dächer auf den vielen Türmen. Seine Unterarme schmerzten vom Druck des harten Metalls auf seinem Knochen, doch das war besser als die Alternative.

    »Du benimmst dich wie ein Kind«, sagte die Alternative von den gegenüberliegenden Ledersitzen.

    Rae vergrub die Finger in den dunklen Locken, den Blick nach draußen gerichtet. Besser die Alternative sah das Lächeln nicht, das sich bei den Worten auf seinen Lippen ausbreitete. »Kleine Kinder brauchen ihre besten Freunde.«

    »Ich führe diese Diskussion nicht erneut.«

    »Die gegebene Situation sagt mir etwas anderes.«

    »Bei den Sternen«, fluchte der König. »Kleine Kinder trennen sich leichter von ihrer Mutter als du dich von diesem Menschen.«

    Raes Lächeln sprühte Funken. »Du hast Mensch gesagt.«

    Normalerweise war der König darauf bedacht, weder die Begriffe Mensch noch Wycca zu benutzen. In Erwartung eines Feuerwerks von einem Streit kribbelten Raes Fingerspitzen.

    »Setz dich hin.« Die Worte donnerten durch die Limousine.

    »Ich bin nicht in der Stimmung.« Rae sog die frische Luft ein, während das Prickeln auf seiner Haut ihm verriet, dass sich in der Limousine der Sauerstoff durch Wut ersetzte. Die sonst so weiß polierten Steine des Palastes schimmerten gräulich und die Sprossenfenster – sonst so begierig darauf, das Leben dahinter jedem Vorbeikommenden zu präsentieren – starrten ihm matt entgegen. Als wüsste das Gebäude, dass es fünf Wochen dauerte, bis Rae zurückkam.

    Anstatt zu reagieren, klopfte der König mit den Knöcheln gegen die Trennscheibe zum Fahrer. »Los.«

    Der Chauffeur hupte einmal – als Zeichen für den zweiten Fahrer, der Raes Bruder und seine Mutter kutschierte – und drückte aufs Gas.

    Rae stieß mit der Schulter gegen den Fensterrahmen, als das Auto sich in Bewegung setzte. Matsch, aufgeschleudert von den Rädern, spritzte ihm ins Gesicht.

    »Und das ist erwachsener, ja?« Er zog seinen Kopf zurück, das halbe Gesicht mit Schlammspritzern bedeckt.

    Die Lippen seines Vaters zuckten bei dem Anblick. »Konsequenzen sind immer erwachsen.«

    Rae schnaubte und stieß sich vom Fenster ab. Die Ledersitze quietschten, als er sich sinken ließ. Der Wind schlug ihm die schwarzen Locken ins Gesicht und er drückte auf den Knopf, um das Fenster zu schließen.

    Mit schräggelegtem Kopf betrachtete er seinen Vater wie ein mäßig interessantes Gemälde und strich sich einen Schlammspritzer von der Wange, um ihn ebenso interessiert zu betrachten, ehe er seinen Finger an den teuren Sitzen abwischte.

    Der König warf ihm ein träges Lächeln zu, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und machte Anstalten, sich durch die Haare zu fahren. Dann fiel ihm wohl ein, dass er sie dafür zu kurz geschoren hatte. Einen Moment starrte er auf seine Hände, bevor er sie sinken ließ.

    »Warum kann ich nicht mit dem Zweiten fahren?«

    Oder den Platz mit dem Leibwächter auf dem Beifahrersitz tauschen, sodass dich und mich zumindest eine getönte Scheibe voneinander trennt?, fügte er in Gedanken hinzu und beobachtete, wie die Häuser Avastones vorbeirauschten. Ein Ziehen schlich sich in seine Magengegend, als wäre er mit jedem einzelnen Haus verbunden, während er sich weiter von der Stadt entfernte.

    »Arwen und du habt schon ein Auto zerlegt«, erwiderte der König und betonte den Namen seines Erstgeborenen mit Nachdruck. »Ich denke, das ist genug.«

    Wenn sein Vater Arwens Namen aussprach, klang es nie wie Enttäuschung.

    Rae biss die Zähne zusammen und hob abwehrend beide Hände. »Der Zweite hat dem Chauffeur befohlen auszusteigen, nicht ich.«

    Das entsprach der Wahrheit. Auch, wenn es Raes Idee gewesen war.

    »Nenn ihn nicht so.«

    »Warum nicht?«, fragte Rae prompt, noch ehe sein Vater zu Ende gesprochen hatte.

    Der König schwieg.

    Die Matschspritzer in Raes Gesicht trockneten bereits. Er wischte sie nicht ab.

    »So heißt er doch«, sagte er stattdessen, »der Zweite

    Noch immer antwortete der König nicht.

    »Arwen Caleb der Zweite.« Rae ließ bei der letzten Silbe die Zunge schnalzen. »Klangvoll. Nicht so melodisch wie Arwen Caleb der Erste, aber ich weiß die Repetitio als Stilmittel zu schätzen.«

    »Raevan«, warnte der König.

    Enttäuschung, hallte es in Raes Kopf wider.

    »Ja, du hast recht. Raevan Tennyson ist auch nicht zu verachten. Doch nichts im Vergleich zu Arwen Caleb der Erste und Arwen Caleb der Zweite. Tennyson«, fügte er hinzu, als würde ihm der Nachname gerade erst einfallen. »Warum nennt man den Familiennamen bei euch eigentlich nie mit? Gehört man nicht mehr dazu, sobald man König oder Thronerbe ist?«

    Die Limousine preschte auf den Straßen Avastones vorwärts, die Mandalay entlang, auf der bunte Containerschiffe um Einlass in den Hafen baten. Die großen Villen in der Nähe des Palastes wichen Einfamilienhäusern, die Monotonie seufzten, und deren Bewohner haltmachten, um der Limousine hinterher zu starren. In der Ferne, zwischen heruntergekommenen Reihenhäusern, stachen die Zelte der Sternengasse hervor. Die schwarze Fahne war nirgends zu sehen. Sie würde erst abends gehisst werden, wenn die Dunkelheit hervorkroch und Wycca anlockte, die nach der Art von Magie suchten, die tagsüber verboten war.

    Raes Fingerspitzen kribbelten und er sah noch einen Moment länger als nötig zu dem kahlen Fahnenmast.

    Zu schnell hatten sie die Stadt verlassen und der neue Asphalt wurde durch einen gröberen ersetzt, deren Schlaglöcher das Auto wackeln ließ.

    Rae erblickte nichts als weite Felder und matschige Wege, die weit von der Stadt wegführten. Ein Ruck ging durch seinen Magen – gleich einem Seil, das ihn mit Avastone verband und an dem die Stadt nun mit aller Kraft zog. Er schloss für einen Moment die Augen und dachte an die belebten Straßen seiner Heimat. Das Ziehen wurde stärker.

    Die Fahrt nach Ashland würde fast fünfzehn Stunden dauern – ohne Rast. Und es war ausgeschlossen, dass Arwen Caleb der Erste keine Rast einlegen würde. Er hatte seine Aufenthalte in zahlreichen Städten geplant, dicht entlang der Mandalay, in der Hoffnung, die Bewohner für den gestiegenen Schiffsverkehr zu entschädigen. Auch wenn Rae bezweifelte, dass die Anwesenheit seines Vaters irgendetwas wettmachte. Er persönlich würde sich lieber mit einem Seil um die Fußknöchel von einem Containerschiff durch den Mandalay ziehen lassen, als seinen Vater als Gast aufzunehmen.

    Aber nun gut, nicht jeder hegte einen solchen Hang zur Dramatik.

    Tagelang eingesperrt in einem Auto mit seinem Vater, nur um am Ende die zukünftige Frau seines Bruders kennenzulernen, rief jedoch nach Dramatik. Die fünf Wochen nicht miteingerechnet, die sie in Ashland verbringen würden, weg von zu Hause und von Pray. Bei dem Gedanken juckte Raes Haut, als wäre sie bereits jetzt der Eintönigkeit überdrüssig und würde danach verlangen, irgendetwas zu fühlen.

    Möglicherweise könnte er seinen Vater später überreden, mit dem Zweiten den Platz zu tauschen. Die Königin wäre zwar nicht unterhaltsamer als der König, aber wenn sie Raes Namen aussprach, klang es wenigstens genau so: wie sein Name. Nach zwanzig Minuten mit seinem Vater waren Raes Ansprüche bis auf den Grund gesunken.

    Er sah den König an. »Werden auf der Verlobungsfeier Reden gehalten?«

    Sein Vater hatte es in den Jahren perfektioniert, keine Regung auf seinem jungen Gesicht zuzulassen. Diese Tatsache ermutigte Rae und ließ ihn freier atmen, denn ansonsten wären die Gesichter von Vater und Sohn bis auf die Matschspritzer fast identisch. Jede Regung seitens seines Vaters würde diese Ähnlichkeit nur verstärken, denn im Gegensatz zu Arwen Caleb dem Ersten trug Rae nicht gern eine Maske.

    »Wenn ja, dann hätte ich eine Anekdote, die ich gern zum Besten geben würde«, fuhr Rae fort. Er legte sein rechtes Bein über das linke, umfasste seinen Knöchel und lehnte sich vor. »Sie wird dir gefallen. Sie handelt von dem Zweiten und zwei Menschenfrauen und, o Mann – wenn ich’s so erzähle, klingt es fast wie ein Mathematikwitz. Pass auf: Wie viel ergibt der Zweite plus zwei Menschenfrauen, plus vier Brüste und fünf Liter …«

    »Schluss.« Die Stimme des Königs durchschnitt die Luft wie ein Schwert und Raes Rücken wurde gegen die Ledersitze gedrückt.

    Mit einer einzigen Handbewegung entzog der König jeglichen Sauerstoff aus Raes Lunge, bis sein Brustkorb zu bersten drohte. Die violetten Augen seines Vaters erinnerten an ein Gewitter, während die Luft um Rae sich so verfestigte, dass dieser außerstande war, sich zu rühren. Eine Mahnung. Und der Beweis dafür, dass die Leibwächter in den Limousinen überflüssig waren.

    »Kein Wort mehr, verstanden? Weder hier noch dort. Frieden hängt an dieser Hochzeit. Diese Menschenfrau hat mächtige Wycca-Ahnen und ihr Blut wird dabei helfen, die Menschen in unserem eigenen Land zu besänftigen. Du wirst das nicht ruinieren.«

    Die Worte preschten wie eine Woge auf Rae ein. Der Sauerstoffmangel ließ schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen und seine Rippen würden jeden Moment unter dem gewaltigen Luftdruck zerspringen. Doch kein Schmerz konnte mit der Genugtuung mithalten, die bei der Aussicht auf einen Kampf mit seinem Vater wie ein Waldbrand durch seine Adern loderte.

    Durch das Fenster sah er die riesigen Pfützen, die sich auf der Wiese angesammelt hatten und die das Gras überschwemmten.

    Rae öffnete den Mund, als würde er nach Luft schnappen, schmeckte aber stattdessen die Feuchtigkeit auf der Zunge, die von draußen in den Wagen drang.

    »Nur eines«, stieß er hervor.

    Herausfordernd zog der König eine Augenbraue hoch.

    Mit aller Kraft konzentrierte Rae sich auf die Wassermoleküle, die die Luft zersetzten, und ballte mit der rechten Hand eine Faust, als würde er Kohle zu einem Diamanten pressen. Das Wasser in der Luft wandelte sich zu winzigen Eiskristallen, die er mit einem Wimpernschlag zu Boden rieseln ließ und damit die Luftwand durchbrach, die sein Vater aufgebaut hatte. Rae beobachte die glitzernden Steinchen in den kurzgeschorenen schwarzen Haaren seines Gegenübers.

    Der König starrte seinen Sohn an. Nie hatte Rae die Kryokinese vor seinem Vater angewandt. Er hatte sie vor Kurzem entdeckt und seitdem geübt, Eisskulpturen von Pray anzufertigen, die allesamt unterschiedliche vulgäre Gesten zeigten. Doch das würde seinen Vater nicht interessieren. Nicht, nachdem Rae die Fähigkeit eingesetzt hatte, um die des Königs abzuwehren.

    Noch immer zeigte das Gesicht seines Vaters keine Wut. Wäre der König ein Mensch, wäre seine Haut längst von Falten durchzogen wie bei Raes Mutter. Doch er sah nicht aus, als hätte er das fünfundzwanzigste Lebensjahr vor fast dreißig Jahren überschritten.

    Älter würden auch Rae und sein Bruder nicht werden – dominantes Wycca-Blut sei Dank. In zwei Jahren würde Arwens zukünftige Frau feststellen, dass ihr Körper sich dem Alter beugte, während ihr Ehemann auf seiner Unsterblichkeit saß wie auf dem Thron.

    Der einzige Vorteil, der zweitgeborene Sohn zu sein, war, dass Rae eine Wycca heiraten könnte, die ebenso unsterblich wäre wie er. In sieben Jahren, wenn er aufhörte zu altern, würde er nie wieder einen Gedanken an den Verfall verschwenden müssen.

    Mit gehobenem Kinn schaute Rae aus dem Fenster, ignorierte das Starren seines Vaters. »Wollten wir nicht an den Städten vorbeifahren?«

    Draußen war nichts anderes zu sehen als weite Felder, durchzogen von schlammigen Pfützen.

    »Kryo- und Aerokinese?«, fragte der König mit einer Stimme, die an Fingernägel auf einer Kreidetafel erinnerte.

    Die Limousine stolperte über den unebenen Boden.

    »Und Pyro«, ergänzte Rae, obwohl er bis vor einer Minute noch nicht beschlossen hatte, seinem Vater die Wahrheit zu sagen. Doch ihm seine Fähigkeiten vor die Füße zu werfen wie einen Fehdehandschuh, hatte etwas Elektrisierendes. »Eis, Luft und Feuer, denke ich. Feuer habe ich erst letztens entdeckt, als ich keine Lust hatte aufzustehen, um den Kamin zu entzünden. Ich glaube«, er sah stirnrunzelnd aus dem Fenster, »hier bin ich noch nie langgefahren.«

    Sein Magen machte einen Satz, als sie über einen größeren Stein fuhren.

    »Bei mehr als zwei Fähigkeiten ist eine meist unterentwickelt.«

    Rae verschränkte die Arme, bohrte seine Fingernägel tief ins Fleisch. »Sag das deiner Luftwand.« Er richtete den Blick auf seinen Vater und sorgte dafür, dass sich die Messer aus seinen Gedanken in seinem halben Lächeln wiederfanden. »Richtig, die habe ich ja durchbrochen.«

    »Überraschungsmoment.«

    Die Herausforderung machte es Rae einfach. Als würde er sich an der Wange kratzen. Er griff nach der Wut in seinem Inneren, verwandelte sie in Hitze, die über seine Haut leckte und seine Fingerspitzen verschlang wie eine gierige Geliebte. Mit einer einzigen Bewegung des Geistes übertrug er die Hitze auf den Jackensaum des Königs.

    Noch ehe die Glut richtigen Schaden anrichten konnte, fegte ein Lufthauch durch den Innenraum des Wagens. Der Geruch von versengtem Stoff wirbelte zwischen ihnen hin und her.

    Mit klopfendem Herzen ließ Rae seinen Vater nicht aus den Augen, während dieser das leicht verbrannte Material seiner Jacke betrachtete. Er inspizierte es mit schiefgelegtem Kopf. Zerrieb es zwischen seinen Fingerspitzen zu feiner Asche.

    Als er hochsah, trat zum ersten Mal eine Regung in sein Gesicht. Sein Kiefer zuckte. In Zeitlupe kniff er die violetten Augen zusammen.

    Raes Herz trieb mit schwindelerregender Schärfe das Blut bis in seine Ohren.

    »Raus.«

    Wie eine Backpfeife brannte das Wort auf seiner Wange. »Wie bitte?«

    Das Auto kam mit einem Ruck zum Stehen, als wäre es gegen eine Wand gefahren. Mit beiden Händen krallte er sich reflexartig an den Ledersitzen fest.

    »Raus.«

    »Du schmeißt mich aus dem Auto?« Der Unglaube in Raes Stimme brach hervor. »Dann fahre ich mit Mutter und dem Zweiten mit.« Schulterzuckend langte er nach dem Türgriff.

    »Du fährst nirgendwo mit«, sagte sein Vater. »Raus.«

    »Arwen?« Der Ruf der Königin drang ins Auto. »Alles in Ordnung?«

    Rae starrte seinen Vater an, die Hand noch immer an der Tür. »Was willst du ihr sagen? Dass du mich rauswirfst, weil ich stärker bin als du? Ein ziemliches Platzhirsch-Gehabe, wenn du mich fragst.«

    Die Augen des Königs verengten sich weiter und erinnerten an ein Raubtier auf der Lauer. »Wenn du das glaubst, steht es um dich schlimmer als gedacht. Du wirst nach Hause zurückkehren und wenn ich eine Nachricht darüber erhalten sollte, dass du eine dieser Fähigkeiten eingesetzt hast, bete zu den toten Dichtern, dass du verschwunden bist, ehe ich zurückkomme.«

    Rae wollte sich gerade auflehnen, als das Gesicht seiner Mutter vor dem Fenster erschien. Im nächsten Moment öffnete sie die Tür. Seine Hand fiel schlaff zurück auf den Autositz.

    »Was ist los?« Sie sah von ihrem Sohn zu ihrem Ehemann und strich sich die blonden Locken hinter die Ohren. Raes Blick blieb an einer grauen Strähne hängen. »Der Fahrer sagt, die Räder bewegen sich nicht.«

    »Ich habe sie gestoppt«, erklärte der König. Er nahm den Blick nicht von seinem Sohn. »Raevan wird umdrehen.«

    Die Königin streckte eine Hand nach Rae aus. »Was ist los?«

    Ein wackliges Lächeln kaschierte sein aus dem Takt geratenes Herz. Den bohrenden Blick seines Vaters ignorierend, ergriff er die Hand seiner Mutter und drückte ihre Finger. »Mir geht es nicht gut.« Kein Grund, ihr weitere Sorgen aufzubürden. Menschen waren zerbrechlich.

    »Ich könnte mit dir zurückfahren«, bot seine Mutter direkt an. Die Falten um ihre Augen vertieften sich.

    Bevor Rae etwas erwidern konnte, sagte sein Vater: »Er wird kein Auto nehmen. Raevan braucht frische Luft und Bewegung.«

    Rae verzog den Mund zu einem harten Lächeln. »Genau.« Er hielt dem Blick seines Vaters stand und wusste, dass seine silbrigen Augen keine Furcht zeigten. »Das ist das Erwachsenenäquivalent zum Hausarrest.«

    »Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich dich in dein Zimmer sperren.«

    »Arwen«, wandte Raes Mutter sich an ihren Mann, »ist das wirklich nötig?«

    »Schon gut. Ich wollte sowieso nicht mit.« Er sprang aus dem Auto in den Matsch.

    Die Schuhe der Königin waren fast komplett eingesunken, aber das schien sie nicht zu stören. Sie legte eine Hand auf Raes Schulter und wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Arwen der Zweite aus dem hinteren Auto stieg und zur Familie hinüber stapfte.

    »Warum halten wir?«

    »Deinem Bruder ist nicht wohl«, sagte seine Mutter. »Er wird umkehren.«

    Dass sie ihren Erstgeborenen für Raevan anlog, rechnete er ihr hoch an. Vielleicht tat sie es aber nur, damit er nicht nachfragte und sie weiterfahren könnten.

    Der Zweite warf Rae einen Blick zu. »Ernsthaft? Du lässt mich allein?«

    Rae zuckte entschuldigend mit den Schultern. Kein Grund, ihn aufzuregen und ihm von dem Streit mit ihrem Vater zu erzählen. Sein Bruder war zwar kein Mensch, doch er verabscheute jede Art von Konflikten. »Ich lerne deine Frau bei der Hochzeit kennen.«

    Der Zweite seufzte und schlug Rae leicht seine Faust gegen die Schulter. »Dann fahren Mutter und ich wohl hier mit und leisten ihm Gesellschaft.« Er deutete auf die Limousine mit ihrem Vater und hielt seiner Mutter eine Hand hin. »Kommst du?«

    Sofort schüttelte der König den Kopf. »Wir werden nicht alle gemeinsam in einem Wagen sitzen. Die Gefahr ist zu hoch, dass –«

    »Gefahr von was?«, fragte der Zweite augenrollend und schüttelte in Raes Richtung den Kopf. »Die Gefahr eines Schlaglochs, das uns alle durchrüttelt, ist zu hoch?«

    Rae konnte seinem Bruder nur recht geben. Das Einzige, das den Tennysons gefährlich werden konnte, waren andere Wycca. Und bisher hatte er selten welche gesehen, die mit den Kräften seiner Familie mithalten konnten. Außerdem gab es noch ihren Leibwächter, den Rae einmal dabei beobachtet hatte, wie er einen ganzen Vogelschwarm mit einem einzigen Blitz vom Himmel geholt hatte.

    »Es gibt nichts zu befürchten, Eure Majestät«, meldete sich dieser nun zu Wort und steckte den Kopf durch die geöffnete Autotür. »Carlos ist bereits vorgefahren. Die Strecke ist sicher.«

    »Bis zur nächsten Stadt sind es noch beinahe drei Stunden«, sagte die Königin. »Ich lasse dich nicht allein deinen düsteren Gedanken nachhängen.« Damit schien die Entscheidung getroffen. Sie gab Rae einen Kuss auf die Wange und ließ sich von ihrem Sohn ins Auto geleiten. Als sie sich neben ihren Ehemann setzte, fiel Rae wieder auf, wie alt sie aussah. Die grauen Strähnen in den blonden Haaren stachen hervor, ebenso wie die Falten, die sich um ihre Mundwinkel gruben.

    Es war ein grausames Spiel, das die Verfassung mit dem Leben der Herrschenden spielte. Jeder Wycca-Abkömmling – ob Mann oder Frau – der den Thron erben würde, musste einen Menschen heiraten. Sollte der Thronerbe kein dominantes Wycca-Blut haben, musste er hingegen einen Wycca heiraten.

    Die Regierung würde so immer aus Menschen und Wycca bestehen und die Kinder hatten eine fünfzig-fünfzig Chance, dominantes Wycca-Blut zu erben. Für das Land Lyzara schien es die beste Lösung. Eine, die bereits vor mehreren Jahrhunderten nach den Herzenskriegen etabliert wurde, als Lyzara noch den Namen England trug. Doch für die Monarchen war es wie das Spiel mit einer geladenen Waffe. Während die Wycca nicht alterten, zerrten die Jahre an den menschlichen Ehepartnern, bis sie starben. Der König würde blutjung am Grab seiner Frau stehen, gemeinsam mit seinen unsterblichen Söhnen.

    Mit einem Ruck zog sich Raes Magen bei diesen Gedanken zusammen. Es schien unfair, dass die Wycca Herrscher über den Tod waren, doch ihn nicht davon abhalten konnten, ihre Liebsten zu holen.

    Er begrub die Sorgen in seinem Inneren, um seiner Mutter beruhigend zuzulächeln. »Wir sehen uns in fünf Wochen.«

    »Pass auf dich auf«, verlangte sie und er nickte.

    Rae schaute seinen Bruder an. »Du wirst sie begeistern.« Das stand außer Frage. Auch, wenn er den Namen ihres Vaters trug, hatte er das freundliche Gesicht ihrer Mutter geerbt.

    »Immer«, erwiderte Arwen und lächelte, bevor er Rae seine Faust entgegenstreckte.

    Er schlug seine Knöchel dagegen und trat einen Schritt zurück.

    Obwohl er von Anfang an keine Lust verspürt hatte, nach Ashland zu reisen, fühlte es sich merkwürdig an, allein zurückgelassen zu werden. Flüchtig warf er einen Blick auf seinen Vater, der nach der Türklinke griff.

    »Denk an das, was ich gesagt habe.« Weitere Worte des Abschieds bekam Rae nicht. Stattdessen zog sein Vater die Autotür zu.

    Rae salutierte mit einem sarkastischen Grinsen, auch wenn der König es sicher nicht sah. Das verband Vater und Sohn: Das gleiche Gesicht und ein Grinsen, das selten frei von Spott war. Der Unterschied war, dass sein Vater dieses Grinsen vor seinen Untertanen hinter einer sorgsamen Maske aus Wohlwollen verbarg.

    Die Limousine setzte sich in Bewegung und Rae trat einen Moment zu spät zurück, sodass ihm erneut aufgeschleuderter Dreck ins Gesicht spritzte.

    Er beobachtete, wie das Auto mit seiner Familie an ihm vorbeifuhr, gefolgt von dem leeren Wagen und zwei weiteren, in denen Gepäck verstaut war. Die Chauffeure neigten den Kopf, als sie an dem Sohn des Königs vorbeizogen. Mit einem leichten Kribbeln im Magen sah er ihnen hinterher.

    Der Weg nach Hause versprach Anstrengung. Rae hatte gewusst, dass es seinen Vater verärgern würde, wenn er seine Fähigkeiten gegen ihn einsetzte, doch mit einem Rauswurf hatte er nicht gerechnet. Die Felder erstreckten sich meilenweit vor ihm und mit einem Mal fürchtete Rae sich davor, allein mit seinen Gedanken den Weg zurückzulegen.

    Seufzend steckte er die Hände in die Hosentaschen. Der Weg lag eintönig vor ihm. An manchen Tagen befürchtete er, dass die Schwere in seinem eigenen Kopf ihn zu Boden ziehen könnte. Doch am Ende wartete Avastone auf ihn; die Stadt mit ihren gepflasterten Straßen, Bars mit wummernder Musik und der Sternengasse – all das könnte er genießen, während seine Familie fort war. Sicher würde sein Gesicht erneut in den Klatschspalten der Zeitungen landen, aber wenn sein Vater davon erfuhr, war er bestenfalls bereits über die Grenze nach Ashland gereist.

    An diese Hoffnung klammerte er sich wie an einen Anker, als die erste Limousine dem breiten Sandweg um eine Kurve folgte, die sich zwischen den Feldern entlangschlängelte.

    Hier war er noch nie gewesen. Warum waren sie nicht an den bekannten Städten vorbeigefahren?

    In dem Moment, als ihm der Gedanke gekommen war, zerriss ein Knall sein Trommelfell.

    Benommen starrte er auf den schwarzen Trümmerhaufen, der eben noch die Limousine mit seiner Familie gewesen war. Dichter Rauch umgab die zerfetzten Überreste, an denen die Flammen leckten.

    Die Explosion krallte sich in seinen Schädel, übertönte sein wummerndes Herz. Der Geruch von verbranntem Plastik und heißem Metall kratzte in seinem Rachen. Klauen gruben sich in seinen Magen.

    In den Flammen war seine Familie.

    Er krallte die Fingernägel in die Kopfhaut. Eine Explosion konnte seinen Bruder und dem König nichts anhaben. Wycca starben dank des magischen Bluts in ihren Adern nicht so leicht.

    Menschen hingegen waren verletzlich.

    Mit tauben Beinen setzte er sich in Bewegung. Das Gefühl breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Alles um ihn herum verschwamm.

    Das ist nicht real – kann nicht real sein – lass es nicht real sein.

    Der dunkle Rauch verzog sich und legte die zerstörten Teile der Limousine frei, doch die Flammen versiegten nicht. Noch zu weit entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können, entdeckte Rae eine Gestalt, die sich von den Trümmerteilen abhob.

    Der König taumelte. Seine Kleidung hing in verbrannten Fetzen an ihm herab, die Haut stellenweise schwarz verkohlt. Mit bloßen Händen schleuderte er die brennenden Überreste zur Seite. Wut sprach aus jeder seiner Bewegungen wie ein furchteinflößender Rachegott. Neben ihm tauchte eine zweite Gestalt auf – Arwen.

    Rae rannte auf die beiden zu. Der Puls dröhnte in seinen Ohren und die Übelkeit drohte ihn zu überwältigen.

    Der Schrei seines Vaters riss jegliche Selbstbeherrschung von Raes Verstand und quetschte seine Kehle zusammen. Der König fiel mit gesenktem Kopf zu Boden, zog mit fahrigen Bewegungen etwas auf seinen Schoß.

    Nicht etwas. Jemanden.

    Raes Knie gaben nach. Es war unmöglich, einen weiteren Schritt zu machen. Benommen schaute er zu, wie sein Bruder sich neben seinen Vater hockte. Kein Laut drang mehr zu Rae außer dem Knistern der Flammen, die an den Überresten des Autos leckten. Die Szene hatte etwas Gespenstisches.

    Der Leibwächter stolperte noch leicht benommen von der Explosion auf Raes Familie zu. Bedienstete und Chauffeure stiegen aus den anderen Autos und traten an das zerstörte Fahrzeug heran. Sie kreisten die Unglücksstelle ein wie ein Rudel Wölfe. Raes Herz stolperte bei dem Bild.

    Sie hielten etwas in den Händen – jeder Einzelne von ihnen.

    Die trägen Gedanken in seinem Kopf stießen aneinander, formten ein Bild, das keinen Sinn ergab.

    Zu spät. Der erste Pfeil traf seinen Bruder in die Brust. Arwen kippte zur Seite.

    Wirre Gedanken benebelten Raes Verstand, betäubten ihn. Das war unmöglich. Kein Pfeil war in der Lage, Arwens Brust zu durchschlagen. Doch der Anblick vor ihm verschwand nicht. Endlich rappelte er sich auf und rannte los. Er musste die Glut in seinem Inneren nicht erst suchen. Innerhalb von Sekunden stand der Mann, der geschossen hatte, in Flammen.

    Doch er war nicht der einzige Schütze. Einer der anderen – der Chauffeur, der den Wagen mit dem Gepäck gefahren hatte – zielte auf den König und schoss einen Pfeil aus einer Armbrust ab.

    Der König riss den Pfeil aus seiner Schulter und im nächsten Moment schleuderte er den Mann mehrere Hundert Yard entfernt gegen einen Baum. Sein Kopf zerplatzte wie eine Wassermelone.

    Schwindel griff nach Raes Bewusstsein, doch er schüttelte ihn ab, rannte weiter. Der nächste Pfeil traf ihren Leibwächter und zu Raes Entsetzen sackte auch er zusammen.

    Der König riss seinen Arm herum und schmetterte einen zweiten Mann gegen den Baum.

    Die anderen Menschen hoben ihre Armbrüste. Nacheinander stieß Raes Vater sie durch die Luft, doch es waren zu viele. Ein Pfeil traf den König in den Brustkorb, doch er blieb aufrecht.

    Während er rannte, suchte Rae das Wasser in der Luft, die Glut in seinem Inneren und die Verbindung zum Wind. Doch er fand nichts. Verzweiflung beherrschte seine Gedanken und verweigerte ihm jegliche Kontrolle.

    Der König bemerkte sein Kommen und weitete erschrocken die Augen.

    Mit letzter Kraft versuchte Rae, den Schützen vor sich in Brand zu stecken. Aber lediglich der Mantel fing Feuer.

    Raes Blick fiel auf die verkohlte Leiche zu den Füßen seines Vaters. Daneben lag Arwen. Das Rauschen in seinem Schädel fraß jegliche Vernunft. Wut türmte sich in ihm auf. Blut pumpte in wilden Bahnen durch seinen Körper und pulsierte in seinen Ohren.

    Ein weiterer Pfeil traf den König ins Bein.

    Rae spürte, wie sein Vater die Luft um sie herum nutzen wollte, um eine Barriere zu bauen. Er war jedoch zu geschwächt. Er brauchte Hilfe. Rae schrie seinen Körper an, aber dieser verweigerte ihm jeglichen Zugang zur Natur. Sein Verstand kauerte in der hintersten Ecke, verängstigt vom Anblick der verkohlten Leiche. Seine Schleimhäute wurden vom Geruch verätzt und die Szenerie fraß ihn von innen heraus auf.

    Ein stechender Schmerz peitschte durch seinen Körper. Er sah hinab auf den Pfeil, der aus seinem Brustkorb ragte.

    Sein Schrei lenkte den König ab – er schaute Rae für eine Sekunde an. Der nächste Pfeil traf ihn direkt ins Herz.

    Sein Vater ging zu Boden.

    Raes Kehle zerriss, als er auf ihn zustürmte. Sein Körper war ein fremdes Ding, außerhalb seines Machtbereichs. Ein Tier in ihm übernahm die Kontrolle, spürte den Schmerz, der ihn verbrannte.

    Fünf Männer waren übrig, jeder von ihnen mit einer Armbrust bewaffnet. Sie feuerten gleichzeitig, die Schüsse präzise und geübt. Die Spitzen durchbohrten seine Brust, landeten dort, wo sich die Fasern von Raes Herzen befanden.

    Wenn er denn eins hätte.

    Er wurde zurückgeschleudert, blieb jedoch aufrecht stehen.

    Die Angreifer starrten mit weißen Gesichtern und aufgerissenen Augen auf den Wycca vor ihnen, der mit fünf Pfeilen in der Brust die Schultern zurückrollte. Einer von ihnen ließ seine Armbrust fallen.

    Das Zögern riss etwas in Rae ein. Ihre Furcht schwängerte die Luft. Als könnten sie das Monster in seinen Augen erkennen, das vom Geruch des Bluts angelockt wurde. Gemeinsam mit ihm erwachte etwas Neues in Rae. Die Verbindung zur Natur war erloschen, dafür ertastete er ein heißes Band, das ihn mit den Menschen um sich herum verband. Er spürte die Nervenströme in ihrem Gehirn, als würden die elektrischen Impulse auf ihn übergehen. Sogar die feinen Nervenenden auf ihrer Haut kribbelten in seinem eigenen Körper.

    Mit einem Ruck übernahm er die Kontrolle dessen, was er spürte. Die Waffen der Männer fielen zu Boden. Bevor sie reagieren konnten, tastete Rae sich weiter vor, bis er entdeckte, was ihn lockte: die winzigen Elektroströme des Gehirns, wie ein knisterndes Lagerfeuer. Er nahm die kleinen Impulse in seinem eigenen Herzen wahr, ließ sie durch seine Muskeln strömen. Sie nährten das Monster.

    Mit einem Wimpernaufschlag riss Rae den Lebensfunken von ihnen, wie das Kabel eines mit Strom betriebenen Apparates.

    Sie sackten in sich zusammen, ehe sie begreifen konnten, was geschah. Die fremden elektrischen Impulse in seinem Körper verschwanden und es blieb eine Leere, die sich mächtiger anfühlte als alles, was er bisher gekannt hatte.

    Sobald das Kribbeln erstarb, kehrte der Schmerz mit einem Schlag zurück. Rae zerrte mit bloßen Händen die Pfeile aus seinem Körper, einen nach dem anderen. Die Spitzen waren aus einem unbeugsamen, bläulich schimmernden Material geschmiedet worden und liefen dünn und spitz zu. Schwarzes Blut klebte an ihnen. Er warf sie zur Seite.

    Zitternd stolperte Rae zu dem Körper seines Bruders und sank neben ihm zu Boden. Auch aus seiner Brust ragte einer der Pfeile und als er ihn herauszog, war er in schwarzes Blut getränkt. Sie hatten sein Herz getroffen.

    Mit zitternder Hand strich er das Haar seines Bruders zurück, während Tränen auf dessen Gesicht trafen. Er konnte nichts mehr für Arwen tun. Weder für ihn noch für seine Eltern. Die Erkenntnis ließ seine Muskeln zittern, presste seinen Brustkorb zusammen und drückte seine Kehle zu. Der Rauch der Trümmerteile wand sich um seinen Körper und brannte in seinen Augen.

    Rae schaute in die Weite, unfähig zu begreifen, was geschehen war.

    Da sah er ihn.

    Ein einzelner Mann lief über das Feld. Der Mann, den sein Vater durch die Luft geschleudert hatte. Er humpelte.

    Rae könnte ihn laufen lassen. Ein einzelner Mann – welchen Unterschied machte es schon?

    Ein Menschenleben, das verschont werden würde.

    Der Geruch der verkohlten Leiche stieg ihm in die Nase und er sah zu seinem leblosen Bruder hinunter. Die Leere, die er eben gespürt hatte, füllte sich mit etwas Scharfkantigem.

    Das Monster flüsterte in sein Ohr.

    Rae streckte seinen Geist, tastete nach der Energie, die er bei den anderen gespürt hatte und die nun erloschen war.

    Als er sie fand, war es einfach. Er kappte die Leitungen mit einem einzelnen Gedanken.

    Der letzte Mann sank zu Boden wie eine Marionette ohne Schnüre.

    KAPITEL 1

    Regentropfen trommelten auf die schwarzglänzenden Särge. Raevans Sicht verschwamm, als er auf die Blumengestecke starrte, deren Blütenköpfe der Regen niederstreckte. Er blinzelte ein paarmal und konzentrierte sich auf eine Rose, die sich vom dunklen Sarg abhob. Dichter verglichen die Tropfen auf der roten Blüte mit Blut, doch Raevan entdeckte nichts Poetisches an dem Anblick.

    Druck baute sich hinter seinen Augen auf. Tränen, hoffte er für einen Moment. Doch sein Körper enttäuschte ihn. Stattdessen schnitt Schmerz durch seinen Schädel wie ein Schwerthieb. Ohne den Blick abzuwenden, rieb Rae sich über die Schläfe und schwankte für einen Moment. Trotz der schwarzen Regenschirme, die ein Zelt über ihn und die anderen Gäste spannten, kniff er die Augen zusammen, als würde er in die helle Sonne starren.

    Eine Berührung an der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Sofort streckte sich sein Verstand zum Schutz nach den Kräften der Natur aus, die in seinem Inneren lauerten. Doch anstelle von parat liegenden Messergriffen schnitt er sich die Hand an einem Gewirr aus Klingen. Wieder schwankte er und der Druck hinter seinen Augen verstärkte sich.

    »Raevan.« Bei der Stimme seines Onkels entspannte er ein wenig. »Du musst mitkommen.«

    Zu betäubt von den absurden Worten und dem Chaos in seinem Inneren, um Enyas Forderung nachzukommen, sah Rae stirnrunzelnd auf den Sarg, der ihm am nächsten stand. Darin liegt Arwen. In dieser Kiste liegt dein Bruder. Er zwang sich, das Bild in Gedanken heraufzubeschwören. Doch die Worte wandelten sich nicht zu einer Vorstellung, nicht zu einem Gefühl.

    Rae verschränkte die Arme und presste dabei unbemerkt die Faust gegen die Brust. Mit gesenktem Blick hielt er den Atem an. Das Licht, das durch die schwarzen Schirme schimmerte, warf die Schatten der Regentropfen auf seine Haut und ließ sie gespenstisch grau schimmern. Etwas Nasses kitzelte auf seiner Wange. Erleichtert ließ Raevan die Luft durch seine Lungen strömen und sammelte den Tropfen mit seiner Fingerspitze auf, um ihn an die Lippen zu führen.

    Süßwasser. Keine Träne. Er ballte die Hand zur Faust und sah nach oben. Der Regen musste einen Weg durch das Dach aus Schirmen gefunden haben.

    Warum fühlte er nichts? Benommen fasste er sich an die Brust, dorthin, wo der Pfeil ihn getroffen hatte.

    An die Stelle, an der sein Herz sitzen sollte. Der Druck in seinem Kopf stieg an.

    »Raevan«, drängte Enyas.

    »Ich sag’s nur ungern«, murmelte Rae und ließ dabei die Särge vor sich nicht aus den Augen, »aber ich bin beschäftigt.«

    Die Worte klangen, als würde jemand ohne Feingefühl für Musik willkürlich verschiedene Saiten einer Gitarre anstimmen. Dies war das letzte Mal, dass er gemeinsam mit seiner Familie auf dem Victory Place stand. Er würde keine Sekunde davon verschwenden. Nach der Trauerfeier würden die Körper verbrannt werden, um die Asche bei Nacht zu verstreuen. Seine Familie würde bei den Sternen sein und Rae allein zurücklassen.

    Der Griff an seiner Schulter wurde fester. »Die Kameras sind auf den Redner gerichtet. Niemand wird dein Fehlen bemerken.«

    Raes Blick glitt zu der großen Leinwand, auf der das gegerbte Gesicht seiner Tante Nuri leicht verpixelt vergrößert wurde. Sie selbst stand auf dem Podest hinter den Särgen, umringt von einer Traube Bediensteter, die sie mit Schirmen vor dem Regen schützten.

    Sieht sie aus wie meine Mutter? Rae hatte sich darüber nie Gedanken gemacht. Nuri lebte auf dem Kontinent, kam nur selten zu Besuch. Jetzt musterte er ihr Gesicht, suchte nach Spuren seiner Mutter. Doch seine Tante bestand lediglich aus Falten und Trauer.

    »Was immer es ist – es wird warten.«

    Nuris Stimme stockte und sie sog zittrig die Luft ein. Wenn Rae schon nichts fühlte, war er es seiner Familie schuldig, wenigstens die Worte derer anzuhören, die es taten. Enyas und seine Tochter Rebecah hatten bereits ihre Reden gehalten. Nach Nuri würde nur noch er fehlen. So lange musste Enyas warten.

    »Nein.« Die Stimme seines Onkels erinnerte an das Knacken eines toten Astes.

    Zögernd warf Rae einen Blick auf die schwarzen Särge. Sein Körper blieb kalt, als hätte man ihn in Eiswasser getaucht. Die Kisten vor ihm könnten genauso gut leer sein.

    Als erahnte Enyas Raes bröckelnden Widerstand, drückte er die Schulter seines Neffen. »Folge mir.«

    Rae warf noch einen Blick auf seine Tante, deren hundertfach vergrößerte Augen auf der Leinwand immer wieder zu dem schwarzen Sarg ihrer Schwester huschten. Als könnte sie den Anblick nicht ertragen, aber hätte gleichzeitig Angst, der Sarg würde verschwinden, noch bevor sie fertig war.

    Das solltest du sein, flüsterte eine Stimme in Raevans Kopf. Er wusste, dass sie recht hatte. Rae war Sohn, Bruder, Freund, Enttäuschung, Zweitgeborener – alles in einem. Mit dem Tod seiner Familie verloren all diese Titel an Bedeutung. Nun war er nur noch ein Überbleibsel, ein einsames Segelboot auf hoher See, nachdem die anderen Schiffe von einem Sturm dahingerafft wurden. Umgeben von den Trümmern der Katastrophe und unfähig, irgendetwas zu fühlen. Wieder drückte er sich die Hand auf die Brust. Als er hinter der Leinwand entlanglief, verstärkte sich der Druck hinter seinen Augen und wandelte sich zu einem schmerzhaften Pochen.

    Am Rand der Menge wartete Enyas und zuckte mit dem Kopf. Beeilung. Rae folgte. Seine schwarzen Locken sogen sich mit Feuchtigkeit voll und klebten an seinem Gesicht. Auf dem Weg zu einem der Nebengebäude des Palastes hielt er Ausschau nach Pray, doch sein Freund war nirgendwo zu entdecken. Sicher befand er sich bei den anderen Bediensteten, die ein Stück weiter rechts, in einem abgegrenzten Areal – und unter strengster Bewachung –, die Trauerfeier verfolgten.

    Enyas hielt Rae eine der Holztüren auf, ließ ihn in das Nebengebäude, das durch einen schmalen Gang mit dem Palast verbunden war. Im Trockenen fuhr Rae sich durchs Gesicht, strich die nassen Haare zurück. Tropfen färbten das Holz unter seinen Schuhen dunkel.

    »Hier entlang.« Enyas schlug einen energischen Schritt an, der an einen Militärmarsch erinnerte. »Bevor die Reden vorüber sind.«

    An einer der angrenzenden Türen blieb er stehen und lotste Rae hindurch.

    Die beheizten Flure des Palastes hüllten ihn ein und warme Luft schlug ihm entgegen. Gleichzeitig wuchsen seine Kopfschmerzen an. Ohne zu prüfen, ob sein Neffe ihm folgte, stieß Enyas eine der Türen zum Konferenzraum auf. Rae runzelte die Stirn.

    »Eure Majestät.« Das Gemurmel der Anwesenden sirrte durch den Raum wie eine Biene, die den Weg durch ein verschlossenes Fenster suchte. Rae leckte sich über die Lippen. Sie schmeckten nach Regen.

    Eine Frau und ein Mann standen an dem runden Tisch, die Köpfe gesenkt.

    Er wandte sich Enyas zu, der eine Hand auf seinen Rücken legte, Rae weiter in den Raum schob und die Tür hinter ihnen beiden schloss. Damit waren die drei Wycca des Blutrats und ihr König vollständig versammelt.

    Das Dröhnen der geschlossenen Tür hallte nach. Rae bekam eine Gänsehaut. Niemand hatte daran gedacht, den Konferenzraum zu heizen. Oder sie hatten ihn mit Absicht kalt gelassen, um keinen Verdacht zu erregen.

    »Seid ihr lebensmüde?«, stieß Rae hervor. Die Frage am Tag einer dreifachen Beerdigung zu stellen, schien lächerlich. Entsetzt starrte er seinen Onkel an.

    Dieser hatte nicht einmal den Anstand, beschämt den Blick zu senken. Stattdessen ging er zu den anderen zwei Mitgliedern des Blutrats und drückte den Rücken durch. Ein Versuch, sein königliches Erbe als Schild zu benutzen? Doch Enyas sah seinem Bruder niemals unähnlicher als in diesem Moment.

    Die beiden anderen Mitglieder des Blutrats schwiegen und wichen seinem Blick aus. Nur sein Onkel stand aufrecht, der kahlrasierte Kopf glänzte im Schein der Deckenlampen.

    Rae konnte nicht fassen, was sie riskierten. »Seht mich an.«

    Zögerliche Blicke durchkreuzten den Raum. Claudette trat unsicher von einem Bein aufs andere und strich sich das schulterlange braune Haar hinters Ohr. Als Älteste von ihnen wusste sie möglicherweise am besten, was auf dem Spiel stand. Umso unfassbarer, dass sie dennoch ihrer aller Leben riskierte.

    Gänsehaut kroch Raes Arme hoch bis zum Nacken und schüttelte ihn durch. »Hört auf, den Boden anzustarren, und seht mich an.« Seine Stimme donnerte durch den Raum. Mit einem Mal spürte er einen Funken. Einen winzigen Stromschlag, der seinen Körper durchflutete und sein Blut prickeln ließ. Rae ließ seinen Verstand danach greifen, doch wieder gelang es ihm nicht. Der Funken erstarb.

    Ahnten die anderen etwas? Die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf nach. Bei mehr als zwei Fähigkeiten ist eine meist unterentwickelt. War es das, was mit ihm geschah? Doch es fühlte sich nicht an, als wäre auch nur eine der Fähigkeiten schwächer als die anderen. Stattdessen rissen sie mit aller Kraft an jeder von Raevans Zellen. Drohten, ihn zu zerreißen.

    Seine Hände zitterten. Niemand durfte davon erfahren.

    »Erklärt mir, weshalb wir hier sind. Und«, fügte er hinzu und ballte die Hände zu Fäusten, sodass keiner von ihnen das Zittern bemerkte, »weshalb der menschliche Teil des Blutrats es nicht ist.«

    Er richtete die Augen auf die drei leeren Stühle am runden Tisch. Die Schnitzereien, die sich aus dem Holz erhoben und die Herzenskriege nacherzählten, unterstrichen seine Worte. Seit dem Ende der Kriege war es dem Blutrat verboten, zu tagen, ohne dass Vertreter beider Spezies anwesend waren.

    Sie alle riskierten ihr Leben.

    »Es geht um die Rede, Raevan.« Enyas trat einen Schritt vor, aber Rae hob eine Hand, um ihn davon abzuhalten, näher zu kommen. Noch immer tobte das Chaos in seinem Inneren und er konnte nicht riskieren, dass sein Onkel es bemerkte.

    Enyas presste die Lippen aufeinander, hielt jedoch Abstand.

    »Wir haben alles besprochen«, erinnerte Rae seinen Onkel und fixierte ihn. Dabei war ihm die beunruhigende Wirkung seiner silbernen Augen nur allzu bewusst. »Zusammen mit dem gesamten Blutrat.«

    Claudette trat neben Enyas und legte ihm unterstützend eine Hand auf die Schulter. »Wir denken, es sollte eine Ergänzung geben.«

    Das Licht des Kronleuchters ließ ihre blasse Haut schimmern. Trotz ihrer knapp dreihundert Jahre sah sie keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig.

    Regen prasselte gegen die Fensterscheibe am anderen Ende des Raumes. Rae lauschte ihm, während er Claudettes Worte von allen Seiten betrachtete. Er hatte das beklemmende Gefühl, dass sie sich – ließe er sie aus den Augen – wie ein Raubtier in der Nacht anschleichen würden.

    »Eine Ergänzung, von der die Menschen des Blutrats nichts wissen«, riet er schließlich. Rae sah an Claudette und Enyas vorbei zu Landon, dem verbliebenen Wycca des Rates. Alle drei blickten zu ihm – auf seine Stirn, seine Brust, seine Hände. Aber niemand sah ihm in die Augen.

    Claudette schluckte hörbar. »Sie hätten nicht zugestimmt.«

    Die Worte türmten sich im Inneren des Raumes zu einer Gewitterwolke auf. Rae spürte das Blut in seinen Ohren pulsieren und musste seinen Blick von den kunstvollen Schnitzereien des Tischs loseisen. Hochverrat, schienen die detaillierten Holzfiguren seiner Vorfahren zu schreien. Mit weichen Knien ging er zum Fenster, um hinauszusehen und durchzuatmen. Von hier aus hatte er beste Sicht auf die Menge, die sich um die glänzenden Särge seiner Familie versammelt hatte.

    Er trat einen Schritt zurück und sah nun stattdessen sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe.

    Zweitgeborener, Bruder, Enttäuschung.

    Was war er jetzt noch? Sein Spiegelbild starrte stumm zurück. Schwarze Haare, kantiges Kinn, tiefliegende Augen. Das Ebenbild seines Vaters.

    Wenn er alles andere nicht sein konnte, dann musste er das sein. Der Sohn seines Vaters.

    »Mein Vater hätte dieser Versammlung niemals zugestimmt. Es verstößt gegen die Verfassung, ohne den menschlichen Blutrat zu tagen.« Rae wirbelte zu den Wycca herum, ließ jedoch nichts von seiner Verzweiflung in seinem Gesicht hervorblitzen. Stattdessen stellte er sich vor, wie sein Vater hier stünde. Beherrscht. Entschlossen. »Ist das euer Ziel? Weitere Särge denen meiner Familie hinzuzufügen? Unser aller?« Denn das würde geschehen, wenn jemand von dieser Unterhaltung erfuhr.

    »Wir tagen nicht«, widersprach Claudette. »Wir haben uns hier zufällig getroffen.«

    Enyas warf ihr einen warnenden Blick zu. »Claudette meint –«

    »Lass«, befahl Rae und fasste sich an die Schläfe. Seine Kopfschmerzen nahmen zu und er wünschte sich nichts weiter, als auf einem verlassenen Feld im Regen zu liegen, um seinen Kopf zu kühlen. Doch er hielt die Maske aufrecht. »Ihr habt mich hierhergelockt, um die Menschen zu hintergehen. Nennt mir den Grund, damit wir diese Farce beenden.«

    Alle drei sahen Enyas an, der schließlich sprach. »Es sollte Vergeltung geben.«

    Es kostete Rae alle Mühe, seine Überraschung nicht preiszugeben. So kniff er lediglich die Augen zusammen. »Die gab es«, sagte er vorsichtig. Ein Kaninchen, das sich nicht sicher war, ob vor dem Bau noch Füchse lauerten. »Diejenigen, die für den Anschlag auf meine Familie verantwortlich waren, sind tot.«

    »Es waren nicht nur diese zwölf«, sagte Enyas und trat nun doch dichter an Rae heran. Claudette blieb stehen, wo sie war. »Sie müssen ein großes Netzwerk gehabt haben. Die Menschen haben sich zusammengetan, um der Regierung zu schaden. Einer Wycca-Regierung.«

    Rae sah von seinem Onkel zu Claudette und dann zu Landon, der den Rücken durchdrückte. Dieses Mal sah keiner von ihnen weg. Trotz ihres schlechten Gewissens hielten sie Raevans Blick stand.

    Doch er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist … sie war keine Wycca.« Die Vergangenheitsform bohrte sich mit dreckigen Klauen in seine Brust. Das machte der Tod: Er raubte einem die Worte, ersetzte sie durch andere. Und wann immer man darüber stolperte, stach die Tatsache zu wie ein rostiges Küchenmesser.

    »Du hast die Pfeile gesehen«, sagte Enyas sanft. »Sie waren mit Cruas verstärkt.«

    Das Wort kratzte an einer Erinnerung in den Tiefen seines Verstandes, doch Rae bekam sie nicht zu fassen. Mit einem Mal bereute er es, in den unzähligen Geschichtsstunden über sein Land so selten aufgepasst zu haben.

    Enyas schien seine Verwirrung zu erahnen, denn er ging um den Tisch herum und nahm etwas von der Ablagefläche einer Kommode. »Hier.« Er drückte Rae den Gegenstand in die Hand.

    Sofort zuckte er zusammen, als er sich den Finger daran aufschnitt. Das Brennen zog durch seine gesamte Hand. Es war kein starker Schmerz. Nur unangenehm und … neu. Noch nie hatte er sich in den Finger geschnitten. Das Blut in seinem Körper schützte ihn vor solchen Unfällen.

    Normalerweise.

    Er betrachtete den Gegenstand genauer. Es war eine Pfeilspitze, ummantelt mit diesem blauschimmernden Material, an dessen Spitze er sich geschnitten hatte.

    »Cruas«, wiederholte Enyas. »Ein Edelstein. Härter als Diamant. Auf diese Weise geschliffen ist er in der Lage, selbst die Haut eines Wycca zu durchdringen. Wir haben wenige Waffen hier, die damit versetzt sind, das Zeremonienmesser beim Veri, falls du dich erinnerst. Cruas wurde bereits in den Herzenskriegen eingesetzt, importiert aus den Minen Irlands.«

    Fragend schaute Rae auf.

    »So hieß die Insel westlich von Lyzara damals«, erklärte Enyas. »Da sie nun zu Ashland gehört, haben wir keinen Einfluss auf den Abbau der Minen. Jedoch galten sie nach dem Ende der Herzenskriege als stillgelegt, da das Cruasvorkommen erschöpft war. Auch das Wissen um die richtige Verarbeitung starb größtenteils aus. Natürlich ist es zudem illegal, es nach Lyzara zu importieren. Doch dieses Verbot wurde hiermit umgangen.« Enyas sah auf und legte eine Hand auf Raes, die das Cruas umschloss. »Der Anschlag galt nicht deiner Mutter. Er galt dem Wycca-Herrscher und seinem Thronerben.«

    Arwen war der Thronerbe gewesen. Nun war er von der Erde getilgt und Raevan musste seinen Platz einnehmen. Ausgetauscht wie eine kaputte Vase. Die Welt würde ihn aus ihrem Gedächtnis löschen. Gleichzeitig erwarteten sie, dass Rae ihn ersetzte. Die Scherben dieses Gedankens schnitten in seine Brust und ließen für einen Moment die Maske verrutschen, sodass die Worte flehend seinen Mund verließen. »Was wollt ihr von mir?« Am liebsten würde er verschwinden. Sich Pray schnappen und irgendwo weit weg im Wald verstecken.

    Enyas sah zu Claudette, die ihm zunickte. Sein Onkel trat einen weiteren Schritt auf Raevan zu. »Bei der Rede verkündest du, dass Sanktionen gegen die Menschen verhängt werden. Wegen des Cruas’ haben wir sofort Kontakt mit Ashland aufgenommen. Sie schwören, dass sie nichts damit zu tun haben und da dein Bruder eine Erbin des Königshauses heiraten sollte, scheinen sie glaubwürdig. Die Ermittlungen haben ergeben, dass es sich um eine Gruppierung von Menschen in unserem Land handelt. Solange nicht alle Mitglieder dieser Gruppierung preisgegeben werden, müssen die Steuern erhöht werden. Nur für die Menschen.«

    Die Worte dröhnten in Raes Kopf. »Das ist Irrsinn. Ihr wollt die Menschen im ganzen Land bestrafen?«

    »Sie haben den Wycca im ganzen Land geschadet.«

    Rae sah ungläubig von einem zum anderen. »Eine Kollektivstrafe gab es nicht mehr seit der Zeit vor den Kriegen. Die Menschen werden auf die Barrikaden gehen.«

    Das musste ihnen bewusst sein. Seit der erste Wycca-König sein Blut mit einer Menschenfrau vereint hat, gab es in Lyzara kein anderes Ziel, als den Frieden zwischen ihren Spezies zu bewahren. Es gab mehr als nur ein Gesetz, das dies sicherstellte. Unter anderem das Verbot, das es Raevan nun unmöglich machte, eine Wycca zu heiraten.

    »Das Land ist bereits angreifbar«, sagte Enyas. »Es wird Jahre dauern, bis sie dich akzeptieren. Aber noch gefährlicher wäre es, diejenigen frei herumlaufen zu lassen, die den König und seinen Thronfolger getötet haben.« Enyas legte Rae beide Hände auf die Schultern. »Wir beide haben einen Bruder verloren, Raevan.« Er schluckte und sah zur Seite. Seine violetten Augen glänzten. »Ich dachte, Arwen und ich hätten Jahrhunderte zusammen. Aber das haben sie uns genommen. Sie haben uns unsere Brüder genommen. Unsere Familie. Rebecah, du und ich sind alles, was

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