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Die Wurzelsucher
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eBook332 Seiten4 Stunden

Die Wurzelsucher

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Über dieses E-Book

Wir befinden uns im Jahr 2050. Während sich der unproduktive Teil der Gesellschaft in den Randzonen tummelt und die Gutbetuchten in gesicherten Zonen ihre Ruhe genießen, strampelt sich eine Mittelschicht ab, um nicht endgültig abzurutschen.
Ein wohlwollender Staat kümmert sich mit Hilfe von Überwachungssystemen um seine Bürger, und vor allem bei den Heranwachsenden greift er so früh wie möglich ein, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Sehr wichtig für die Gesellschaft sei - es sollen die richtigen Bürger Kinder bekommen.
Doch Lena, eine junge, intelligente Frau, will selbst entscheiden. Sie will ein Freigeist sein - so wie ihre kürzlich verstorbene Großmutter. Im Nachlass der alten Dame findet sie Ungereimtheiten und geht ihnen nach.
Das führt sie in die Nähe eines Mannes, der kurz zuvor im Haus nebenan aufgetaucht ist. Der Exsöldner will eine letzte Chance nutzen, um seinem todkranken Vater die Wahrheit über die leibliche Mutter heraus zu pressen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Mai 2020
ISBN9783750236974
Die Wurzelsucher
Autor

Sabine Stegmeyer

Sabine Stegmeyer ist eigentlich von Beruf Ingenieurin - doch das Lesen und Schreiben von Geschichten gehört seit ihrer Kindheit zu den wichtigsten Dingen in ihrem Leben. Während der Kindererziehungszeiten studierte sie nebenher Sprachen, übersetzte literarische Texte, und das brachte sie auf den Weg ihre eigenen Geschichten zu verfassen.

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    Buchvorschau

    Die Wurzelsucher - Sabine Stegmeyer

    Montag

    'Mistschloss', fluchte Frederik Graber gegen die Tür. Hatte das nicht vor zehn Jahren schon geklemmt? Er sah an der roten Backsteinfassade hinauf, musterte die bröckeligen Fugen. Rechts oben neben der Tür starrte eine Überwachungskamera auf ihn herab. Das halb mit Dreckwasser gefüllte Auge war ein Anblick zum Weinen. Irgendwann in den Dreißigern hatten Versicherungen mit Rabatten gewinkt, würden sich die Vorstadtbewohner kleine Spione über die Haustüren montieren. Mit den Sensoren an Fenstern und Läden glaubten sie sich rundumüberwacht. Leider waren auch die bösen Leute technisch auf Zack und das Projekt wurde in aller Stille begraben. Seit jener Zeit verunstaltete Elektroschrott die Fassade.

    Graber schüttelte den Kopf und ließ die Reisetasche fallen. Keine drei Tage würde er hier bleiben. Wozu auch. Zu Erben gab es nur ein kleines Konto und ein großes Geheimnis. Und dieses Große zu lüften blieb dem Sohn nicht mehr viel Zeit.

    Graber packte den Knauf, ein Ruck und das Schloss gab nach. Mit der Spitze seines Stiefels drückte er an die Tür und sah ihr zu, wie sie widerstrebend ein Stück aufging.

    „Schlimmer als im Lazarettzelt, murmelte er und rieb sich die von zahlreichen Sonnenbränden gefleckte Nase. „Desinfektionsmittel … Pisse und … Greisensieche. Schildkrötengleich schob Graber den Kopf vor und spähte ins Halbdunkel des Flurs. Nichts schien sich verändert zu haben, seit er dieses Haus das letzte Mal betreten hatte. Er nahm die Tasche wieder auf und seine Finger umklammerten die Henkel so fest, dass die Gelenke hell wie gepulte Erdnüsse schimmerten.

    „Ich hätte gar nicht kommen müssen, flüsterte er, als müsse er sich selbst beruhigen. „Hätte die Nachricht einfach löschen können. Wen interessiert wie's dem Alten geht. Nach mir hat er die letzten zehn Jahre auch nicht gefragt. Und die Jahre zuvor - jeder Besuch ein Desaster.

    Dann, mit einem Ruck, straffte Graber die Schultern und fuhr mit der Hand über sein raspelkurzes Grauhaar, so als streife er Spinnweben ab. Er schob die Tür ganz auf, ließ die Reisetasche vor ihr fallen und ging zwei, drei Schritte in den Flur hinein. Licht flimmerte am Ende und die Stimme einer Sprecherin säuselte sich musikumringelt durch das Haus.

    „Vater?, fragte er ins Innere, und noch einmal „Vater?

    Die Frauenstimme verstummte. Jemand raunzte „Bob" und ein kurzer Piepton antwortete. Frederik verharrte im Halbdunkel, lauschte dem von Motorsummen begleiteten Schlurfen. Am Ende des Gangs erschien Rudolf Grabers Gestalt, dicht gefolgt von einem mannshohen Pflegerobot. Die Hände des Alten klammerten sich an die Griffe der Stützstummel rechts und links des Körpers. Hektisch blinkte der an seinem Hals angebrachte Sensor. Er blinkte im selben Takt wie das leuchtend rote Herz rechts oben im Bildschirm des künstlichen Helfers. Jeder Schlag verwandelte schütteres Weißhaar in babyrosa Gespinst. Zuckerwatte, ging es dem Sohn durch den Sinn und er hätte beinahe gegrinst.

    „Netten Helfer hast du da, sagte Graber junior und heftete den Blick auf das Gekritzel über dem Schirm. „Sogar einen Namen hat er … Bob … klingt irgendwie nett.
„Guten Tag, Frederik", sagte der Alte.

    Graber nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Stoff der Feldjacke knarzte. Viele Waschgänge hatten ihr die Elastizität genommen, Sonne hatte sie zu etwas undefinierbar Hellem ausgebleicht. Nur unter den Armen, in Taschenfalten und an Stellen, wo Abzeichen festgenäht waren, hatte sich das ursprüngliche Braungrün erhalten. Für eine Weile herrschte Schweigen. Mit jeder Sekunde quoll es mehr auf und schien die beiden Männer auseinander treiben zu wollen.

    „Geht dir nicht gut, haben sie mir geschrieben, presste der Jüngere schließlich heraus. Er musterte den Vater, wie er an den Robot-Armen ein wenig tiefer rutschte, betrachtete den Bildschirm, auf dem unten links ein blaues Antennensymbol leuchtete. Er wusste, was das bedeutete – würde der Alte fallen, schlüge sein Herz in Panik und Bob würde automatisch Meldung machen. Das Kamera-Auge würde erwachen und wenig später stünde die ganze Pflegestaffel auf der Matte, wenn er nicht rechtzeitig auf das Resetfeld drückte. „Ich wollte dich besuchen und wenn du willst … für eine Weile hier bleiben, beendete er das Machtspielchen und tatsächlich – der Alte atmete tief durch.

    „Das musst du nicht tun. Bin gut versorgt." Er neigte seinen Kopf Richtung Bob. Der Sohn folgte seinem Blick.

    Tolle Aussichten. Ein Robot und genervte Pfleger.

    Keine Pfleger.

    Niemand schaut mal rein?

    Nein, wozu?

    Das Essen?

    Im Kühlschrank ist Fertigfutter. Muss ich nur noch in diesen kleinen Ofen schieben, der in der Küche steht.

    Brauchst eben niemand, Graber löste seine Arme und schob die Hände tief in die Hosentaschen, machte einen Schritt zurück, als wolle er sich abwenden. „Kann ich ja wieder gehen", schob er hinterher und sah zu, wie die Falten im Gesicht seines Gegenüber zuckten.

    Der Alte räusperte sich und rang sich ein 'schon gut, schon gut' ab und, als wollte er zeigen, dass noch jede Menge Kraft in ihm steckte, richtete er sich auf und reckte das Kinn vor. Was ist mit dir? Kein Dienst mehr?

    Werd auch nicht jünger.

    „Also bleib. Bleib ruhig, wenn's dir Spaß macht", sagte er, und mit einigen geflüsterten 'Schon-guts' begann er sich umzuwenden, vorsichtig die Füße aufsetzend. Gleich einer halbierten Riesenbirne klebte 'Bob' am Kreuz des Alten. Kaum ein Zögern war sichtbar, als gebe es eine Hirnsonde, die der mechanischen Begleitung die Bewegungen seines Schützlings ankündigte.

    Frederik Grabers Blick folgte dem Gespann und haftete kurz am Typenschild, das über einem kleinen, fettig glänzenden Touchscreen am Hinterkopf der rollenden Riesenbirne klebte: Ca-Rob 2.4 daneben der TÜV-Stempel, in dem so etwas wie eine '2050' glitzerte.

    Plötzlich drängte der Lärm quietschender Reifen ins Haus, übertönte das Brummen des Robot-Motors. Graber machte auf dem Absatz kehrt, die Fäuste in Kampfstellung. Er konnte noch das schwarze Heck eines abbiegenden Roadsters sehen, doch anstatt loszupreschen, ließ er Fäuste und Schultern sinken.

    „Verdammt!, presste es aus ihm heraus „Verdammt nochmal! Wann hört der Alarmscheiß in meinem Hirn endlich auf! Er schloss die Augen und vor ihm waberte gleich einer Fata Morgana das Gesicht der feisten Psychologin. Das sei normal, schnarrte das Pfannkuchengesicht und Graber wich einen Schritt zurück. Ihre Wurstfingerhand hielt eine Pillendose in die Höhe und schüttelte sie, mahnte ihn, sie immer pünktlich einzunehmen, sonst schwanke der Serotonin-Spiegel und seine Stimmung könne schlagartig umschlagen und das wäre sehr, sehr unangenehm, und im Pfannkuchenrund rollten die Augen.

    Graber hob die Hände und presste die Handballen gegen die Schläfen. Irgendwann würde alles gut, redete er sich ein, irgendwann würde sein Hirn nicht mehr aus jedem Reifenquietscher einen Selbstmordattentäter machen. Er tappte zur Eingangstür und griff nach der Tasche. Der Irre war vorbei, nun folgten noch zwei Fahrzeuge, beide mit schwarzen Bändern an den Stummelantennen. Im ersten konnte er den Beifahrer erkennen. Sah nach Erhan Radeke aus, jenem Mann, dem nicht nur das große Haus um die Ecke samt Grundstück gehörte, sondern auch die Hütte, in die sich der alte Graber vor mehr als zwanzig Jahren eingemietet hatte.

    Er warf die Tasche in den Flur. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein neugieriger Vermieter. Kurz bevor er die Tür ins Schloss drückte, hörte Graber noch das Schrubben von Reifen in Kies und das Quietschen eines Garagentors; dann drehte er zweimal den Schlüssel, die Außenwelt war ausgesperrt. Für heute Nacht würde er hier bleiben, dem Rest der Montagsdemonstranten aus dem Weg gehen. Dass dieses Randzonenpack überhaupt noch in die Innenstädte gelassen wurde. Sollen doch froh sein, dass sie eine Grundsicherung bekamen. Und diese engagierten Intellektuellen, die dauernd von Freiheit faselten und von bösen Konzernen. Für ein paar Monate vom Netz abhängen und zum Kampfroboterölen in die Wüste schicken, das wäre das Richtige, dann würden die auch mit dem Soldaten-sind-Mörder-Mist aufhören. Er nahm die Tasche auf und folgte dem Schimmern, das aus dem Zimmer am Ende des Flurs flimmerte.

    Jemand gestorben bei Radekes?

    Ja. Die alte Frau Radeke.

    War ja alt genug.

    Ich war gerade den ersten Tag zu Hause. Da wecken mich die Sirenen vom Notarztwagen. Ich konnte die Leute im Garten hören und ich bin zum Fenster. Semra ist ...

    Sie ist was?, fragte Graber. Nur schweres Atmen antwortete ihm. Meine Fresse, brummte er man könnte meinen, deine Mutter wäre gestorben. Er drehte Richtung Küche ab und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks.

    ***

    Das hättest du mir vor zwanzig Metern sagen können, maulte Gerhard und stoppte den Wagen vor der Haustür. Die Statusanzeigen erloschen und das Display verabschiedete sich mit einem flammenden Sounddesign Rrrracer spirit.

    Was musst du auch wie ein Irrer fahren. Lena Radeke löste ihre Hände vom Seitengriff, starrte auf die Nackenstütze und den sauber gegelten Scheitel darüber, den weichen Nacken darunter und hätte ihm am Liebsten einmal ordentlich über den Hinterkopf geklatscht. Sie sah zu, wie das Auto ihrer Eltern vorbeiglitt, der Vater ernst nach vorne starrend, Lenas Zwillingsbruder kopfschüttelnd auf dem Rücksitz. Sie hatte es ja geahnt, der Schwager und seine coolen Nummern. Immer musste er ein Schippchen drauflegen. Nicht mal an einem traurigen Tag wie diesen konnte er den Poser in der Schublade lassen. Das würde das letzte Mal sein, dass sie mit ihm am Steuer im selben Wagen saß. Wie hielt ihre Schwester Julia das bloß aus?

    Für Gerhards Verhältnisse war das sehr dezent. Hab ich Recht, mein Lieber? Julia tätschelte seine Schulter. Das nächste Mal würde ich mich an deiner Stelle auf das Navigationsgerät verlassen. Sie öffnete die Beifahrertür, griff rechts und links mit den Händen an den Rahmen und zog sich nach oben. Und nicht auf dein Erinnerungsvermögen, murmelte sie und rückte ihren schwarzen Hosenanzug zurecht. Aber Gerhard hatte schon nicht mehr zugehört, war um das kurze Heck des Roadsters geeilt und klappte den Beifahrersitz nach vorne. Bröckelige Randsteine lugten über den Schweller und in den Fugen wachsendes Unkraut zitterte. Ein ernstes Gesicht ziehend hielt er Lena die Hand hin.

    Lass mich, fauchte Lena und rutschte auf dem Rücksitz Richtung Straße. Das könnte ihm so passen. Zusehen, wie sie mit ihrem engen Rock aus dem Fond des Autos auf den Bürgersteig krabbelte. Sie stieß den Fahrersitz nach vorne und wollte sich ins Freie schlängeln.

    Indessen war Malte die Einfahrt heruntergekommen und hielt nun seiner Schwester eine Hand entgegen.

    Na, kleiner Zwilling, hat's Spaß gemacht?, fragte er und zog sie in die Höhe.

    Probier es aus, sagte Lena und schlug die Autotür zu, Gerhard fährt bestimmt eine Runde mit dir.

    An der Straßenseite gegenüber quietschte eine Tür, dann folgte Schlappenschlurfen, das für einen Moment schwieg. Sie konnte die Neugier des Nachbarn förmlich spüren. Da hat der Tod ganz schön Leben in die Straße gebracht, dachte sie. Mehr als drei Menschen auf einmal und schon sucht man sich ein wenig Müll zusammen, um einen Grund für den Gang vor die Hütte zu haben. Und tatsächlich, der Deckel der Mülltonne klappte, dann knackte es. Nein, sie würde sich nicht nach dem kleinen Alten umdrehen. Er schien ein paar Zweige vom Gesträuch, das neben der Tonne wuchs, abzuknicken. Das machte er immer so, wenn er befürchtete, etwas zu verpassen. Das Gestrüpp zog sich am Haus und vor der Doppelgarage entlang. Hie und da lugten noch ein paar Pflastersteine hervor. Seit vielen Jahren brachte er anstatt Fahrzeuge Kaninchen darin unter. Und gelegentlich konnte man Nachbarn sehen, die mit leeren Beuteln hinein- und mit vollen wieder heraus marschierten.

    Das war das letzte Mal, murmelte Lena noch einmal und wandte sich zu der hinter ihnen parkenden, schwarzen Limousine, aus der die beiden Tanten ausstiegen.

    Jetzt übertreib doch nicht, winkte Julia ab und marschierte zum Haus der Eltern, gefolgt von ihrem achselzuckenden Ehemann.

    Ich fahre ja nicht so gern in die Randbezirke, sagte Tante Anna. Sie ergriff Lenas Arm und sah sich um, ein wenig geduckt, dann hinüber zum Nachbarn, der gerade die abgebrochenen Zweiglein ins Gebüsch warf. Er schien genug gesehen zu haben. Sah schicke Leute, noble Fahrzeuge, schwarze Bändchen, da konnte er beruhigt wieder in seinem Gehäuse verschwinden.

    Ist schon ein paar Jahre her, dass du hier warst.

    Drei Jahre?

    Eher vier, sagte Lena und führte die Tante um einen Hundehaufen herum.

    Es wird immer schlimmer hier.

    Lena sah das Zucken im Mundwinkel der Tante und wusste, dass deren statusgeübtem Blick nichts entgehen würde. Weder das sich zwischen die Pflastersteine fressende Unkraut, noch das aus verschatteten Ecken kriechende Moos. Bestimmt erinnerte sie sich an die Siedlung, wie sie vor fünfzig Jahren war, kindgerechte Reihenhausromantik, jedes Haus mit Garage an seiner Seite, gepflegte Vorgärten. Bis Schluss war mit Bullerbü, Familien von Pleitewellen hinausgespült wurden und andere mit Zwangsversteigerungen hineingeschwemmt. Die Radeke-Großeltern hatten Glück gehabt. Das Haus war abbezahlt, bevor eine der größten Bankenpleiten darüber hinweg schwappen konnte.

    Sie strichen an einem alten Lebensbaum vorbei und die Tante zögerte. Als würde hinter jeder Hecke ein Wegelagerer lauern, dachte Lena, sie sollte ihren Nachrichtenstream besser filtern. Sie seufzte und legte ihre Hand auf die der alten Dame. Unter normalen Umständen wäre ihr eine spitze Bemerkung herausgerutscht. Aber dies waren keine normalen Umstände. Noch vor einer Stunde waren sie vor dem ausgehobenen Grab gestanden, hatten zugesehen, wie sie die in weißes Tuch geschlagenen Überreste der Großmutter hinabließen. Der Vater hatte sogar einen Imam aufgetrieben, der die Gebete sprach. Wo er den wohl aufgetrieben hatte? Welches der Semra-Kinder war jemals in einer Moschee gewesen? Semra selbst hatte die Überzeugung vertreten, kein einigermaßen kluger Mensch brauche die Religion. Aber als wäre sie sich nicht ganz sicher gewesen, wollte sie doch nach muslimischem Ritus beerdigt werden. Und das musste schnell gehen - nur einen Tag Zeit für Planung von Leichenschmaus und Redner, eigentlich. Und so waren Semras drei Kinder mit Anhang zwei Tage später, unvorbereitet und ein wenig ratlos vor der Grube gestanden, so als müssten sie einem verpassten Zug hinterherschauen.

    Nur Malte schien alles andere als ratlos. Lena sah sich nach dem Bruder um, wie er mit der älteren Tante am Arm folgte.

    Sie hatten sich im Frühjahr das letzte Mal gesehen. Jeder war irgendwie mit irgendetwas beschäftigt gewesen.

    Semras Leiche wurde gerade in die Grube gesenkt, als Malte herbeigeeilt war. Lena hatte ihm zugenickt, aber er achtete nicht auf sie. Er hielt die Hände vor sich, Handflächen nach oben, als empfange er Gaben und schien etwas zu murmeln. Lena hatte die Bewegungen seiner Lippen beobachtet und konnte es kaum glauben - er murmelte dieselben Worte, die der Imam sprach. Malte wusste genau, was er da rezitierte. Keine Spur von jener Unsicherheit, die Menschen befiel, wenn sie ein halb vertrautes Lied mitsangen oder Gebet mitsprachen. Kein Kirchengemeindeecho, das immer einen Augenblick später einsetzte.

    Der von Semras Kindern engagierte Trauerredner war aus Anstand noch mitgekommen und im Hintergrund stehengeblieben. Er hatte anscheinend genauso wenig verstanden wie der Rest der Familie und war ehrlich bemüht gewesen, das aufkommende Gähnen zu unterdrücken.

    Wäre netter gewesen, wenn eine ihrer Garten-Freundinnen über Wachsen und Vergehen philosophiert hätte, dachte Lena, während sie der Tante im Vorraum aus dem Mantel half und ihn auf einen Bügel hängte. Anna blieb vor dem Spiegel stehen. Ein prüfender Blick. Das akkurat schulterlang geschnittene Grauhaar glattstreichend beugte sie sich vor. Lena sah ihr zu, wie sie über die unteren Lider ihrer vom Weinen geröteten Augen strich.

    Der älteren Tante genügte der Kontrollblick über den Scheitel der Schwester hinweg. Bei Marianne gab es selten etwas zu korrigieren. Die dunkel gefärbten Haare waren zu einem Knoten gebunden, aus dem sich keine Strähne zu lösen traute. Auch das dunkelblaue Kostüm und das schwarze, um die Schultern gelegte Tuch saßen, als hätte sie sich gerade eben frisch eingekleidet. Sie hatte es auch nicht nötig ein ID-Band um das Handgelenk zu tragen, als dass jemand wie sie die ID-Karte vergessen würde.

    Schön dich zu sehen, sagte Lena zu ihrem Bruder, als die beiden Tanten im Wohnzimmer verschwunden waren.

    Ich freue mich auch, sagte Malte und breitete ein wenig die Arme aus. Auch wenn mir ein anderer Anlass lieber gewesen wäre.

    Lena wollte ihn, so wie sie es immer getan hatte, kräftig drücken; aber Malte hielt nur ihre Schultern und hauchte eine Art Kuss in die Nähe ihrer Wange. Das war auch schon mal herzlicher, dachte Lena. Eigentlich hätte sie jetzt etwas mehr Emotionen gebraucht.

    Du bist dünn geworden, sagte Lena, seine Arme festhaltend.

    Ich hab viel zu tun.

    Und du konntest den ganzen Text auswendig. Sie musterte sein hageres Gesicht. Früher bildete die helle Augenfarbe einen netten Kontrast zu seinen dunklen Haaren, sehr beliebt bei den Mädchen. Jetzt blickten sie ernst, ja beinahe zornig auf die einen Kopf kleinere Schwester herunter.

    Wenigstens einer sollte bei der Beerdigung einer Muslima die richtigen Worte kennen.

    Du weißt, was unsere Großmutter über Religion dachte.

    Immerhin wollte sie nach dem rechten Ritus beerdigt werden. Für ihre Familie ist das ein Trost. Wenn auch ein schwacher.

    Diese tolle Familie war nicht einmal anwesend.

    Sie haben den Neffen geschickt.

    Der Beter ist ihr Neffe?

    Er nickte und wandte sich ab, um zu den anderen zu gehen.

    Und du? Malte?

    Und was.

    Bei uns war Religion noch nie ein Thema. Wie kommt es ...?

    Ich gehe denselben Weg, den unserer Vorfahren auch gegangen sind.

    Eine Hälfte unserer Vorfahren.

    Für mich eine wichtige.

    Katholisch hätte es ja auch getan; so wie bei Mutters Familie.

    Ist nicht meine Welt. Deine etwa?

    Meine auch nicht, ging es Lena durch den Sinn.

    Malte! Lena! Kommt ihr auch? Oder soll ich euch etwas vom Buffet in den Flur bringen?, rief die Mutter aus dem Wohnzimmer, und Lena war froh, dass sie ihm in diesem Moment nicht antworten musste.

    Wir kommen schon, Ruth, antwortete Malte und legte seiner Schwester die Hände an die Schultern. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über Religion zu diskutieren. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Wohnzimmer, wo sich Gerhard gerade mit einem vollen Teller vom Buffet löste.

    Toll, was du an diesem einen Tag organisieren konntest, liebe Ruth!, rief er und setzte sich an den Esstisch.

    Nur ein paar Kleinigkeiten, antwortete sie und winkte ihre Kinder herbei. Schön dass du es doch noch geschafft hast. Mutter und Sohn umarmten sich. Du siehst gut aus. Sie legte eine Hand an seine Wange und nickte zufrieden. Dann widmete sie sich wieder dem Buffet und schob die Häppchen mit einem großen Löffel zurecht.

    Hast du gehört?, flüsterte Malte seiner Schwester ins Ohr Mutter sagt, ich würde gut aussehen.

    Bei Mutter sieht alles gut aus, was nah an der Magersucht ist, antwortete Lena.

    Du bist unmöglich.

    Ach ja?

    Malte schüttelte den Kopf und ging auf seinen Vater zu. Der konzentrierte sich gerade darauf, eine Flasche Weißwein zu entkorken. Lena folgte ihm, spürte die heimlichen Blicke der Verwandten und ahnte, dass sie nicht ihrer Person galten. Sie alle hatten Malte beobachtet, wie er andächtig mitgebetet hatte. Vater und Sohn umarmten sich, hielten sich für einen Moment fest.

    Ich bin froh, dass du hier bist, sagte der Ältere, trat einen Schritt zurück und griff nach einem Weinglas.

    Nur Wasser bitte, sagte Malte.

    Als hätte jemand ein Kommando gegeben, war es für einen Moment still. Eine kleine Störung in der Verbindung, ein Stocken im Videoclip. Dann raschelte Kleidung, jemand räusperte sich und sie setzten ihre Gespräche fort.

    Erhan Radeke schien sich nicht darum zu kümmern. Er nahm die Wasserkaraffe und füllte eines der Saftgläser, reichte es dem Sohn.

    Ich hätte gern ein Glas Wein, sagte Lena und sah zu, wie der Vater einschenkte, betrachtete seine hängenden Schultern, den müden Ausdruck im Gesicht.

    Danke, sagte sie und hätte gern noch etwas hinzugefügt, aber er schob so konzentriert die Gläser auf seinem Getränketisch zurecht, dass sie sich abwandte. Geht ihm wahrscheinlich ähnlich wie mir, dachte Lena, er ist müde und traurig und würde sich am liebsten zurückziehen. Schon seltsam, sie nippte an ihrem Wein, da hältst du die Eltern dein Leben lang für unsterblich, und plötzlich, als hätte das Universum einen Sprung gemacht, bricht die Erkenntnis in dir auf, dass sie mehr Jahre hinter als vor sich haben. Ich sollte öfter hier vorbeischauen.

    Sie schlenderte zum Esstisch und stellte ihr Glas an einem Platz ab, der möglichst weit entfernt von Gerhard war.

    Das Buffet bot etwas für jeden Geschmack. Außer einer selbst gekochten Suppe, gab es appetitlich angerichtete Häppchen, verschiedene Brotsorten mit Dips und eine Käseplatte vom Lieferservice. Lena probierte von jedem und versuchte es dem Vater gleichzutun, indem sie sich auf ihre Speisen konzentrierte und nicht auf das durcheinander plätschernde Familiengemurmel achtete. Ab und zu warf sie einen Blick auf die Wand, an der ein großer Folienschirm haftete. Im Moment ruhte er in einer Art Dekor-Modus, zeigte eine Dünenlandschaft, in der die Grashalme ganz leicht im Wind zitterten. Am Rand konnte sie die Nachrichtenleiste erkennen. Ab und zu ruckten die Titel nach unten. Sie sah zu, ohne die Inhalte aufzunehmen, bis ein Absender auftauchte, der offensichtlich von einer Immobilienfirma kam. Darunter leuchtete grün und in kleiner Schrift der Anfang der Nachricht. Lena blinzelte ein wenig, ihre Hand mit dem Brotstückchen senkte sich. Sie würden sich bedanken ... für das Interesse an Wohneinheiten im S1- und S2 ... Mehr wurde nicht angezeigt. Kalt und unbeirrbar wie eine Schnecke schob sich Kräuterquark auf ihren Zeigefinger. Sie leckte die Masse ab und schob das Brotstückchen hinterher und überlegte, was das bedeuten könnte. Sie würden doch nicht von hier wegziehen wollen, das Anwesen womöglich verkaufen; oder doch?

    Ihr Blick richtete sich zur Fensterfront, zum Garten mit seinen Obstbäumen am Ende des Grundstücks; dort, wo sich die Strahlen der Nachmittagssonne zwischen die Blätter zwängten und helle Flecken auf einen herbstlichen Gemüsegarten malten. Allerdings musste Lena zugeben, dass diese Großmutter die einzige Person war, die sich tatsächlich für den Garten interessiert hatte.

    Semra war Ernährungswissenschaftlerin gewesen; allerdings eine, die ihre Nase lieber in Grünzeug als in Lehrprogramme oder Bücher steckte. Also gab sie praktische Kurse anstatt sich in Forschungslabors zu verkriechen. Sie gründete eines der bekanntesten Internetportale, über das jeder Hobbygärtner nicht nur Informationen einholen, sondern auch mit Gartengerät, Saatgut, Pflänzchen und seiner Arbeitskraft Teil einer Tauschbörse werden konnte. Genossenschaften sprossen wie Unkraut in den Regionen. Abgelegene Grundstücke wurden gekauft, gepachtet. Die Mitglieder trafen sich je nach Jahreszeit auf Märkten, tauschten und verkauften in steuerfreien Mengen. Alles vor den Nasen hilfloser Steuerbehörden und Agrarkonzerne, denen die Agrar-Anarchos ein Dorn im Auge waren.

    Lena strich über das Tischtuch, fühlte die Delle darunter, die sie als Kind mit Bleistift vollgekritzelt hatte, während Semra von früher erzählte. Sie hatte nicht genug davon bekommen können und sich jedes Mal gefreut, wenn die Eltern am Samstagabend ausgingen und Lena vorher mit Rucksack und Stofftier bei der Lieblingsoma absetzten.

    Geschichten über die kleine Semra, die nach ein paar Monaten auf der Grundschule schon besser deutsch sprechen konnte als der Vater. Wie sie der Mutter übersetzen musste, weil diese nie mehr als guten Tag, danke und bitte über die Lippen brachte. Wie die Lehrerin zu ihnen nach Hause gekommen war, um den Vater zu überreden, dass Klein-Semra unbedingt auf das Gymnasium gehöre.

    Weißt du, hatte Semra gesagt, deinem Urgroßvater waren Traditionen sehr wichtig; aber in diesem Punkt nicht. Ich habe es in seinen Augen gesehen, dass er unglaublich stolz auf sein schlaues Mädchen war. Dabei zwinkerte sie mit den Augen, leuchtende Augen, so schwarz wie der Kaffee, den sie immer neben sich auf dem Tisch stehen hatte.

    Lena stand auf, um Teller und Besteck in die Küche zu bringen, dachte an die Stunden, die sie mit der alten Dame im Garten verbracht hatte, an neongelbe Gummistiefel im Winter und nackte, erdige Füße im Sommer und lächelte unwillkürlich ...

    Na? Was geht dir denn im Kopf herum? unterbrach die Stimme des Vaters ihre Gedanken.

    Omasema.

    Omasema, sagte der Vater und musste lachen. Wie sie diesen Namen gehasst hat. Er nahm ihr Teller und Besteck aus der Hand und räumte alles in die Spülmaschine.

    Wer würde sich jetzt um den Garten kümmern?, fragte sich Lena. Mutter Ruth bestimmt nicht. Der Vater vielleicht? Und was hat es mit dieser Nachricht auf sich? Aber sie schluckte die Frage hinunter. Nicht heute. Wer weiß,

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