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Abgründe
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eBook348 Seiten4 Stunden

Abgründe

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Über dieses E-Book

Schweiz, 1924: Thomas Vögtlin, im Waisenhaus aufgewachsen, leidet seit seiner Kindheit an Asthma. Seit langem raucht er deswegen spezielle Kräuterzigaretten, deren Inhaltsstoffe potentiell Halluzinationen hervorrufen können. Sind die unheimlichen Erscheinungen, welche ihn im Verlauf der Geschichte immer öfters heimsuchen, real, oder doch Erzeugnisse seiner eigenen Vorstellung? In dem Buchladen, wo Thomas arbeitet, lernt er derweil den gebürtigen Engländer Alexander Hawthorne kennen. Unter der harten Hand desselben erfährt Thomas während ihrer körperlichen Kontakte, was es heißt, sich völlig jemandem hinzugeben. Eine volatile Beziehung baut sich fortan zwischen den beiden auf, und Thomas muss feststellen, dass er ohne die rohe Gewalt, welche Alexander ihm erteilt, kaum mehr existieren kann. Doch sein Geliebter hat ein dunkles Geheimnis, dessen Entdeckung Thomas bald vor eine alles entscheidende Wahl stellt ....
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum1. Jan. 2016
ISBN9783863615406
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    Buchvorschau

    Abgründe - R. Stühlinger

    Prolog

    Der Traum

    1.

    Erst war nur der ohrenbetäubende Donner von Hufen zu hören: Ein beständiger, hypnotisierender Rhythmus, wie magisches Trommelfeuer, der sich mit dem angestrengten Schnauben des ausgemergelten Pferdes und dem Rauschen des Windes verband, die helle Mähne des dahin galoppierenden Rotschimmels wild darin flatternd.

    Thomas wurde sich seiner Hände bewusst, welche die Zügel hielten, wie ein Ertrinkender das rettende Tau umklammert; seiner vom langen Reiten steif gewordener Schenkelmuskel, welche sich schmerzlich in die von Schweiß bedeckten Flanken des Ponys stießen. Der Anblick, der sich rund um ihn herum bis zum grau-nebligen Band des Horizonts bot, stieß Dolche der Trauer durch sein Herz, doch größer noch wogte in ihm grenzenloser Zorn und jene seltsam grimmige, berauschende Vorfreude, welche jeweils frisches Adrenalin durch den Körper treibt und einen nur dann völlig einnimmt, wenn die Ausführung eines lang ersehnten Racheaktes unmittelbar bevorsteht.

    Vor ihm lag das uralte Land völlig kahl – das namenlose Monster hatte in seiner Unersättlichkeit alles gefressen, was es in seine Krallen bekommen konnte: Die Fische im Fluss, die Rehe im Wald, Früchte an Busch und Baum, sogar Gras, Wurzeln. Es gab keinen Lachs mehr, keinen Stör, weder Heidelbeere noch Traubenkirsche. Aus dem ewigen, absoluten Dunkel des Meeres war die Chimäre empor gestiegen und bedrohte nun alles Leben auf dem einstmals so üppigen, gut gedeihenden Land.

    Als ältester Sohn des Häuptlings war Thomas aufgetragen worden, das Monster zu töten und so nicht nur den bereits stark dezimierten Stamm der Cayuse vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren, sondern mit seiner heldenhaften Tat ebenso das aus den Fugen geratene Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen.

    Da das Monster in seiner verheerenden Fresssucht keinen Gedanken an Gefahr verschwendet und jegliche potentielle Verstecke bereits selbst zerstört hatte, war es denn auch leicht ausfindig zu machen: An der Flussgabel des Columbia, welche zwischen den hügeligen Niederungen der Blauen Berge verschwand, hatte es Thomas schon von Weitem erspäht: Wie es sich dort zu seiner vollen Größe aufgebaut hatte, sein Körper eine einzige graue, wabernde Masse, und ihm laut schnaubend entgegenblickte, sich einer weiteren Mahlzeit bereits gewiss.

    Sein riesiger Schatten umfing jetzt Thomas und sein Pony, und das Böse, welches innerhalb dieser scharf umrissenen Grenzen absolut war, ließ das Pferd aus Furcht laut aufwiehern. Ein Schauder ging durch seinen ausgemergelten Körper, die wässrigen Augen dabei gen Himmel rollend. Doch Thomas’ Hand blieb fest am Zügel. Er flüsterte seinem Tier beruhigende Worte in die zitternden Ohren, kraulte dessen weichen Nacken. Stetig ritten sie also weiter, dem Unding entgegen.

    Immer zögerlicher wurde der Huftritt seines Ponys, je weniger Distanz zwischen ihnen und dem Scheusal lag. Thomas ließ seinen Blick kurz an sich herunter schweifen – das eine Ende eines starken Seils hatte er um seine Taille fest gemacht, das andere um seinen Arm gewunden. In einem Beutel trug er Kienspan und Flintstein mit sich. Diese Dinge, so simpel und alltäglich wie sie zunächst schienen, waren die Waffen, mit deren Hilfe der Häuptlingssohn das Scheusal zu besiegen hoffte.

    Unvermittelt rissen Thomas’ Gedanken an dieser Stelle ab, wurde sein Bewusstsein mit einem Schlag in tiefste Schwärze getaucht. Wie er der Kreatur schlussendlich entgegen getreten war, blieb ihm dadurch selbst ein Rätsel – als er nämlich das nächste Mal zu sich kam, lag er im vertrauten Zuhause seiner Familie, das verbliebene Cayuse-Volk um sich versammelt. Man hatte ihn gebadet und in frische Kleidung gehüllt.

    So sehr er sich auch bemühte, die verloren gegangenen Erinnerungen aus ihrem nebligen Dunkel heraufzuholen, vermochte er sich jeweils nur an sein langsames, stetiges Heranreiten in die unmittelbare Nähe des Scheusals zu entsinnen, dann ein abruptes Nichts; ein zeitloses Dahingleiten im Dunkeln.

    Sein Vater, der Häuptling, hatte verständnisvoll mit dem Kopf genickt und ihm erklärt, der mächtige Geist des heiligen Vaters sei in ihn gefahren und hatte mit irdischen Waffen - Flintstein und Kienspan - nicht nur das Monster besiegt, sondern dank den vorübergehenden, übernatürlichen Kräften, welche in Thomas’ sterblichem Menschenkörper gewirkt hatten, alle gestohlenen Dinge aus dem riesigen Bauch der Bestie geholt und wieder an ihren vorbestimmten Platz zurückgebracht: Fische, Paarhufer, die Früchte des Waldes, Wurzeln und Erde. Lange hatte man um Thomas’ Leben gebangt, fuhr der Häuptling weiter, als sie ihn fast leblos auf seinem Pony sitzend vorgefunden und er danach noch mehrere Tage in einem tiefen Fiebertraum gelegen hatte.

    So konnte die Natur dank diesem Wunder heilen, wieder sprießen und gedeihen, und die Cayuse selbst waren dem schon sicher geglaubten Hungertod entkommen. Das Volk hielt Thomas und dem Großen Geist zu Ehren ein rauschendes Fest, das einen ganzen Monat andauerte, und man erinnerte sich seines Namens auch dann noch, als der Cayuse-Stamm schon längst nicht mehr existierte, und die Begebenheiten jener Tage zu einer phantastischen Legende geworden waren.

    Erster Teil

    Von der Sehnsucht in welken Herzen

    2.

    Wie so oft erwachte Thomas im Dämmerlicht eines gerade beginnenden Tages, wie aus weißen Nebelfluten demselben Traum entstiegen, der ihn bereits seit seiner Kindheit gleich einem treuen Kumpanen begleitete.

    Damals, als ihm Diakonisse Dörli die Geschichte mindestens einmal in der Woche vor dem Einschlafen erzählte, hatte er ihren Worten ohne zu zögern seinen kindlichen, von Zweifeln noch unangetasteten Glauben geschenkt, und sein Unterbewusstsein die Erzählung mit der Zeit mehr und mehr ausgeschmückt. Zwar handelte es sich um eine äußerst phantastische Narration, die in mehreren Punkten so gar nicht in das Bild einer devoten Christin passte, doch der damals nicht ganz zehnjährige Thomas hatte der Sage jedes Mal mit zappeligen Gliedern und Ungeduld im Kopf entgegen gefiebert. Für ihn hatte die Geschichte – um Frau Dörlis bewusste Auslassung des eigentlichen Tötens der Bestie war Thomas damals froh gewesen –, eine Art Flucht aus der Wirklichkeit bedeutet, welche ihn auf so verstörende Weise gefangen hielt.

    Im Waisenhaus Balters, benannt nach dem einstmaligen Gründer, hatten strenge Regeln geherrscht: Hiebe mit dem Rohrstock oder Ohrfeigen waren nichts außergewöhnliches, aber die Gewalt hielt sich doch in Grenzen, gerade wenn man darum wusste, dass es weitaus schlimmere Orte gab, in die es einen hätte verschlagen können. Es gingen regelmäßig regelrechte Horrorgeschichten von anderen Heimen, wie auch von Familien um – für letztere hatten nicht wenige der Jungen vor ihrer Umsiedlung nach Balters arbeiten müssen.

    Man wurde also im Waisenhaus von Sankt Crux von den Erwachsenen mit einer gewissen Art Respekt behandelt, so lange man sich zu benehmen wusste. Doch unter den Burschen selbst herrschte ein ganz anderes Umfeld: Man wurde bestraft, sobald man aus irgendeinem Grund aus dem ohnehin schon zerrupften, zerschlissenen Knäuel an Waisen, Armen und Vernachlässigten herausstach. Thomas selbst hatte die Härte der Rute in den Händen der Erwachsenen der kreativen, gewissenlosen Brutalität der Kinder vorgezogen: Die anderen Jungen hatten sich jedes Mal eine neue Schikane für ihn ausgedacht, mit frischem Tatendrang darauf erpicht, bereits erlangte Stufen an Grausamkeit noch zu überbieten und dabei ja nicht von einer Aufsichts- oder Lehrperson erwischt zu werden.

    Thomas war zunächst ein leichtes Opfer gewesen, musste er doch für mehrere Jahre eine korrigierende Beinschiene tragen, deren Wirken selbst nach Jahren ohne das umständliche, metallene Ding noch an einem leichten Hinken des rechten Beines auszumachen war, und die ihn zur sofortigen Zielscheibe der schlimmsten Rüpel machte. Hinzu kam, dass er seit jeher von schmächtigem Körperbau war und ihm aufgrund einer zu Beginn vermeintlich harmlosen Kurzatmigkeit, welche sich kurz nach seiner Aufnahme im Heim das erste Mal gezeigt hatte, die Ausdauer beim Sport und Spielen fehlte. Diese Mixtur führte zu Gelächter, Ausgrenzung, nicht selten Prügeleien.

    Die Streiche, welche Thomas gespielt und die Schuld, welche ihm oft auf boshafte Weise zugeschoben wurden – all diese Dinge endeten an jenem Tag, an dem die Kombination aus kalter Luft und der obligatorischen, sportlichen Betätigung frühmorgens nicht nur einen unangenehmen Hustenanfall bei ihm auslöste, sondern ihn gar keuchend vor Atemnot auf den mit scharfem Splitt bestreuten Boden sinken ließ. Thomas erinnerte sich nur allzu klar an die Agonie dieses ersten Anfalls; an die Reihen der zuvor noch kichernden, rotwangigen Burschen in ihren eierschalenfarbenen Hemden, den steifen Westen und zig mal geflickten Kniehosen, und wie sich diese während seiner Atemnot in stumme Schattengestalten aufgelöst hatten. Er war völlig allein gewesen mit seiner panischen Angst vor dem Ersticken und seinem Unvermögen, nach Hilfe zu rufen. Erst nach mehreren Minuten, unter der Aufsicht einer Lehrperson, welche ihm zwar gut zuredete, ihm in jeglichen physischen Belangen jedoch nicht zu helfen vermochte, hatte er sich langsam erholt.

    Zwar gebot dieser ernsthafte Ausbruch seiner Erkrankung den Schikanen, welche er aufgrund der anderen Jungen durchgemacht hatte, endgültig Einhalt, sie beförderte ihn jedoch gleichzeitig in völlige Abgeschiedenheit. Man hatte nun Angst, mit den Hänseleien einen erneuten Anfall bei ihm auszulösen und mied den kranken Buben fortan vollkommen.

    Einige der Jungen waren zwar regelrechte Tyrannen, doch selbst diese waren von dem Vorfall auf die eine oder andere Weise betroffen gewesen und hatten nicht gewusst, wie sie sich Thomas gegenüber nun zu verhalten hatten. Mehr als seine Not aber war es ihr eigenes Gefühl unangenehmer Verlegenheit gewesen, Zeuge eines solch grotesken Schauspiels gewesen zu sein, das sie dazu bewog, ihn von diesem Zeitpunkt an in Ruhe zu lassen.

    Ausgegrenzt wie er seitdem war, hatte er in der darauf folgenden Zeit nur die junge Diakonisse als Gesellschaft, welche wenige Wochen nach dem Vorfall dem sozialen Engagement ihres evangelischen Wohlfahrtsverbundes entsprechend im Waisenhaus zu arbeiten begann. Sie erkannte sofort die Isolation, in der sich Thomas befand, und ebenso die Gefahren, welche ebendieser innewohnte.

    Sonderbehandlungen waren zwar gemeinhin verpönt, aber da Thomas ernsthaft krank war, verlor niemand darüber böse Worte, wenn Frau Dörli, ihr ovales Gesicht von zarter rosiger Färbung lieblich aus der steif gestärkten, weißen Kopfbedeckung heraus leuchtend, sich ein bis zwei Abendstunden pro Woche, – es waren in der Gruppe, welcher Thomas angehörte, immerhin fünfzehn andere Jungen anwesend, insgesamt gab es noch etwa vier weitere, gleichgroße Abteilungen in dem Haus –, ein wenig um den Burschen kümmerte und ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zur Verfügung stellte. Manchmal brachte sie Salben oder Kräuter, mit deren Hilfe sie Thomas’ Asthma einzudämmen gedachte: Knoblauch und Zwiebeln verwendete sie in einem Umschlag auf seiner Brust; sie stellte Schüsseln an dampfendem Wasser, das Rosmarin, Salbei und Thymian enthielt und welches inhaliert wurde, neben seine Schlafstätte; er trank den Saft der Nesselwurzel, der unangenehme Geschmack von mildem Honig kaschiert.

    Ihre Besuche bei ihm endeten ausnahmslos mit der Geschichte vom Indianer und dem Monster – kein einziges Mal musste sie von Thomas daran erinnert werden, so sehr lag ihr sein seelisches Befinden am Herzen; denn die Geschichte vermochte den sonst eher melancholisch veranlagten, in sich gekehrten Jungen für einige Zeit in ein aufgewecktes, freudiges Kind zu verwandeln.

    In ihrer Version blieb der junge Indianer namenlos und die Herkunft des Monsters wurde nicht erklärt, aber Thomas hatte sich schnell in die Rolle des Helden hinein gedacht, der als einziger dazu imstande war, dem Scheusal dessen hässliche Gestalt und Taten auf symbolische Weise dem entsprachen, was ihm im Waisenhaus unter der Grausamkeit der anderen Kinder widerfahren war, den Garaus zu machen. Als Cayuse-Knabe war er taff, konnte seinen Peinigern mutig entgegentreten.

    Sein erster Asthmaanfall hatte der Erzählung eine weitere Dimension verliehen, stellte das Scheusal doch in gewisser Weise auch ein weiteres Übel dar: Seine eigene Erkrankung, welche aus dem ohnehin schon schmächtigen Kind ein zerbrechliches, zu dauernder Anspannung geneigtes Wesen hervorzubringen drohte. Der Diakonisse war es zu verdanken, dass der heranwachsende Junge eine gewisse psychische Stärke erlangte, die ihn zwar sensibel bleiben ließ, ihn jedoch mit einem Minimum an Selbstsicherheit versorgte und ein gewisses Maß an dringend benötigter, seelischer Stabilität mit sich brachte, auch wenn diese, wie sich später herausstellen würde, von einer eher fragilen Natur war und leichter aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, als Thomas lieb war.

    Frau Dörli hatte immer betont, dass die Gewalt, mit der der Indianer das Unding in der Erzählung überwand, von einer puren, absoluten Notwendigkeit gewesen war, und nur aus diesem einen Grund von Gott akzeptiert wurde:

    „Rache ist ein Verrat am eigenen Herzen. Was der Indianer tat, geschah nicht aus Eigennutz, sondern aus Liebe zu seinem Stamm und zur Erde, die er bewohnte, belehrte sie ihn einmal, als er ihr beichtete, er sei noch immer wütend auf die Burschen im Heim, welche ihm Leid angetan hatten, und würde es ihnen am liebsten heimzahlen. „Sei selbstlos, aber vergiss nicht, dass dein eigener Schmerz zum Leid der anderen beiträgt. Darum sollst du dich zuerst selber lieben, damit du auch andere lieben kannst.

    Er hatte sich diese Ratschläge eingeprägt wie man etwas, das für die Ewigkeit bestimmt ist, tief in eine Baumrinde einritzt, auch wenn ihm besonders die Sache mit der Eigenliebe mit dem Heranwachsen immer schwerer gefallen war.

    Ebendiesen Worten der Diakonisse entsann er sich nun wieder, als er gegenwärtig in das fahle Zwielicht blinzelte, das vorsichtig durch die kleine Luke hoch in der Wand seines Zimmers hindurch geschlichen kam wie dünne, transparente Geisterfinger.

    Als seine nackten Füße den Boden berührten, schlug die Kirchenuhr im Ort gerade Sechs, ließ die vibrierenden, bauchigen Töne sich mühsam durch Gassen, um Ecken und über Plätze der Stadt winden, bis sie dünn und kraftlos an Thomas’ Ohren drangen. Fröstelnd schlug dieser eine kratzige, dünne Wolldecke um sein dünnes Nachthemd und versuchte, sich ein wenig der chronischen Steifheit zu entledigen, die um diese Jahreszeit immer tief in seinen Gliedern steckte.

    Es war so kalt in dem Zimmer, dass Thomas seinen eigenen Atem sehen konnte. Er seufzte. Notgedrungen würde er Lempke um mehr Kohlen bitten müssen, um seinen kleinen Ofen die ganze Nacht hindurch betreiben zu können, oder seine ohnehin fragile Gesundheit würde ohne Frage noch mehr Schaden nehmen. Seit gut sechs Jahren war es dieselbe Leier: Der Alte weigerte sich aus schierer Knausrigkeit, seinem Angestellten und Untermieter mehr Brennstoff abzugeben, worauf Thomas in seinem Kämmerchen im Keller des Buchladens entsetzlich fror. Wenn er jeweils auf seine freundliche, respektvolle Art bei seinem Vorgesetzten um mehr Kohlen bat, beschuldigte ihn Lempke wiederum der maßlosen Gier, schimpfte über mangelnde Wertschätzung, drohte ihm mit dem Rausschmiss. Bereits mehrere, schwere Asthmaanfälle waren die zwingende Folge von Lempkes Geiz gewesen, über welche irgendwann auch die Öffentlichkeit unterrichtet war, und worauf der Alte, immerzu bemüht darum, seinen Ruf in der Stadt zu wahren, schließlich doch klein bei gab und Thomas, mit einigem Murren, ein paar Kohlen mehr abgab. Den besorgten Kunden versicherte er derweil, jegliche Anfälle des Jungen seien rein psychologischer Natur und hätten nichts mit allfälligen Bedingungen in den Räumlichkeiten seines eigenen Ladens zu tun.

    Mit einem Stück Holz stocherte Thomas in der toten Glut des freistehenden Ofens und dachte mit Widerwillen an die bevorstehende Konversation mit Lempke und das darauffolgende, unumgängliche Prozedere. Es würde Wochen dauern, bis er wieder genug Brennstoff hatte, und bis dahin würde ihn sein Körper für die ständig kalte, trockene Luft, die seine kranken Lungen aufzunehmen hatten, zweifelsohne bestrafen. Nie hatte er sich an die Anfälle gewöhnen können, die ihn überkamen, und welche im Waisenhaus über die Jahre hinweg an Intensität zugenommen hatten. Zwar hatten die natürlichen Heilmittel, welche ihm Frau Dörli jeweils verabreicht hatte, vorübergehende Erleichterung gebracht, doch insgesamt war seine Krankheit in einer immer steileren Kurve verlaufen, sodass Kräuter und Wickel bald nur noch bedingt halfen.

    Einmal hatte er beim Arzt Epinephrin inhaliert, nachdem ihn die Atemnot besonders heftig erwischt hatte, aber das Heim vermochte die Kosten einer weiterführenden Behandlung nicht zu tragen, und der Weißkittel selbst hatte sich unwillig gezeigt, dem damals elfjährigen Thomas zu helfen, ohne dafür entsprechend entlohnt zu werden. Was ihm der Medikus stattdessen als Alternative empfohlen hatte, waren Zigaretten. Diese speziellen Glimmstängel enthielten statt Tabak die getrockneten, gemahlenen Kräuter von Pflanzen wie dem Stechapfel und der Tollkirsche, sogenannte Nachtschattengewächse. Der Wirkstoff ebendieser sollte seine Bronchien öffnen und ihm so beim Atmen helfen.

    Zu dem Zeitpunkt konnte sich Thomas jedoch keine dieser angeblichen Wunderzigaretten leisten – er bekam für seine Arbeit im Heim keinen Lohn in Form von Geld, und so hatte er auch kein Erspartes vorzuweisen.

    Von der Diakonisse an die Tugenden eines reinen Herzens ermahnt, hatte er sich seit ihrer Ankunft immer anständig verhalten, hatte nie Unfug gestiftet oder war der Arbeit im Heim fern geblieben. Selbst dem Onanieren, so selbstverständlich bei anderen Jungen in seinem Alter, entzog er sich jeweils so lange, bis er es nicht mehr aushielt und sich flüchtig, unter dem Bettlaken, Erlösung verschaffte. Doch nun verspürte er zum ersten Mal einen Drang in sich, Regeln zu brechen. Da keine Aussicht auf Heilung seines Leidens bestand, – im Gegenteil, der Arzt hatte ihm mit neutraler Stimme kund getan, dass schon der nächste Anfall Thomas’ letzter sein konnte –, war er aus Not dazu getrieben, sein eigenes, eigentlich gutes Wesen zu verraten und sich die so dringend benötigten Kippen auf einem anderen Weg zu beschaffen.

    Das erste Mal war es ihm nicht gelungen, sich unauffällig zu verhalten und mit neutralem Gesichtsausdruck im Geschäft von Herrn Müller umherzugehen, weshalb er nach wenigen Minuten mit klopfendem Herzen bereits wieder draußen in der prallen Mittagssonne gestanden hatte, einen leichten Husten zu kaschieren versuchend. Er hatte sich wieder gefangen, in dem er sich immer und immer wieder einredete, der namenlose Indianer aus Frau Dörlis Erzählung zu sein. Unter den beschwichtigenden Worten war seine Brust mit furchtlosem Heldenstolz geschwollen und seine Physiognomie hatte eine ungewohnte, absolute Ruhe ausgestrahlt. Wenn er schon ein Monster zur Strecke bringen konnte, so würde so ein kleiner Diebstahl eine Nichtigkeit für ihn sein. Mit dieser Überzeugung im Herzen konnte er nun seinem Vorhaben auf ein Neues entgegen treten.

    Kaum hatte seine Hand die Klinke an der Tür herunter gedrückt, bimmelte das helle Glöckchen darüber, und er trat erneut in das kühle Halbdunkel der Drogerie, den Verkäufer Verkäufer ohne ein verdächtiges Zittern in der Stimme kurz grüßend, die Zigaretten im Laden rasch ausfindig machend. Er konzentrierte sich nur auf sein Ziel, wartete geduldig darauf, dass der Mann hinter der Theke für einen kurzen Augenblick von einem anderen Kunden abgelenkt würde, sodass er das ersehnte Päckchen entwenden und in seine Jackentasche stecken konnte.

    Die Asthma-Zigaretten standen in Reih und Glied auf der äußersten, rechten Seite der Verkaufstheke. Thomas musste sich zwar auf die Zehenspitzen stellen und über die Ecke der Theke langen, doch es gelang seinem vom Kampf gestählten, geschmeidigen Indianerkörper, sich lang zu machen und ein ersehntes Päckchen zu erhaschen.

    Herr Müller war gerade mit einer Kundin am Reden gewesen, als Thomas die Tat beging. Außer einem kurzen Blick in seine Richtung und einem abwesenden Nicken, als der Knabe, sich auf höfliche Weise verabschiedend, bereits aus der Tür heraustrat, hatte er dessen erneute Anwesenheit im Laden kaum zur Kenntnis genommen.

    Den ersten Zug an dem vermeintlichen Wundermittel tat Thomas in einem nahe gelegenen Buchenhain, an einen dicken Baumstamm gelehnt, der ihn vor neugierigen Blicken schützte. Er war schnell wieder zu dem halbwüchsigen Jungen geworden, der er nun einmal war – der selbstlose Mut des Indianers hatte ihn verlassen, sobald er mit seiner Beute aus der Drogerie herausgekommen war. Noch auf dem Randstein vor dem Geschäft stehend, sein Herz bis zur Kehle hinauf pochend, war ihm mit einem heftigen Schlag bewusst geworden, dass er nun ein Dieb war, und er hatte sich sogleich für seine Tat geschämt. Auf eine abstrakte Weise hatte er damals wohl an einen Gott geglaubt, der ihn für diese Sünde zweifelsohne bestrafen würde, aber weitaus schlimmer war für ihn der Gedanke gewesen, dass Frau Dörli irgendwie von seinem kriminellen Vergehen erfahren und ihn dafür vielleicht sogar verlassen würde.

    Die Vorstellung einer erneuten, nun endgültigen Vereinsamung konnte er nicht ertragen, und so war er sofort los gerannt, Richtung Wald. Das Asthma hatte fast zeitgleich eingesetzt, und als er sich, bereits ein bedeutendes Stück in das knirschende Blätterwerk vorgedrungen, endlich gegen eine mächtige Buche hatte fallen lassen, war die Atemnot so groß gewesen, dass er den Glimmstängel erst nach minutenlangem, nervösem Gefummel und mit einer ganzen Anzahl an verbrauchten Streichhölzern, welche er vor Wochen zufällig hinter dem Schuppen beim Garten des Heims gefunden hatte, zu entflammen vermochte. Der erste Zug brachte erst noch mehr Husten, Beengung und Angst, doch Thomas zwang sich dazu, einen zweiten zu tun, dann noch einen ... Er konnte fast fühlen, wie seine Lungen gierig den Wirkstoff des Rauches in sich aufnahmen und sich die Bronchien endlich zu weiten begannen.

    Sein Brustkorb hob und senkte sich bald ohne Husten, er atmete ohne Keuchen oder Pfeifen, ohne Schmerzen. Tränen der Erleichterung waren über seine Wangen gelaufen und er hatte seinen Kopf zurück gelehnt, die Augen geschlossen. Hatte an nichts Bestimmtes gedacht, sondern war nur ruhig da gesessen, seinem eigenem Atem lauschend, der nun gleichmäßig, ohne Behinderung durch seinen Körper strömte.

    3.

    Seine Finger waren so steif, dass er Schmerzen verspürte, als er die ersten paar Bündel aufknotete. Er schüttelte die von Frost rot verfärbten Glieder, steckte sie kurz unter seine Achseln, hauchte warmen Atem auf die raue Haut, machte sich an das nächste Bücherpaket.

    Die Werke hier im Raum, welcher direkt neben seiner Kammer lag, stapelten sich bis unter die Decke, und doch trafen stets frische Kundenbestellungen ein; es war ein nie abreißender Fluss, dessen Quelle einerseits in der Tatsache zu finden war, dass es in Crux eine Universität gab und die Schüler für ihre Studiengänge in den verschiedenen Geisteswissenschaften zusätzliches Material brauchten. Andererseits, und weitaus ergiebiger für das Geschäft, war der Umstand eines schweren Brandes in der Bibliothek der Akademie von vor zwei Monaten. Dieser hatte die Mehrzahl der dortigen Bücher vernichtet oder zumindest unleserlich gemacht, weswegen Lempke und Thomas seitdem geradezu in Arbeit ertranken. Es würde einige Zeit dauern, bis die Universität wenigstens einen gewissen Teil ihres Bücherbestandes wiederbeschafft hatte, und so herrschte die ganze Woche über, jedoch besonders an Samstagen, reges Treiben im Geschäft.

    Lempke den Menschen im Allgemeinen eigentlich abgeneigt, konnte nicht umhin, sich über den zusätzlichen Umsatz zu freuen, und er hoffte wohl insgeheim, der Schule würde das Geld für die Wiederbeschaffung ihres Bestandes irgendwann ganz ausgehen. Wohl hatte der Alte der Universität angeboten, sie in diesem Unterfangen zu unterstützen, doch der Schulrat wollte die Bücher nicht zum regulären Preis einkaufen, was Lempke mit einem von Achselzucken begleiteten „Selber Schuld, die Trottel", kommentiert hatte.

    An diesem Morgen war das Knattern des Motorrads ein wenig später als sonst erklungen und Thomas hatte schon auf der Hintertreppe mit verschränkten Armen und nicht still Stehen wollenden Füssen gewartet. Er wollte die Fuhre so schnell wie möglich in den Keller bringen und aus dieser verdammten Kälte herauskommen, wenn auch die Temperatur im unteren Geschoss nicht viel angenehmer sein würde als hier draußen.

    Das Motorengeräusch wurde jetzt lauter, hallte zwischen den eng stehenden Häusern wider, ebenso das Scheppern des Anhängers, der rhythmisch auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug. Das Tempo wurde in der letzten Kurve ein erstes Mal gedrosselt, das helle Flatterhaar von Benjamin nun in Thomas’ Blickfeld eintretend, ebenso dessen übergroße Fahrerbrille, die ihn wie ein monströses Insekt aussehen ließ, und sein langer, roter Schal, den Thomas immer mit besorgtem Blick beobachtete; es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die gestrickte Schlange eines Tages in einem der Räder verfangen würde. Aber Benjamin wollte auf keinen Fall auf den potentiell gefährlichen Schal verzichten: „War ein Geschenk von meiner Herzdame vor unserer Hochzeit, als ich ihr noch den Hof machte. Hat sie selber gemacht, den leg ich nie mehr ab", hatte er einmal verschmitzt lächelnd erwähnt und Thomas dabei einen kleinen Stoß in die Rippen gegeben.

    Sein Kollege winkte jetzt kurz, drosselte noch einmal die Geschwindigkeit der NSU, bremste dann ruckartig. Er kam direkt vor der Treppe zu stehen.

    „Verdammt kalt heute, wie?", klapperte es durch seine Zähne hindurch. Das Geräusch erklang von neuem, als er vom Motorrad stieg, seine

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