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Mein Herz ist still und will es: Selbstbestimmt leben und sterben – vier freie Entscheidungen
Mein Herz ist still und will es: Selbstbestimmt leben und sterben – vier freie Entscheidungen
Mein Herz ist still und will es: Selbstbestimmt leben und sterben – vier freie Entscheidungen
eBook417 Seiten5 Stunden

Mein Herz ist still und will es: Selbstbestimmt leben und sterben – vier freie Entscheidungen

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Über dieses E-Book

Durch unsere Entwicklung durften wir lernen, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Wer sollte es uns dann verwehren, auch selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen? Serge, Alma, Giada und Marcell wollen so wie jetzt nicht mehr weiterleben. Ihre Beweggründe sind unterschiedlich; was sie eint, ist der Wunsch, ihre Entscheidungbewusst, selbstverantwortlich und in Würde treff en zu können. Sie wenden sich an Herrn Blau, der ihnen eine 12-tägige Klausur in der Stille, ohne Kontakt zu anderen auferlegt. Jeder der vier setzt sich dieser Stille aus. Jeder durchläuft seinen eigenen inneren Prozess. Jeder ist am Ende bereit für seine eigene Entscheidung. Der Sterbe- und Trauerbegleiter Michel Arndt will mit diesen vier persönlichen Sichtweisen zum vielstimmigen Diskurs über Sterbehilfe beitragen. Im Rahmen seiner Arbeit hat er die Erfahrung gemacht, dass die meisten Antworten auf Fragen und Probleme im Menschen selbst schlummern. Mit seinem Buch bietet er eine Art Spiegel an, in dem der Leser, die Leserin sich selbst etwaige Fragen stellen oder die im Buch gestellten für sich selbst refl ektieren können.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Sept. 2023
ISBN9783969407677
Mein Herz ist still und will es: Selbstbestimmt leben und sterben – vier freie Entscheidungen

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    Buchvorschau

    Mein Herz ist still und will es - Michael Arndt

    VORWORT

    Dies ist ein Buch über den freien Willen, über die Würde des Menschen. Mit diesem Buch möchte ich zum vielstimmigen Diskurs über die Sterbehilfe beitragen.

    Zum grundlegenden Verständnis eine Begriffsklärung:

    Ein Suizid ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens. Suizid: lateinisch sui, seiner [selbst], und caedere, töten. Im Deutschen sprechen wir von Selbstmord und Freitod – zwei Bezeichnungen, die gegensätzlicher nicht sein können.

    „Selbstmord" hat die Ursache im Äußeren (z. B. das Gefühl, nicht gesehen zu werden; Sinnverlust; Depression), die i. d. R. zu einer Verengung der Wahrnehmung führt. Somit ist eine freie Entscheidung fragwürdig.

    „Freitod" ist ein autonomer Entschluss aus dem Inneren; gewachsenes, erwachsenes Leben in Achtsamkeit, gereift zur Entscheidung für die eigene Würde.

    Wir alle wissen, dass wir sterben müssen. Wir wissen eben (noch) nicht, wann und wie.

    Ich habe Menschen als Seelsorger, Sterbe- und Trauerbegleiter unterstützt und kenne Suizidenten wie auch ihre trauernden Hinterbliebenen; zwei völlig unterschiedliche Situationen! Suizidenten sind eher verzweifelt und nehmen akut nur ihr Leid war, nicht die möglichen Folgen ihrer Handlung. Und ihre Hinterbliebenen (Suizid-Trauernde) sind i. d. R. sprach- und fassungslos, hilflos der Warum- und Schuldfrage (hätte ich es nicht eher sehen müssen!?) ausgesetzt. Noch hinzu erfahren sie i. d. R. leider immer noch eine Ausgrenzung durch andere (z. B. Freunde, Nachbarn).

    Der „Motor" für die Gestaltung unserer Würde ist unser freier Wille. Und der Staat hat diesen freien Willen mit Gesetzen zum Schutze aller zu regeln. Durch das BGH-Urteil vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15) waren die Parteien aufgefordert, Gesetzentwürfe vorzulegen.

    Der Kern des BGH-Urteils besagt zusammengefasst:

    „Jeder hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Dies schließt die Freiheit mit ein, sich selbst das Leben zu nehmen und sich dabei von anderen helfen zu lassen. Dieses Recht ist nicht auf schwere oder unheilbare Krankheiten beschränkt. Es besteht in jeder Phase des Lebens." (Klaus Hempel; ARD, 2020)

    Leider sind am 06.07.2023 zwei Gesetzesentwürfe von fraktionsübergreifenden Gruppen über eine Neuregelung der Suizidhilfe mehrheitlich zurückgewiesen worden. Somit muss das Gesetz neu beraten werden.

    Der freie Wille verlangt uns Eigenverantwortung ab. Freiheit ist eine Zumutung!

    Fragt man, warum ein geflüchteter Ukrainer, der durch die Rückkehr ins Kriegsgebiet sein Leben in Gefahr bringt, eher akzeptiert wird, als eine andere Person, die sich aus welchem Grund auch immer suizidiert, so wird das Spannungsfeld deutlich, in dem wir uns bewegen, wenn wir uns mit dem Begriff Freiheit auseinandersetzen. Hier kommt die Moral ins Feld. Und die Moral, wie die Geschichte zeigt, ist jederzeit verhandelbar.

    Grundsätzlich kann man sagen: Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen. Auch wenn er ein Individuum ist, so kann er sich dem sozialen Kontext nicht entziehen. Folglich gibt es eine innere Freiheit (z. B. Gewissens- und Meinungsfreiheit) und eine äußere (z. B. Freiheit der Person, Versammlungsfreiheit). Nichtsdestotrotz müssen wir, so wir volljährig sind, unser Leben selbst verantworten; der Staat macht das nicht für uns. Wenn Gesetze im gegenseitigen Respekt und auf Augenhöhe vereinbart werden, so bildet dies die Grundlage für die Akzeptanz in einer Gesellschaft. Institutionen wie z. B. der BGH kontrollieren und überprüfen diese Vereinbarungen. In diesem Sinne müssen Gesetze dann vom Gesetzgeber natürlich zum Wohl aller einen Schutz vor Missbrauch beinhalten. Was die Sterbehilfe betrifft, kann dies die obligatorische Einrichtung eines Beratungsangebotes sein.

    Ich habe bewusst kein Fachbuch geschrieben, sondern erzähle von vier Menschen, die in sehr persönlichen Prozessen ihre existenzielle Entscheidung für oder gegen den Freitod deutlich machen. Hierfür nehmen sie die Hilfe von „Herrn Blau" in Anspruch.

    Herr Blau ist eine Metapher für das gesellschaftlich geregelte Ja zum Suizid. In den diversen Gesetzesentwürfen soll u. a. im Bundestag noch geklärt werden, wie viel professioneller Beratungsbedarf (ähnlich bei Schwangerschaftsabbrüchen) nötig ist, um die „Erlaubnis", Suizid begehen zu können, zu erhalten. – Der Beratungsbedarf ist hier gleichzusetzen mit der Klausur in der Stille, in die sich die Protagonisten begeben – die unabdingbare Voraussetzung, die Herr Blau von ihnen für ihre Entscheidung verlangt.

    Mit diesen vier Beispielen biete ich eine Art „Spiegel" an, in dem der Leser, die Leserin sich selbst etwaige Fragen stellen oder die im Buch gestellten für sich selbst reflektieren bzw. beantworten können.

    Durch meine Begegnungen mit Menschen habe ich selbst sehr konkret erleben dürfen, dass die meisten Antworten auf Fragen und Probleme im Menschen selbst schlummern (ressourcenorientiertes Arbeiten); wir sind nur dazu da, diese Schätze heben zu helfen; deshalb dieses Buch.

    Michael Arndt

    Juni 2023

    HERR BLAU

    In jedem Ort gibt es auf dem Friedhof ein Quartier des Bleus. Unser Geschlecht ist älter als jeder Friedhof. Auch wenn einige sagen: „Verschwinden Sie! Sie wissen doch nicht, was es heißt, eine Liebe zu verlieren! Vas te faire cuire un œuf!, so bin ich, Herr Blau, das große Nein und Ja zugleich. Eben das öffentliche Ärgernis, eine Art sichtbarer „Teufel, der die Erinnerung ans Paradies wachhält, so dass es ihn wirklich geben muss. – Jeder weiß, wo ich zu finden bin. Manch einer hebt den Hut im Vorübergehen. Eine andere spuckt verächtlich. Und doch bleibt eine gewisse Milde erhalten.

    Ja. Ich bin Herr Blau, die Fortsetzung der Kirschblüte, der Gang zum Markt, die gefüllten Netze der Fischer und Hausfrauen. Ich bin die Suppe, die jeder auslöffelt. Der Duft von Anis und vom Flieder. Ich bin das Warten. Auch die Neugierde der Menge. Ihr Blick; eine echauffierte Mischung aus äugender Unsicherheit und heimlicher Bewunderung. Das Vergebliche schlechthin. Ich bin immer mit dabei. Ich bin der Betrachter des Seestücks über dem verschlissenen Sofa von Madame Charlotte. Das Wiegen der Hüften und der damit einhergehenden Gedanken und Begehrlichkeiten. Ich bin Ihre Entscheidung.

    EINSTIMMUNG

    Hier ist die Ewigkeit.

    Dort – alles.

    Weit oben? –

    Nein.

    Weiter rechts? –

    Gibt es eigentlich einen Osten oder Süden im Universum? –

    Egal!

    Sagen wir einfach: Dort!

    Wir sagen einfach: Dort ist die Sonne.

    Dort die Erde.

    Unser blauer Planet.

    Dort unten steht eine weiße Mauer.

    An dieser Mauer lehnt ein kleiner, untersetzter Mann. Er lächelt. Die Stirnglatze glänzt wie die wenigen schwarzen Haarsträhnen, die sich scheinbar gewillt und fast zärtlich der Krümmung der Kopfhaut anschmiegen. Als ob Mauer und Mann eine innere Verwandtschaft pflegen, stehen sie der morgendlichen Sonne zugewandt. Keinerlei Unruhe haftet an ihnen, noch sind sie Objekt irgendeiner Begierde.

    Unter dem geschlossenen Augenpaar fügen sich die Lippen des Mannes der Zufriedenheit. Der Tag ist gerade sechs Stunden alt und eine vor Blau strotzende Luft füllt schon den Himmel über dem kleinen Ort. Eine betagte Frau kommt mit einem Weidenkorb, dessen Tragegriffe durch sorgsam, dicht an dicht umwickelte Bindfäden gehalten werden, an ihm vorüber.

    „Guten Morgen, Herr Blau."

    Der Mann an der Mauer blinzelt, nickt und hebt die Hand mit dem schwarzen Hut.

    „Das wird ein Tag, Madame Charlotte!"

    Und schon ist sie vorüber. Der Weg mit den buckeligen Pflastersteinen glänzt wie ein primitiv zusammengesetztes Spielbrett. Andere Frauen mit ebensolchen Körben oder hüpfenden Kindern an den Händen folgen in die gleiche Richtung dem Weg zur Kirche.

    Heute ist Markttag.

    Als keine Gestalt mehr des Weges kommt, hebt Herr Blau seine Augen. Sein streunender Blick saugt das Licht des gelungenen Morgens ein.

    „Das wird ein Tag, Monsieur!"

    Als ob eine Entscheidung notwendig geworden ist, streicht eine Hand, sich der gewohnten Rundung des Schädeldaches vergewissernd, über Haupt und Haar, setzt den Hut auf und geht. Zielsicheren Schrittes begleitet ihn der Schatten auf dem Weg zum Marktplatz. Dort findet das Leben zweimal in der Woche seinen öffentlichen Ausdruck.

    Als der Mann das Bistro neben dem kleinen Zeitschriften- und Tabakladen erreicht, setzt er sich an einen Tisch, schlägt die Beine übereinander und betrachtet so, als ob ihn das ganze Treiben hier nichts anginge, das Geschehen.

    Ohne Eile kreuzen nahende und sich im Marktgeschehen verlierende Menschen sein Blickfeld. Allmählich füllen sich die Körbe und Taschen so wie das Sonnenlicht die Gassen. Das, was die Welt um den kleinen Ort am Meer hervorbringt, wird auf dem Marktplatz feilgeboten.

    Verschiedene Obst- und Gemüsesorten türmen sich neben meerfrischem Fisch, Muscheln und Krebsen. Die geöffneten Mäuler der aufgebahrten Forellen erinnern an einen finalen Gesang, dessen Ende von einer Fermate scheinbar unendlich verlängert wird. Am Stand vis-à-vis hängen ortstypisch gewürzte Lammschinken und Schweinswürste im Koriander- und Thymianmantel im Morgenlicht. Nebenan werfen gehälftete, rohe Schlachtkörper Schatten, unter dem ein Paar äugende Hühner, Enten und stoisch kauernde Kaninchen auf Kundschaft harren. Ein herber Geruch entströmt dem Tisch mit den kleinen nach oben konisch zulaufenden Käsezylindern aus Schafs- und Ziegenmilch. Ihre Haut scheint mit Asche paniert zu sein. Eier, Honig, Gewürze, verschiedene Weine in Flaschen, Mandeln, Obst und Öle, einfache Decken und Kleider, Gegenstände des täglichen Bedarfs für Haus, Hof und Land reihen sich Stand für Stand aneinander.

    Kurz nach dem allmählichen Abbau der Stände erhebt sich Herr Blau, bezahlt und geht. Wie jeden Tag im Jahr wendet er sich der Kirche zu, um dort gegen vierzehn Uhr seinen gewohnten Platz unter dem großen Baum einzunehmen. Jeden Tag kommt er dabei am Haus der Familie Valcure vorbei.

    „Bon jour, Mesdames et Messieurs Valcure."

    Scheinbar einem stillschweigenden Ritual verschrieben, dringt kein Ton über ihre Lippen. Das Ehepaar Valcure sitzt, so lang das Wetter gut ist, den ganzen Tag auf seiner Bank. Zwei dunkle Augenpaare folgen interessiert den alltäglichen Geschehnissen vor ihnen auf der Straße. Beinahe synchron verfolgen die Blicke der Eheleute einen vorbeifahrenden Wagen oder sie bleiben an zwei Frauen, die ins Gespräch vertieft mit ihren Besorgungen von dannen gehen, hängen. Wie Besucher einer Tennisveranstaltung, die dem unbedingten Reiz unterliegen, fortwährend der Flugbahn einer hellgelben Filzkugel zu folgen, sitzen sie einmütig vor ihrem Haus, das einmal ihrer Tochter gehörte. Jeder im Ort weiß von dem tragischen Tod der jungen Frau. Sie stürzte sich hochschwanger vom Kirchturm. – Wie keilriemenbetriebene Jahrmarktfiguren sitzen beide stumm nebeneinander. Madame Valcure thront in einer feuerwehrroten Strickjacke, unter der sich zwei bauschige, kissengroße Brüste zu verbergen suchen, neben ihrem Mann. Die hagere Männergestalt mit der Sonnenbrille verliert sich neben der ihrem Namen alle Ehre machenden Ehegattin. Ein wagenradgroßer Sonnenhut beschattet ihr breites Gesicht. Immer noch scheint trotz allem von ihrer voluminösen Leibesfülle ein Hauch von Jugend, eine Idee von Begehrlichkeit auszugehen; ein weiblicher Monolith aus Form und Farbe neben einem dürren Graureihermännchen, das notdürftig die zu groß geratene Sonnenbrille mit einem Bindfaden hinter dem Nacken gesichert hat. Eine alte Militärmütze beschattet die fettigen Haare. Der grobe Stoff der dunklen Arbeitskleidung scheint den Charakter seines Überlebensrezepts in dieser Ehe zu verraten. Einvernehmlich bewegen sich ihre Köpfe.

    Im Weitergehen vernimmt Herr Blau das Quietschen von Fensterangeln.

    „Herr Blau, es ist schon weit nach Mittag. Kommen Sie doch, bevor die Suppe kalt wird."

    Im Fenster des gegenüberliegenden Hauses bedeutet ihm die alte Frau vom Vormittag zu kommen.

    „Gewiss doch, Madame Charlotte, ich komme."

    Aus dem weißen Teller steigt heller Dampf in sein Gesicht.

    „Riecht köstlich, Madame Charlotte, einfach köstlich!"

    „Ich weiß, die Reste sind das Beste, Herr Blau."

    „Hm … die Reste … das Beste", murmelt er. Und splitternd bricht das Weißbrot, bevor er es als handliches Stück in die safranfarbene Suppe taucht.

    „Fisch und Estragon: eine gute Ehe, Madame Charlotte."

    Sie lacht leise und saugt hörbar die Flüssigkeit vom quergestellten Löffel.

    Als der Tisch abgeräumt und die Teller unter fließendem Wasser wieder hell geworden sind, weist sie auf ein altes Chaiselongue unter einem mächtigen Seebild, das aschgelb vom langen Warten auf Wind geworden ist.

    „Dort können Sie ruhen, Herr Blau. Sie wissen, mein Mann … Er hatte immer sein Nickerchen gemacht. Ich wecke Sie beizeiten."

    „Sehr freundlich, Madame Charlotte, überaus freundlich. Danke."

    Sanft und bestimmt zugleich ist die Stimme, die ihn auffordert, die Augen zu öffnen und zu erwachen. Die alte Frau vor ihm ist die Gewissheit selbst. Ihre unprätentiöse Art, der selbstverständliche Klang ihrer Stimme, die weder Hof hält noch einen anderen hofiert, sind es, die die Gegenwart dieser Frau für ihn so überaus angenehm sein lässt. Jedes Mal, wenn er in diesen kleinen Ort kommt, eröffnet sich hier auf die natürlichste Weise ein beinahe familiärer Hort. Ein Heim, das den Kindern zeitlebens ein Dach, eine Suppe, ein Bett, ein Wort, eine um alle Dinge wissende Stille bereithält – mag da doch kommen, was da wolle. In seinem Innern, besonders dort im Raum unterhalb der verknöcherten Fontanelle, dort spürt er, dass sie die Einzige im Ort ist, die ihn nicht fragen wird, die weder Rat verlangt noch gibt.

    In ihrer Wohnung, die nur aus einer Wohnküche und einer winzigen Schlafkammer besteht – die Notdurft wird im Hof im Häuschen neben dem Federvieh verrichtet – scheint die Zeit schon seit einem halben Leben stillzustehen. Es ist so, als hätte die Zeit hier ein Zuhause, um vom fortwährenden Ticken einmal auszuruhen. Alle Dinge sind wie vordem, jedes an seinem angestammten Platz, jederzeit auffindbar und nutzbringend zu gebrauchen, jeglicher Frage nach Veränderung hohnlachend, da kein plausibler Grund dafür zu erkennen ist. Alle Gegenstände tragen die gleiche Patina aus Windstille und Annahme.

    „Ich weiß, Madame Charlotte, die Zeit."

    „Ja, die Zeit, Herr Blau, die Zeit; das Wasser unterm Kiel, es wird bleiben."

    Verstehend kreuzen sich ihre Blicke.

    Ein wissendes Schweigen nimmt zwischen ihnen Platz, sodass man das monotone Lied der tickenden Pendule über der Anrichte neben dem Fenster, das in den Hof hinausschaut, als einzige Unterteilung des angebrochenen Nachmittags vernimmt.

    „Ich muss gehen, haben Sie vielmals Dank für Ihre Freundlichkeit. Auf Wiedersehen, Madame Charlotte."

    „Auf Wiedersehen, Herr Blau."

    MORGEN GEHT GESTERN NICHT WEITER

    SERGE CARRÉ, 36 JAHRE, VERHEIRATET, EINE TOCHTER, LUNGENKREBS IM ENDSTADIUM

    IM BISTRO

    „Salut, Gaspard."

    „Salut, Serge. Du siehst erstaunlich gut aus. Geht es dir besser?"

    „Komm, setzten wir uns hier hin. Ich muss mit dir sprechen. Es ist so eine Art Dringlichkeitssitzung."

    „Serge, was ist denn so dringlich? – Geht es dir nun besser oder nicht?"

    „Klarer. Ich habe eine Entscheidung getroffen."

    „So. Eine Entscheidung. Erzähl."

    „Was willst du trinken?"

    „Kommt drauf an, was du zu erzählen hast."

    „Ich nehm einen … – ach, lass uns eine Flasche Wein bestellen. Einen trockenen Roannaise, einen Roten, der ist gut hier. Der hat nicht so viel Umdrehungen."

    „Darfst du denn …?"

    „Mir ist danach."

    „Meinetwegen. Aber nun erzähl schon. Was ist los?"

    „Du weißt doch noch, wie alles angefangen hat, mit den Schmerzen in der Brust. Das war, du erinnerst dich, letztes Jahr an meinem Geburtstag."

    „Ich erinnere mich."

    „Dachte, es sei das Herz. Doch es war Krebs."

    „Das weiß ich doch alles. Komm zum Punkt!"

    „Gaspard, es ist nicht so einfach, darüber zu sprechen. Ich habe jeden verdammten Tag das Gefühl, dass ich bald sterbe. – Es ist schwer auszuhalten, diesen Moment nicht zu wissen … Wie lange noch? Wie wird das weitergehen? Verstehst du?"

    „Ja – ja, ein bisschen … Erzähl weiter, Serge, ich hör dir zu."

    „Erst die Diagnose. Dann diese Scheißmetastasen! Überall. Erst im Rippenfell, dann im Kopf und jetzt auch noch in den Knochen. Ich will das alles nicht mehr."

    „Was willst du nicht mehr?"

    „Leben."

    „Du spinnst doch. Du weißt doch gar nicht, hast du selbst gerade gesagt, wie lange du noch hast."

    „Der Krebs ist so aggressiv. – Er wächst schnell. Er hat es auf einmal unheimlich eilig. Ich jetzt auch."

    „Du hast es immer eilig gehabt. Denk an deinen Radsport im Klub."

    „Das meine ich nicht, Gaspard. Früher, da habe ich darüber nie nachgedacht. Doch jetzt … Das, was mir noch bevorsteht, das möchte ich nicht erleben. Das möchte ich auch meiner Familie ersparen. Das sind seltsame Gedanken, ich weiß. Plötzlich ist die Freiheit weg. Verstehst du? Die Freiheit. Ich hab nur noch die Freiheit zu gehen. Alles reduziert sich auf wenig bis gar nichts. Schau mich doch an, Gaspard! Ich bin kein Sportler mehr. Nein. Nur noch ein Witz mit Sauerstoffgerät."

    „Wissen Anne-Marie und Mijou schon davon?"

    „Nein."

    „Und deine Mutter?"

    „Auch noch nicht. Deshalb sprech ich ja mit dir."

    „Schönes Gespräch … Was willst du machen?"

    „Gehen."

    „Und wann?"

    „In etwas mehr als zwei Wochen."

    „Wie? Zwei Wochen? Und dann ist Schluss?"

    „Ja."

    „Du bist verrückt! Du willst dich umbringen?"

    „Ja."

    „Das ist nicht okay, Serge, überhaupt nicht okay. Das machen doch nur Irre!"

    „Gut, dann bin ich eben ein Irrer, wenn du meinst. – Doch du steckst nicht in meiner Haut! Ich habe Schmerzen, nicht du. Zumindest nicht die."

    „Brauchst du Mitleid?"

    „Weder Mitleid noch fromme Sprüche. Ich brauche Ruhe. Klarheit. Ein Ziel, verstehst du. Ich will wissen, wann Schluss ist. Diese Ungewissheit halte ich nicht aus."

    „Du gibst dich auf?"

    „Nein. Ich geh es an. Der Krebs oder ich – das ist nicht mehr die Frage. Der Krebs gewinnt. Das ist sicher. Und bevor er das tut, geh ich ihm lieber entgegen. Ich! Nicht dieser Vielfraß!"

    „Wie?"

    „Erhängen, Tabletten und so, das alles kommt nicht in Frage. Ist mir zu unsicher. Ich will nicht am Erbrochenen ersticken, weil ich alles Mögliche geschluckt habe. Ich möchte hinterher nicht wieder aufwachen. Die größte Strafe für mich wäre, weiterzuleben. Was passiert, wenn es schiefgeht? Eine Zwickmühle. Verstehst du? – Und auch wenn du mich da nicht verstehst: Es gibt Seiten, die nur einem selbst gehören."

    „Und Hoffnung? Gibt es die für dich überhaupt nicht?"

    „Sich daran zu klammern, wäre sinnlos. Es raubt mir die restlichen Kräfte, die ich noch für den letzten Weg brauche."

    „Wenn ich dich so reden höre, Serge, vielleicht hast du ja recht: Ja, bislang ist es noch jedem gelungen, zu sterben."

    „Gaspard, über die Krankheit kannst du scherzen, nicht übers Sterben. Sterben ist nicht Teil des Witzes."

    „Entschuldige – ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll."

    „Ist schon gut. Ist eben alles nicht einfach. Auch für dich nicht. – Ich möchte so klar wie möglich aus dem Leben gehen. Möchte auch noch Zeit zum Abschiednehmen haben. Wer weiß denn schon, ob ich mich morgen noch erkenne? Du weißt, es gibt keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr. Ich bin austherapiert – unheilbar. Ich kann nichts dafür, dass am Ende die Ärzte das Gefühl haben, zu versagen. Mit meiner Entscheidung nehme ihnen sogar ein Stück weit die Verantwortung ab. Verstehst du?"

    „Und palliativ? Ich hab gehört, dass man da überhaupt keine Schmerzen am Schluss haben muss."

    „Im Regelfall ist das so. Doch auch der Rest ist mir zu unsicher. Außerdem geht mir die gebetsmühlenhafte Wiederholung der Alternativlosigkeit der palliativen Medizin auf die Nerven."

    „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie."

    „Ich treff mich morgen mit einem Mann."

    „Wer ist das?"

    „Eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit unter vielen."

    „Was für eine Möglichkeit?"

    „Es ist eine Vereinbarung."

    „Eine Vereinbarung?"

    „Morgen weiß ich mehr."

    „Und dann?"

    „Weiß ich mehr."

    „Und wie?"

    „Weiß nicht. Wird er mir erzählen. Ich weiß nur, dass er die Tage begrenzen kann. Und nur das zählt für mich."

    „Ist das nicht strafbar?"

    „Suizid ist nicht strafbar. Und wenn ich umfalle, dann wird keiner erkennen können, dass das geplant war. Somit ist es auch nicht strafrechtlich relevant. Ich will lieber aufrecht sterben, als auf Knien leben. Gaspard, die Freiheit kann man nicht erfinden. Du musst sie möglich machen."

    „Sind wir denn überhaupt frei? Sind wir nicht eher abhängig?"

    „Wir sind abhängig, das siehst du ja an meiner Situation. Doch wenn ich die Möglichkeit dazu habe, meine Abhängigkeiten selbst zu wählen, dann wähle ich. Nelson Mandela war jahrzehntelang im Gefängnis. Doch sein Geist sah keine Gitter."

    „Was wäre denn, wenn morgen …"

    „Ach wäre … Gaspard, wäre ist nicht! Du hast mich noch immer nicht verstanden! Es gibt keine Rettung. Dieser Abschied, dieser Scheißabschied, besonders der von Anne-Marie und der Kleinen … Entschuldige bitte … Es ist so heftig … Hätt Mijou doch so gern noch begleitet, wenigstens bis sie aus dem Gröbsten heraus ist. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ihnen das sagen soll. Hab richtig Schiss davor. Das ist schlimmer als der Tod. Glaub mir."

    „Wann willst du es denn sagen?"

    „Ich bin feige, ich weiß. Ich weiche dieser Begegnung aus. Hab gedacht, ich schreib es ihnen."

    „Die haben aber ein Recht darauf, es von dir persönlich zu erfahren."

    „Das ist persönlich. Stell dir nur vor, du müsstest …"

    „Ich muss aber nicht. Will mir das auch gar nicht vorstellen."

    „Ja, genau, das ist es, Gaspard. Genau das! Du willst es dir nicht vorstellen. Doch du musst! Du musst das in meiner Situation. Das ist ja das Brutale. Gerade den beiden möchte ich das nicht antun müssen. Gerade ihnen nicht! In der Fantasie kann man problemlos von einem Hochhaus springen, ohne sich zu verletzen; in der Wirklichkeit, Gaspard, finde ich mich danach bestenfalls auf einer Intensivstation wieder. Und auch da wollen sie mich nicht mehr."

    „Das klingt alles sehr düster. Du scheinst mir pessimistisch, resigniert und auch, wenn ich dir so zuhöre, depressiv zu sein."

    „Soll ich etwa positiv denken, meinst du das? Möchtest du, dass ich mich gleich in einem Kreißsaal erhänge? Jeden Tag eine Scheinhinrichtung, das will ich nicht!"

    „Serge, nun beruhige dich. Bitte. Du musst etwas Geduld mit mir haben."

    „Ja, ja, ich weiß, mein dritter Vorname ist Geduld, Gaspard. Mir geht es einfach nicht gut. Nicht wegen morgen. Nein. Wegen den beiden und dir. Aber sprechen wir von etwas anderem. Erinnerst du dich an unsere schöne Anglerzeit? Wo wir fast jedes Wochenende mit dem Boot rausgefahren sind?"

    „Ja, das war eine schöne Zeit."

    „Wir beide, du und ich, sind raus. Eigentlich um was zu angeln. Doch meistens haben wir nichts gefangen, sondern haben einfach diese Weite, diese besondere Stille um uns genossen."

    „Ja, das haben wir."

    „Weißt du noch, dieser Barsch, dieser kraftvolle Bursche? Der hat die Schnur fast zum Reißen gebracht. Wir staunten über diese immense Kraft und zogen den Hut vor ihm. Wir schnitten die Schnur durch."

    „Ja, das hatte er sich verdient."

    „So ähnlich geht es mir. Gebt mir bitte die Erlaubnis, meine Schnur durchzuschneiden."

    „Uh, ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist schwer, Serge, so schwer, dich ziehen zu lassen nach all dem Erlebten. Eigentlich war uns doch das Fischen egal. Wichtig war, dass wir zusammen im Boot saßen. Jedes Mal berührte uns eine große Hand, Serge, eine Hand aus aufziehendem Wetter, aus leichtem Dümpeln, aus den wechselnden Schatten am Ufer, aus glitzerndem Wasser und den in unmittelbarer Nähe aufspringenden Fischen, die unser Vorhaben verspotteten."

    „Oui, c’est vrai, mon ami. Auf das Leben! Auf das Leben, was noch da ist."

    „Auf das Leben, Serge."

    „Genau das haben wir in solchen Momenten dann auch getan. Wir entkorkten die Weinflasche und ließen es uns gut gehen. Solche Momente waren uns heilig und viel zu selten. Und doch! Wir haben sie erlebt, erleben dürfen! Ein gelebtes Glück. Und wer, bitteschön, hat schon Glück in dieser Welt? Ich glaub, nicht viele."

    „Ja, Serge, wir hatten Glück. Und du hast Glück mit deiner Anne-Marie und Mijou. Und deshalb musst du auch mit ihnen sprechen. Versprichst du mir das?"

    „Das kann ich nicht. – Ich muss mir alle Kraft genau einteilen, sonst schaff ich das nicht. Und wenn noch Kraft und auch Zeit übrigbleiben, dann spreche ich mit beiden. Mehr kann ich momentan nicht sagen."

    „Bist du nicht katholisch? Wie kriegst du das denn mit dem da oben hin?"

    „Wenn ich mich an früher, an die Zeit in Yvetot erinnere, als ich jeden Sonntag die Hostie vom Pfarrer erhielt – ich glaubte damals wirklich daran –, hatte ich ein Gefühl, als ob der Postbote mir gerade ein Rundumsorglos-Paket gegeben hätte. Doch heute … Mir fällt es sehr schwer, mir irgendeine Vorstellung davon zu machen. Es hilft mir nicht. Und wenn ich an meinen Bettnachbarn im Krankenhaus denke: Vier Wochen wurde er am Leben gehalten! Leben konnte man das nicht nennen, Gaspard. Wille und Würde schon gar nicht! Er ist jämmerlich in der Nacht erstickt. Und wenn ich zuletzt noch an meinen Arzt denke, der zu mir gesagt hat: ‚Wir haben nicht mehr genügend Zeit dafür, dass Für und Wider einer erneuten Bestrahlung zu diskutieren. Am besten, Sie bringen Ihre Angelegenheiten in Ordnung.‘ Ja, das waren seine Worte: Bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung. – Und … und auf meine Frage, ob er mir nicht beim Sterben helfen könnte, schüttelte er nur den Kopf und sagte: ‚Bedaure, nein.‘ Vielleicht kannst du jetzt verstehen, dass ich selbst entscheiden muss! Die Nächte danach … waren für mich schrecklich. Diese unheimliche Leere, diese drohende Stille am Rande einer Ohnmacht. Ich will mutig sein. Noch kann ich es. Mich nicht mehr entmutigen lassen. Verstehst du das?"

    „Ja, mehr und mehr."

    „Hast du mal den alten japanischen Film von Kurosawa gesehen, Rashomon?"

    „Nein. Was ist damit?"

    „Gaspard, wir beide, wir sitzen hier zusammen und jeder nimmt das, was hier gerade passiert, doch anders wahr. Jeder ist allein damit. – Und dieses Alleinsein war es, was mich damals an dem Film berührte und auch bestürzte. Die Gemeinsamkeit ist eine Illusion. Jeder hat andere Erfahrungen und kommt zu eigenen Schlüssen. In der Geschichte wird eine Situation, ein Überfall war es, mehrmals aus der unterschiedlichen Sicht der Beteiligten erzählt. Jedes Mal hatte sie eine andere Bedeutung. Und du und ich sehen durch unsere Brille und erzählen auch etwas anderes. Damals überraschten mich meine blauäugigen Gefühle. Und heute, Gaspard, heute fühl ich mich wie ein Autist, wie ein Pfefferstreuer! Keiner hat Mitleid, weil er nur ein Loch hat … zum Atmen. Der Salzstreuer hat drei."

    „Wie willst du das mit Maman regeln, oder wirst du ihr auch nur schreiben?"

    „Wenn ich an Maman denke, denke ich automatisch an die Zeit in Yvetot zurück. Immer wenn ich einen Ort verlassen habe, habe ich auch meine Erinnerungen an ihn dort gelassen. So entstand ein Graben, der mir guttat, je weiter ich mich entfernte. Und heute ist es egal, wie nah oder fern ich Maman bin; es lindert den Schmerz nicht. Apropos Schmerz. Wenn ich an das Verrecken – anders kann ich es nicht bezeichnen – an das Verrecken vom Alten denke … Nein. So möchte ich nicht enden! Ich konnte am Schluss nicht mehr mit ihm sprechen. Das Gefühl war immer da, dass er mir noch etwas sagen wollte. Wir haben uns verpasst. Zu seiner Beerdigung war der ganze Ort auf den Beinen. Und ich blieb zurück, zurück mit dieser Vergangenheit, die ich nicht mehr ändern konnte. Darum möchte ich dieses Leben friedvoll verlassen, nicht im Ringen nach Atem."

    „Du hast doch sicher eine Patientenverfügung?"

    „Ja. Ich habe ein Testament, in dem alles für die Familie geregelt ist, und auch eine Verfügung. Kein Mensch darf über das Leben eines anderen verfügen … auch nicht die Gesellschaft oder der Staat. Doch eine Patientenverfügung ist auch nicht ganz sicher. Vielleicht hast du ja mitbekommen, dass die Sterbehilfe neu geregelt werden muss. Im bisherigen Sterbehilfegesetz war die Patientenverfügung für den Arzt nicht immer unbedingt bindend. Es gibt dafür entsprechende Beispiele. C’est tout."

    „Das wusste ich nicht."

    „Die bestehenden Gesetze gehen, meiner Meinung nach, am Menschen … an mir vorbei. Ich habe das Gefühl, dass ich, dass mein Wollen nicht zählt. Es ist ein Gesetz gegen, nicht für den Menschen! Die Politiker müssten mal auf so eine onkologische Station gehen! Dann würde ihre Demenz abnehmen."

    „Was wünscht du dir von mir?"

    „Was ich mir wünsche? Hm. – Ich wünsch mir von dir ein liebevolles Unterlassen, ein Lassen. Und …"

    „Und …?"

    „Pas de tristes. Keine Traurigkeit. Denk an unsere schöne Zeit. Und wenn du kannst, besuch ab und an Anne-Marie und Mijou. Das wäre schön."

    „Das mit dem Traurigsein kann ich dir nicht versprechen, Serge. Es fällt mir doch jetzt schon schwer. Doch das mit dem Besuch krieg ich hin. Versprochen."

    „Gut. Hast du denn schon mal für dich Bilanz gezogen? Oder überlegt, wie du dein weiteres Leben gestalten willst? – Ah, du schüttelst den Kopf."

    „Vielleicht überleg ich mir das. Aber nicht jetzt. Bist du denn trotz allem mit dem, was du bisher gemacht hast, zufrieden?"

    „Im Großen und Ganzen ja. Haus, Frau, Kind, Freund, jedoch keinen Hund, kein Meerwasser-Aquarium mit seltenen Fischen, nur einen Kleinwagen von Hyundai und ab und an einen Urlaub. Deshalb gibt es für mich auch nicht die Frage: Hospiz oder Bordell? Kirche oder Bistro? Goldener Schuss oder Tabletten? Verstehst du? Kein Schuss, nur Schluss. Ich mach einfach Schluss."

    „Bedauerst du was?"

    „Ja, dass es mit uns nicht weitergeht, Gaspard, das bedaure ich sehr. Und, und natürlich das mit meinen Lieben. – Vielleicht war ich, nein bestimmt war ich das, ungehalten und auch mal ungerecht, zu ehrgeizig und genau. Ich würde, wenn möglich, versuchen, es heute anders zu machen. Doch insgesamt …"

    „Und Maman?"

    „Nein, das mit Maman, ist für mich so in Ordnung. Hab immer einen besseren Draht zu Papa gehabt. Maman tut mir leid. Es tut mir leid,

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