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Die Silberbarden: Eine Propädeutik
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Die Silberbarden: Eine Propädeutik
eBook693 Seiten9 Stunden

Die Silberbarden: Eine Propädeutik

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Über dieses E-Book

Ein Begegnis voller Poesie entspinnt sich vor den Toren der Burg Silbleincastell. Diese birgt das Geheimnis um einen Klan, welcher sich seit alters der Hege der unnahbaren Windhunde verschrieben hat. Dessen jüngstem Abkömmling, dem gemütvollen Ugo, eignet ein besonderes Talent: Wie niemandem sonst gelingt es ihm, eine Anziehung auf die leidenschaftlichen Beutegreifer auszuüben, womit er jeden anderen Reiz in den Schatten stellt. Die Gabe ist Teil des Geheimnisses, das von einem jahrtausendealten Zirkel ebenso gehütet wird wie ihre geliebten Tiere und die überlieferten Flöten. Letztere bergen sagenhafte Schutzgeister in sich, deren ureigene Aufgabe es von jeher ist, die Jagdgefährten des Menschen vor Ausbeutung zu bewahren. Der seit Ewigkeiten geächtete Quemior wird nun versehentlich aus der Flöte befreit und droht damit, Rache zu nehmen. Zusammen mit Verbündeten aus dem antiken Karthago und einer Bande halbwilder Theaterleute wagen es die Hundehüter, dem ränkeschmiedenden Schutzgeist entgegenzutreten. Allen Gefahren zum Trotze halten die Helden der Geschichte dabei immer wieder inne und ergehen sich in Meditationen über das Wesen von Mensch und Tier. Wer sich gemeinsam mit ihnen ins Abenteuer stürzt, wird keinem reißenden Wildgewässer eines Thrills ausgesetzt, wohl aber den Tiefen eines uralten philosophischen Gewässers.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Aug. 2023
ISBN9783384001139
Die Silberbarden: Eine Propädeutik
Autor

Carla Maria Gratz

Die 1995 im Saarland geborene Autorin ist mit Hunden und Pferden aufgewachsen, zog für das Studium der Veterinärmedizin nach Berlin und widmet sich gegenwärtig ihrer Promotionsarbeit. Ihr Debütroman verdankt sich dem Lesen von Büchern über Hunde gleichermaßen wie dem Lesen von Hunden wie Büchern.

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    Buchvorschau

    Die Silberbarden - Carla Maria Gratz

    Prolog

    Ihr, künftige Hundehüter, werdet eines Tages den gesamten Tonumfang eures Musikgehörs aufbieten müssen, um unsere Schützlinge entschlüsseln zu können. Wie könnte eure Anrufung, geneigte Leser, daher trefflicher verlauten als durch die Begleitung süßer Flötenklänge?

    Dieses sei euch ein Nachschlagewerk, dessen Lektionen nicht immer offenkundig zwischen den Zeilen hervortreten werden. Orientiert euch, ohne nach einem Taktstock Ausschau zu halten. Lasst mich den Ausdruck jener Musik transkribieren, sowie sie einer Übersetzung zu unterziehen ist. Gewöhnt euch an Ton und Sprache und nehmet teil am Spektakel. Gestattet mir die Übernahme des Dirigats. Habet Zutrauen, auch wenn ich euch meine Identität zur Stunde noch nicht preisgeben mag. Nicht immer vermögen es die Erwähnungen, als Labe zu wirken. Vielmehr hingegen sind es oft genug die Auslassungen, die einer Geschichte ihre Seele verleihen.

    Gleichfalls sollt ihr, deren Namen in den hiesigen Verewigungen noch nicht traditionsbildend waren, Akteure dieses Mythos werden. Einst wird euer Wirken ein eigenes Kapitel verdienen. Hiermit seien euch die Notenblätter geliefert, auf dass euer Eröffnungskonzert ein Fest werde.

    Zu Anfang werdet euch, die ihr des Lesens kundig seid, einer Sache gewahr: Es hätte mancherlei die Sinne grob neckende Begebenheit sein können, welche seine Lider so abrupt öffnen ließ und ihn aus den ozeanischen Tiefen des Schlafes an die phänomenale Oberfläche riss. Gewiss hätte das mit Inbrunst vorgetragene Gurren der Ringeltauben genügt, die ihren Nistplatz im Geäst direkt am Turmfenster seines Zimmers hergerichtet hatten, um ihn an diesem Morgen im späten August ins Reich der Wachen zu befördern. Genauso gut hätte es aber auch die Unruhe sein können, die entsteht, wenn die jungen gnomenhaften Vertreter der Familie Columbidae dem Alter entwachsen sind, in dem sie noch aus dem Schnabel ihrer Eltern die nahrhafte Kropfmilch den eigenen Schlund hinunterrinnen lassen und stattdessen nun selbst die zarten Flügel bis zu den buntglasigen Fenstern ausspannen. Weiters hätte ich mir den noch von der sturmerfüllten Nacht launisch wehenden Sommerwind oder das ferne Läuten der Kirchglocken, das dieser vom Tale aus den Waldhang bis zur Burg hinauftrug, wählen können, um euch die Szenerie meiner Geschichte darzubieten.

    Jedoch zwingt mich eine schlichte Tatsache zum Fabulieren: Ich selbst konnte nicht jeden Akt, nicht alle Augenblicke des Schauspiels mit meinen eigenen Sinnen erleben. Wohl wahr, an genügend Sequenzen durfte ich teilhaben, fehlende Lücken ließ ich von den beteiligten Figuren schließen. So ist ein Farbenmeer aus Mosaik entstanden, dessen Gezeiten durch die wechselnden Stimmen der Erzähler getrieben wurden. Für euch Lernende will ich den Mörtel bereiten und den Steinen meiner Abenteuergefährten zur Emergenz verhelfen, zu einem Kunstwerk also, das mehr in sich birgt, als die Summe seiner Elemente erwarten lassen würde.

    Drum lasse ich die Erzählung mit einer Begebenheit beginnen, die vielleicht meiner Fantasie entsprungen sein mag. Jedoch könnte uns kein Wesen trefflicher in dieser fabelhaften Welt willkommen heißen als diese Kreatur, die jene Spezies repräsentiert, deren Wohl unser Anliegen ist, um die es uns immer zu tun war und zu deren Schutz unsereins stets berufen sein wird.

    Erstes Kapitel

    Als wäre dieses Wesen von einer der Erdanziehung entgegengesetzten Kraft gedrängt, schlitterte es, die langen Glieder zu einer maximalen Unterstützungsfläche ausgestreckt, den Rumpf nahe am Untergrund, die Stufen der engen hölzernen Treppe empor. Jede hastig aufgesetzte Pfote trug dabei das Ihre zu dem wie ein Trommelwirbel tosenden Poltern des rauhaarigen Carnivoren bei. Das Podest erreicht, genügte dem dunkelgrauen Riesen ein einziger Sprung, um die schmiedeeiserne Türklinke mit den Vorderläufen zu erreichen und die Tür geräuschvoll aufschwingen zu lassen. Im Bruchteil eines Augenblickes ortete er daraufhin den Menschen, dessen Auffinden ihn überhaupt erst zu dieser übermütigen Kraxelei motiviert hatte. Mit einem letzten Satz stürzte sich der Halbstarke schließlich auf den jungen Ugo, der gerade noch Zeit hatte, die Augen aufzuschlagen und sich pfeilschnell aus seiner liegenden Schlafposition in eine abwehrbereite Haltung in die Hocke zu bringen. Doch gelang es ihm nicht, die Wucht auszubalancieren, mit der sich das von Tollheit ergriffene Tier auf seine Matratze warf. Sein amüsiertes Auflachen wurde denn sogleich von den Tatzen erstickt, die seinen Brustkorb festnagelten und ihm kurz die Luft zum Atmen nahmen. Noch immer heiser glucksend, versuchte er mit halbherziger Gewalt, den Hund abzuwehren, welcher gerade seine Krallen tief in die Haut des jungen Menschen bohrte, sich streckte und gähnend ein krokodilartig langes Maul voll strahlend weißer Zähne präsentierte.

    „Du tölpelhafter Narr, Grisu. Man wird uns teeren und federn", brachte Ugo hervor, ahnend, dass der Hund einen Pfad der Verwüstung hinter sich gelassen hatte.

    Kurzerhand katapultierte er den flegelhaften Deerhound gen Dielenboden, wo dieser leichtfüßig und gering beeindruckt landete. Ugo folgte ihm lautlos und trat sogleich zu der sperrangelweit offenstehenden Tür. Das wachsame Gebaren seines Herrn nachahmend, schlich Grisu an seine Seite und blickte ebenso die Treppe hinab.

    „Kaum zu glauben, dass du unbemerkt geblieben sein sollst. Es sei denn, sie haben entschieden, im Garten …"

    Jegliche Spekulation darauf, im Verborgenen den Turm verlassen und den Deerhound stillschweigend zurück in seinem Zwinger geleiten zu können, wo er sich eigentlich gemeinsam mit dem Rest des Rudels aufhalten sollte, wurde jäh durch einen vertraut spitzen, geradezu hysteriformen Schrei zunichte gemacht.

    „Mögen sie fortgewesen sein … Jetzt sind sie zurück", seufzte Ugo mit gespielt verzweifelter Miene.

    Er konnte den vorwurfsvollen Blick aber nur für einen Moment aufrechterhalten. Grisu ließ sich ohnehin nicht täuschen. Darum wandte er sich schulterzuckend ab und überlegte stattdessen, während er sich anzog, welche Trümmer er unten auffinden würde. Die Sitte, gerade die launenhaften Sprösslinge des Nachts im Nebengelass unterzubringen, hatte nach mehrfachen, regelrecht epischen Raubzügen von Grisus älteren Geschwistern, Vettern und Cousinen, Einzug gehalten. Offenbar waren die Verlockungen, die der bewohnte Turm auf dem Burggelände zu versprechen schien, vor allem im Alter weniger Monate für die Deerhounds besonders betörend. So musste auch der nun halbjährige Grisu diesem Bann verfallen sein. Als ausschlaggebend erschien hierbei die Attraktion des Verbotenen, war den Hunden doch tagsüber keine Kammer versperrt und kein Winkel in dem überbordend angelegten Garten untersagt. De facto waren die hünenhaften Windhunde alljährlich in der spätsommerlichen Zeit geneigt, die helllichten Stunden im kühlen Innenhof zu verbringen, wo sie ihr Keuchen und Fleuchen zuweilen im Schatten der Fliederbüsche unterbrechen konnten.

    Allseitig umrahmt wurde der natursteingepflasterte Auslauf vom Burggemäuer, einerseits bestehend aus dem Turm mit den beiden, die östliche und südliche Einfriedung bildenden Nebengebäuden und andererseits mit den zu den nördlichen Hanglangen gerichteten Stallungen und der Steinwand als Mauer zum Garten im Westen.

    Den Turm bewohnten Ugos Verwandte, die Baldemars, deren jüngstes Mitglied er mit seinem Alter von neunzehn Jahren war. Zu seiner Familie durfte er neben dem Vater auch sein früheres Kindermädchen Amanda, deren Nichte Nidsa und in besonderer Weise seinen Großvater Gaspard zählen. Letzterer verbrachte seine Zeit jedoch gewöhnlich lieber in den eigenen Räumlichkeiten im südlichen Nebengebäude, das mit dem Turm über den Hundezwinger verbunden war. Dort bewahrte der alte Tierarzt auch seine Utensilien und Arzneien auf, die er benötigte, um das Getier in der Umgebung zu versorgen, auch wenn er mittlerweile seltener die Abstiege ins Tal unternahm. Ehe als Ergänzung ein befahrbarer Wanderweg angelegt worden war, hatte Gaspard über eine Viertelstunde den schmalen Pfad inmitten des sich über viele Quadratkilometer erstreckenden Fichtenwaldes herabklettern müssen. Dieser jahrhundertealte Weg nahm sich an einigen Stellen so eng aus, dass ihn keine zwei Menschen nebeneinander begehen konnten und an anderen so steil, dass man bei Regen verleitet war, mit den Händen an dem mächtigen umgebenden Wurzelwerk Halt zu finden. Gerade bei widriger Witterung musste man sich mit Bedacht vortasten, bestanden die Stufen doch mal aus moosbewachsenen Felsen, mal aus lockerem Geröll. Zwar bot sich nun auch die gepflasterte Route als Alternative, doch wurde man auf dieser Strecke annähernd um das gesamte Burgmassiv herumgeleitet, sodass man selbst mit dem Geländewagen ein Vielfaches der Zeit brauchte. Abgesehen davon kannte Gaspard diesen Pfad von Kindesbeinen an und nichts weniger als multiple Trümmerfrakturen hätten ihn davon abhalten können, den herben Duft der Koniferen einzuatmen und dem Rauschen des Gebirgsbaches zuzuhören, der parallel des Weges wie das gemeinsame Fließen sämtlicher Lebensadern des Waldes und der sie noch überragenden Berge ins Tal brauste. Der in den Wintermonaten recht zahme Silabach war nun im August durch geschmolzene Schneemassen von jenen den Südalpen zugehörigen Gipfeln zu einem reißenden Strom angeschwollen. Zu dieser Zeit wie schon einst im sechzehnten Jahrhundert, als die Burg Silbleincastell auf tausendeinhundert Metern über dem Meeresspiegel neu errichtet worden war, versorgte sein Wasser die Bewohner der Festung. Bereits damals, restauriert als Jagdschloss für den Fürsten der Ländereien, waren dort seine hochgeschätzten Windhunde untergebracht gewesen.

    Wie man in dieser Epoche allerdings mit derart explorationsfreudigen Repräsentanten der Spezies Hund vom Schlage Grisus umgegangen wäre, ließ sich nur erahnen. Zumindest war es nicht an seinem schmalen Gesicht abzulesen, das er abwechselnd mit erwartungsvollem Blick Ugo und der Treppe mit so etwas wie höflichen Interesse zuwandte. Von dem unteren Ende der Stiege hatte das Kreischen immerhin stammen müssen. Vermittels einer kurzen Kopfbewegung bedeutete Ugo dem Hund, hintanzubleiben und ihm mit Gemach nach unten zu folgen. Die Stufen führten sie zum Kaminzimmer, dem Aufenthaltsraum der Familie. Neben einer ausgedehnten Feuerstelle und einer langen Tafel war in einem Winkel des zugigen Raumes eine Küche eingebaut, die nun die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zog. Dies lag nicht nur an den kaum zurückhaltend ausgestoßenen Flüchen, die aus dieser Ecke zu hören waren, sondern auch an dem schwindelerregenden Farbaufkommen. Der gesamte Fußboden war bedeckt von einem wüsten Arrangement aus Kronblättern von Rittersporn, Herbstanemonen, Sonnenbraut, Löwenmäulchen, Gladiolen und Goldruten. Ihre korrespondierenden, noch halbwegs intakten Pflanzenteile füllten ein halbes Dutzend Körbe, die auf dem storchbeinigen Tischlein gefährlich wankend übereinandergestapelt waren. Inmitten dieser floralen Collage bebte eine hochgewachsene, feingesichtige, leicht schielende, trotz ihres südeuropäischen Teints merkwürdig bleich wirkende Frau Ende zwanzig vor Zorn. Als Ugo samt seinem lebendigen Schatten vor sie trat, weiteten sich ihre scheinbar funkensprühenden Augen, wenn überhaupt möglich, noch mehr und mit ihren geblähten Nasenlöchern weckte sie Erinnerungen an eines der Rösser des Thrakerkönigs Diomedes. Ebenso furchtlos wie sich Herakles seinerzeit den menschenfressenden Pferden genährt haben musste, passierte Ugo die wutentbrannte Gestalt so ungerührt, wie es stets seine Art war und füllte munter summend einen Topf mit Wasser, um sich einen Tee zu brauen.

    „Ich glaube, als uns von Emanuele die Restaurierung der Lüsterware aufgetragen wurde, galt das Ansinnen eher dem Kleben, Retuschieren und Glasieren der Alhambravasen. Mit einer Neuinterpretation der Bodenfliesen alla Mille fiori könntest du unverblümt in ein Wespennest langen", sagte Ugo, während er einigen Hautflüglern auswich, die von dem intensiven Duft nach Thymian angezogen worden sein mussten und nun Gefallen an den Hagebutten fanden, die er auf einem Löffel gehäuft, seinem Teewasser zugeben wollte.

    Als Nidsa nicht sogleich auf seine Worte einging, blickte Ugo mit verwunderter Miene über die Schulter und reagierte mit einigermaßen besorgtem Ausdruck auf das Bild, das sich ihm bot.

    „Tu das nicht", sagte er sanft und trotz der Warmherzigkeit, die er stets einem jeden über seine Stimme zuteilwerden ließ, hörte man nun auch ein wenig Sorge heraus.

    Nidsa nahm indes keinerlei Notiz mehr von dem jungen Baldemar, sondern schritt wie hypnotisiert an ihm vorbei. Sie hatte einen Buckel gemacht und man sah ihren starren Blick durch die toffeebraunen Strähnen, die ihr trotz des buntgemusterten, als Haarband fungierenden Seidentuches, ins Gesicht gefallen waren. Wie in Zeitlupe trat sie vor und beugte sich mit dräuenden Gebärden über den graupelzigen Junghund. Diesem entging die auf ihn gerichtete Fokussierung nicht und er unterbrach sein verträumtes Kauen auf der Scheindolde einer Schafgarbe.

    „Unablässige Schinderei, alles für den Gänsegeier!", zischte sie, wobei ihre Nasenspitze nur noch eine Armeslänge von Grisus Fang entfernt war.

    Aus der Perspektive des Windhundes betrachtet, musste sie eine perfekte Imitation eines, noch dazu dreist schielenden, Artgenossen darstellen, der sich nach seiner Blume verzehrte und ihm somit die Beute streitig machen wollte. Ugo, der wie kaum ein anderer darin geschult war, minimale Regungen in der Mimik der Hunde zu erkennen, wusste, dass die kleinste Muskelzuckung in seiner Fazies nun eine Attacke ankündigen konnte. Da auch Nidsa um die Entschiedenheit wusste, mit der neidvolle Konflikte innerhalb des Rudels ausgetragen wurden, blieb als einzige Erklärung für ihr Verhalten, dass sie absichtlich genau solch eine Auseinandersetzung provozierte. Ehe Ugo aber einschreiten konnte, war Grisu bereits nach vorne geschnellt und hatte ihr nach der Manier eines freundschaftlichen Boxhiebes seine Schnauze zwischen ihre Augen gestoßen. Gewiss als wohlmeinende Geste erachtet, harrte er alsdann einer Erwiderung auf seine deutliche Bereitschaft, an der von ihr vorgeschlagenen Rauferei teilzunehmen. Stattdessen half ihr selbst heftigstes Rudern mit den Armen nicht dabei, sich des bevorstehenden Falles nach hinten zu erwehren. So donnerte sie aus ihrer gebückten Haltung heraus rückwärts in den Stapel aus Blumenkörben.

    Just in diesem Moment näherten sich von der Eingangspforte her energische Schritte und kurz darauf betrat eine weitere Figur die Arena der bewegten Gemüter. Auf dem sonnengebräunten Antlitz der fünfzigjährigen Frau stand pure Verwunderung geschrieben, als sie ihren ebenfalls bis zum Rand mit bunten Gewächsen gefüllten Weidekorb vor ihre Füße sinken ließ. Die Farben der Blühpflanzen waren von ähnlicher Leuchtkraft wie die Kronblätter, welche Nidsa nun vollständig unter sich begruben. Ächzend und stöhnend wand sie sich auf dem Boden zwischen den Blüten wie ein Rosenkäfer, der sich eines unvermuteten Windhauches wegen falsch herum liegend mit dem Bauch gen Himmel wiegte. Waren ihre ersten Lautäußerungen kaum mehr als ein gedämpftes Keifen, so hörte man allmählich so etwas wie „fahr zur Hölle, unglückliche Bestie!" aus Nidsas Munde. Der heiter schwanzwedelnde Adressat dieser Aufforderung jedoch bequemte sich nicht, derartiges zu unternehmen, sondern begrüßte auf enthusiastische Art und Weise den hinzugekommenen Menschen. Von da an entfaltete Amanda die untrennbar mit ihrer Anwesenheit verknüpfte Wirkung, dank derer sie jedem Einzelnen der im Raum Weilenden gleichzeitig den Eindruck vermittelte, ihm gelte ihre volle Aufmerksamkeit. Ganz offensichtlich musste es mit jenem schier immerwährenden Bewegungsfluss zusammenhängen, von dem ihr Körper erfasst war, dass sich diese Illusion im Geiste der sie Umgebenden stets so zuverlässig einstellte. Niemals schien ihr Tun hektisch oder wie von einer inneren Unruhe getrieben. Vielmehr war es, als würde sie nimmermüde einen Tanz aufführen, mal einen Walzer, mal eine Polka, den sie der Burg und ihren Bewohnern gewidmet hatte. Wie viel unwahrscheinlicher, wenn auch nicht unmöglich, wäre es gewesen, dass sie tatsächlich im Stande gewesen sein sollte, parallel den Deerhound aufs Herzlichste zu begrüßen, Ugo mütterlich zu umarmen und ihrer immer noch zornestrunkenen Nichte aufzuhelfen?

    Kaum hatte Nidsa sich wieder berappelt, trat ihr Ugo in den Weg und schirmte dadurch Grisu ab. Es wäre wohl überflüssig zu erwähnen, dass durch eine weitere derartige Eskapade womöglich sein Gefallen an Umsturzversuchen geweckt worden wäre und er das in gewisser Weise rebellische Verhalten hätte ritualisieren können.

    „Zweifelsohne wollte er deiner Kreation bloß das Element der Groteske beifügen … oder nein, es fehlte aus seiner Sicht noch ein Laufender Hund, im Sinne eines vitruischen Wasserwogenbandes", schmunzelte Ugo.

    „Wenn es lediglich er wäre!", fauchte sie, aufgrund ihres eingeschränkten Blickfeldes nun an Ugo gerichtet, obgleich dies ihres Schielens wegen allenfalls zu vermuten war.

    „Die ganze Brut ist fuchsteufelswild. Mitten in der Nacht ging das Geheule auf dem Hof los und bis zum Sonnenaufgang konnte ich kein Auge zu machen."

    „Du wirst geträumt haben", erwiderte Ugo gelassen.

    Bevor Nidsa protestieren konnte, meldete sich Amanda erstmalig zu Wort - Amanda, die kaum je einmal ohne Not zu viel redete, und wenn sie es tat, dann niemals verdrießlich. Ganz im Gegenteil vermochte sie es, jeder Widrigkeit einen Hauch Liebreiz abzugewinnen, wenn sie der Realität dafür auch einiges andichten musste. Unterdessen unterbrach sie nicht ihr flinkes Sortieren der botanischen Schätze.

    „Ich habe sie auch gehört." Sie sagte das ohne einen Anklang von Missmut und obwohl ihre Physiognomie eine fast identische, wenn auch ältere und klarer dreinblickende, Version ihrer Nichte darstellte, hätten die beiden in diesem Moment schwerlich ein unterschiedlicheres Erscheinungsbild abgeben können.

    „Gewiss haben sie Unheil von uns abgewendet", ergänzte Amanda und zwinkerte nachdrücklich - eine Geste, die allen Familienmitgliedern gleichzeitig hätte gelten können.

    „Die Biester wittern nachts Gespenster, weil sie tagsüber von eurem endlosen Vagabundentum ganz kirre gemacht werden. Und wir versinken dadurch immer mehr im Elend", setzte Nidsa an Ugo gerichtet nach.

    „Deinem Ermessen nach werden wir uns aber mit dem Errichten eines Schmetterlingshauses aus dem fortwährenden Samsara befreien können?", entgegnete Ugo belustigt.

    „Darüber dürfen wir noch rätseln, meinte Amanda, offenbar von der Vorstellung flatternder Falter in Bann genommen, und kramte in der Seitentasche der Latzhose nach ihrem Handy. „Emanuele schrieb mir in der Früh noch vor dem Morgengrauen eine Nachricht, in der er seine Aufwartung ankündigte. Es sei unabdingbar, dass wir unverzüglich mit dem körbeweisen Sammeln von Blühpflanzen begönnen.

    Mitteilungen dieser Art seitens Ugos Onkel kamen des Öfteren aus heiterem Himmel und waren selten weniger enigmatisch als diese. Sie standen üblicherweise im Zusammenhang mit tollkühnen Projekten, manchmal auch zwielichtigen Ideen, die er dazu auserkoren hatte, die Geschicke der Burg in einen prosperierenden Wandel zu versetzen. Tatsächlich verhalfen seine Initiativen dem ehemaligen Jagdschloss regelmäßig zu Fortexistenz und bewahrten die Bewohner davor, endgültig im Schuldturm zu landen. Dies änderte nichts daran, dass das Gemäuer zum Großteil viel mehr einer Ruine glich als einem bewohnbaren Domizil und dass es vor allem Amandas und Nidsas strebsamen Schuften zu verdanken war, dass der Verfall bisher noch in Schach gehalten werden konnte. Dennoch wäre die Familie ohne Emanueles pekuniäres Zutun und seinen Geschäftssinn längst dazu verdammt gewesen, ihr Zuhause aufzugeben. Ursprünglich hatte das Anwesen dem Besitz von Gaspards langjährigem Mentor angehört. Nach dessen Tod war es zusammen mit dem gesamten Vermögen an Ugos Großvater übergegangen. Er hatte dort, gemeinsam mit seiner Frau Raphaelle, eine Praxis gegründet und seine Söhne großgezogen. Was diesen dank der geistgeborenen Sentenzen des Vaters nicht an Wissensballast vorgegeigt worden war, dafür hatte die begnadete Musiklehrerin den richtigen Tonfall gefunden und es mit Emanuele sowie Antonello geteilt.

    Auch Ugo, als einziges Kind von Letzterem, war hier zur Welt gekommen. Mit seiner Mutter jedoch hatte er nicht viel Zeit verbringen dürfen, da sie wenige Monate nach seiner Geburt dahingeschieden war. Ebenso wenig war es ihm vergönnt gewesen, Raphaelle kennenlernen, welche schon Jahre zuvor ein früher Tode ereilt hatte.

    Die geerbte Barschaft indes war schon sehr bald von bitternötigen und gleichsam halbgaren Renovierungsarbeiten verschlungen worden. Um den wirtschaftlichen Ungelegenheiten Herr zu werden, hatten dabei in der jüngsten Vergangenheit weder das heilkundige Schaffen Gaspards noch Antonellos Botanisieren einen ansehnlichen Beitrag geleistet. Der für lange Jahre gemeinsam betriebene Holzhandel der Brüder hatte genug Sägemehl aufgewirbelt, damit daraus zumindest ein schweres Brot zum Überleben gebacken werden konnte. Allerdings waren die beiden wesensverschiedenen Forstwirte in einen Zwist geraten, welcher einer Spaltung des Werkes Vorschub geleistet hatte. Emanuele war schon längst nicht mehr auf der Burg ansässig gewesen, als sein Geschäft im selben Maße zu florieren begonnen hatte, wie das von Ugos Vater dem Untergang näher gerückt war. Anders als der jüngere Bruder, welcher sich der Brettmühle angenommen hatte, war Antonello ausgerechnet in den Dienst des am wenigsten einbringlichen Zweiges der Forstkultur gestellt worden. Des Experimentierens an Sämlingen und Jungwuchs in den eigenen Gewächshäusern hatte er sich mittlerweile seit einiger Zeit schon anheischig gemacht. Als hinterwäldlerischster aller Forscher jedoch eignete ihm nicht einmal die Hälfte des Ingeniums, mit dem Emanuele sich brüsten konnte, wenn er dank seiner Geckereien so manchen Zeitgenossen hinter die Fichte führte. Dem Naturell von Ugos Vater hätte es womöglich viel eher entsprochen, wie die Zapfenpflücker in den Wipfeln zu hocken oder den lieben langen Tag durch den Wald zu stromern. Dass er einen Großteil des Jahres als Geschäftsreisender in entlegenen Teilen des Erdballs verbrachte, gestattete ihm nicht bloß auch den einen oder anderen Züchtungserfolg zu versilbern, sondern es entsprach wohl auch am ehesten der Lust am Vagabundieren. Wenn ihn früher, wie zur Zeit unserer Geschichte, die Fluten des Mare Mediterraneum von seiner Familie trennten, hätte er sich leicht den Ruf eines Rabenvaters erworben. Freilich wäre ihm aber nie in den Sinn gekommen, das einzige Kind ohne behutsame Kuratoren zurückzulassen.

    Aus diesem Grund war Amanda aus Spanien gen Nordosten gezogen und hatte sich seither beharrlich um Ugo und das Anwesen gekümmert. In ihrem Kampf gegen das Verderben war sie von Stund an durch Gaspard und nun seit sechs Jahren auch durch die ebenso von der iberischen Halbinsel emigrierten Nidsa unterstützt worden.

    Als sich schließlich das Ende ihres Lebens auf der maroden Burg Silbleincastell angedeutet hatte, war der Familie durch Emanuele mit märtyrerhafter Geste Beistand angeboten worden. Von da an hatte er sich stets, teils aus eigener Tasche, teils durch den Obolus aus dem Portemonnaie begüterter Gönner, für die Rettung der Burg ins Geschirr gelegt. Da er sich außerordentlich gut auf die Rolle des Rattenfängers von Hameln verstand, war es ihm ein Leichtes gewesen, eine Vielzahl von vermögenden Besuchern zu ködern. Ihrer Gier nach Extravaganz war er stets mit fantastischen Sensationen begegnet, die er seinem Publikum wie ein Künstler auf einer Vernissage präsentierte. Zweifelhafte empirische Tatsachen waren ihm dabei nie ein Hinderungsgrund gewesen - ganz und gar nicht.

    Zu einem seiner Ausflüge etwa hatte er seine Gäste mit der Geschichte gelockt, es habe sich ein unerklärliches Phänomen im Umkreis der Burg abgespielt, dass dazu geführt habe, dass sich im Herzen der Dolomiten ein tropisches Mikroklima ausgebildet habe. Für die Führung hatte er den schwülsten Hochsommertag des Jahres gewählt und mit überschwänglicher Begeisterung die von Amanda und Nidsa am Vortag gesetzten Regenwaldgehölze und exotischen Blühpflanzen präsentiert. Seine Behauptung, die leichtgläubigen Abenteurer würden Zeugen eines klimatischen Naturwunders, hatte er mit einem ornithologischen Clou untermalt. Emanuele war es gelungen, einen Schwarm Papageien freizulassen, nachdem er sie auf die Futtersuche im Burggarten konditioniert hatte. Da seine Schöpfung aber allzu eitel war, seine Stauden rasch eingingen und die Psittaziden andere Täler aufsuchten, hatte er alsbald mit neuen Wundern aufwarten müssen.

    Mit seiner nächsten Idee war es ihm dann vergönnt gewesen, eine ganze Karawane von Wallfahrern zu bezirzen, indem er das Wasser aus dem Gebirgsbach als Verjüngungskur angepriesen hatte. Die von Sehnsucht getriebenen Pilger hätten der Familie vielleicht zu atemberaubenden Wohlstand verholfen, wäre es nicht zu einigen mittelschweren Krankheitsfällen gekommen, die einer enterobakteriellen Kontamination geschuldet gewesen waren. Für die Baldemars, auf der anderen Seite des Trinkwasserfiltersystems, war ein solches Risiko nicht zu erahnen gewesen.

    In die Abfolge von aberwitzigen Kuriositäten ließe sich auch das Erscheinen einer Sagengestalt einreihen, die sich gemäß Emanueles Verkündigungen seit Ewigkeiten zum ersten Mal wieder den Menschen gezeigte habe. Er hatte sich auf eine jahrhundertealte Sage berufen, aus der Zeit, als gerade das Jagdschloss gemäß dem Geschmack der Zeit umgebaut wurde. Sein Bauherr Wacholder, der Machthaber über die umliegenden Täler, war damals nicht nur wegen des allgemeinen Mangels, sondern auch ob seiner jagdlichen Festivitäten beim Volk in Ungnade gefallen. Das Wild, die hetzenden Hunde und die folgenden Reiterscharen hatten die Äcker zerstört und das Vieh in Panik versetzt. Der Grimm der Untertanen war vor allem auf die Windhunde gerichtet gewesen, für deren Unterbringung man zusätzliche Steuern erhoben hatte. Immer lauter waren die Stimmen geworden, die das Stürmen der Festung und einen Lynchmord am ignoranten Fürsten gefordert hatten. Da jedoch war aus dem Gefolge des Herrschers eine Frau, deren Aussehen ihre fremdländische Herkunft verraten hatte, zu den Menschen des Dorfes Silabarz, dieser Tage auch Silabarzio genannt, herabgestiegen. Sie hatte Vertreter von allen künftigen Erbhöfen dazu aufgefordert, sich auf einer Wanderung von den Windhunden der Burg begleiten zu lassen. Die Leute waren dieser Bitte nachgekommen und den offenbar einer Fährte folgenden Tieren hinterhergeeilt. Als diese schließlich hoch im Gebirge innegehalten hatten, war den Dörflern langsam bewusst geworden, dass sie zu einem in Vergessenheit geratenen Silberstollen geführt worden waren. Fortan hatte der Bergbau vielen Minenarbeitern den Lebensunterhalt gesichert und das Volk besänftigt. Zahlreiche Lieder waren über die rätselhafte Frau aus dem Kreis des Fürstens geschrieben, prächtige Gemälde und Schnitzereien von ihr angefertigt worden. Auch das Jagdschloss, das Zuhause der Baldemars, war durch die Sage zu seinem Namen gekommen.

    Die Leute, an die Emanuele in der gegenwärtigen Epoche sein Angebot, sie bei der Suche nach der legendären Frauengestalt zu unterstützen, herangetragen hatte, waren von ihm zur Darbietung einer gebührend verwunschenen Atmosphäre mitten im Wald ausgesetzt worden. Daraufhin hatte er Nidsa, eingehüllt in ein bodenlanges silberfarbenes Gewand, losgeschickt, sich den Menschen in einiger Entfernung zwischen den Bäumen zu zeigen. Unterschätzt hatte er allerdings den Eifer, den die Leute an den Tag legen würden.

    Am Ende hatten sie sich als eine Bande regelrechter Hexenjäger entpuppt, denen Nidsa nur dank ihrer hervorragenden Ortskenntnis entkommen war. Als sie irgendwann wieder Zuflucht auf dem Burggelände gefunden hatte, war Emanuele gezwungen gewesen, der keuchenden und vor Seitenstichen gekrümmten Darstellerin zu versprechen, zukünftig bedeutend kritischer bei der Zusammenstellung seiner Besichtigungsgruppen zu sein. Nun also sollten Blumen als Requisiten in seinem neusten Streich dienen.

    „Seiner Botschaft war nicht zu entnehmen, wann er hier auftauchen wollte", sagte Amanda, während sie mit einem Reisigbesen die Blütenblätter rege zusammenfegte.

    Zweifelsohne entwarf ihr Geist gerade mit jeder Kehrbewegung eine mit jedem Mal schillerndere Variante des bevorstehenden Tages.

    „Von mir aus kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Dort kann er sich mit seinen künstlerischen Exaltiertheiten austoben, bis er schwarz wird", zeterte Nidsa weiter.

    „Hmm, ‚künstlerisch‘ meintest du?, fragte Ugo und sprang, die eine Hand die Teetasse umgreifend, die andere auf die Holzplatte gestützt mit akrobatischer Leichtigkeit in den Schneidersitz auf den Küchentisch. „Emanuele könnte sich, bildlich gesprochen, die Maske eines altmeisterlichen Malers aufgesetzt haben und nun seinen erlesenen Lehrlingen Unterricht hier im renaissancehaften Ambiente der Burg erteilen. Womöglich hat er sich Stillleben zum Motiv gewählt oder aber du, Nidsa, sollst als ‚Blumenmagd vor dem Schlosstore‘ ihre Muse sein, überlegte Ugo.

    „Oder man nimmt sich das Bild von Gioseppe Arcimboldo zum Vorbild und pikiert die Blumen mit Stecknadeln auf dein hochwohlgeborenes Antlitz", konterte Nidsa.

    „Das wäre zu schade …, entgegnete Ugo, trat vor die Frau, der bis zu diesem Tageszeitpunkt schon so übel mitgespielt worden war und zupfte an einer ihrer Haarsträhnen. „… um solch ein Schöngesicht und Anmutiges Bärenohr.

    „Bitte was?", fragte Nidsa verdattert.

    „Beides in deinem Haar", erwiderte Ugo, woraufhin sich Nidsa den Schopf raufte, um sich der letzten verbliebenen Blumen zu entledigen.

    Noch ehe sie Gelegenheit hatten, weitere Vermutungen anzustellen, war ein dreimaliges, laut hallendes Pochen von der Eingangspforte zu vernehmen. Bevor einer von ihnen reagieren konnte, wurde das Portal bereits aufgeschwungen und hereinstolziert kam ein blonder Mann Mitte dreißig. Erhobenen Hauptes durchmaß er mit wenigen großen Schritten den Raum und baute sich mit siegessicherem Gesichtsausdruck vor der Familie auf. Ihre augenscheinliche Verwunderung war schwerlich seinem urplötzlichen Auftreten geschuldet, stattdessen aber der Wahl seiner Garderobe.

    „Was sagt ihr?", fragte Emanuele, breitete die Arme aus und drehte sich langsam, damit er von allen Seiten bewundert werden konnte.

    Sein Gewand bestand von unten nach oben aus schwarzen Schnallenschuhen, Kniestrümpfen und einer Art Kniebundhose, die genauso wie die kurzgeschnittene, mit ausgefallenen Schulterpolstern versehene Jacke raffinierte Goldborten trug.

    „Eitler Gockel", murmelte Nidsa, wenig bemüht ihre Stimme zu dämpfen.

    Emanuele schien sie nicht gehört zu haben und forderte mit einer ungeduldigen Handbewegung eine Antwort ein. Weil man ihm weiterhin eine solche verwehrte, offenbarte er brevi manu mit jovialem Habitus selbst die Lösung.

    „Ganz unübersehbar, hob Emanuele an, „bin ich in der traditionellen Mode des einfachen Bauernvolkes der Region gekleidet.

    „Eine Tracht hier aus dem Alpenland?, fragte Amanda und nahm zum Gruß sein Gesicht in beide Hände. „Du erinnerst mich vielmehr an einen Matador auf dem Weg zur Corrida.

    „Die Verkörperung von Mannesstärke und Tapferkeit? Sehr schmeichelhaft, aber ich versichere euch, dass heute kein Tropfen Blut fließen wird."

    Den Blicken, die sich die anderen gegenseitig zuwarfen nach zu urteilen, empfanden sie, vielleicht mit Ausnahme von Amanda, keine rechte Lust an seiner Geheimniskrämerei. Selbst Grisu war die Sache wohl nicht ganz geheuer und er beließ es dabei, zart Emanueles Unterarm anzustupsen. Allerdings tat der Junghund das mit weit gerecktem Hals, als hätte er sich darauf vorbereitet, im Ernstfall rückwärts die Flucht zu ergreifen.

    „Dir auch einen guten Tag, mein alter Knecht!", sagte Emanuele und tätschelte unsanft Grisus Kopf, ohne den Deerhound auch nur anzusehen.

    „Wohl an, denn!, rief er und klatschte in die Hände. „Unsere Gäste werden in Bälde eintreffen. Am Morgen sollten es noch wenige sein, aber wenn mein Plan aufgeht, werden wir bis zum Abend sieben Mann im Gästehaus untergebracht haben.

    Er verzichtete auf eine längere dramatische Pause und setzte seinen Monolog sogleich fort.

    „Und verschwendet keine Zeit mit Räumen oder Schrubben. In Wahrheit ist es hier noch zu gefällig und aufgeräumt. Was wir aber brauchen ist Verwilderung und Rohheit! Wir müssen diesen Leuten außerdem das Gefühl geben, dass noch immer die Unbarmherzigkeit und Dekadenz des Adels an den Mauern kleben. Wir wollen des Weiteren die verbliebene Glut des Infernos vergangener Jahrhunderte schüren und dem Publikum mit lichterloh brennender Flamme den Pfad seiner Katharsis erhellen! Denn dies‘ Gelände soll den Raum bieten für ein Theater, das den Menschen jegliche weltliche Banalität von den Seelen schabt!"

    „Und welcher Kunstgattung ordnest du dein Seelengeschabe zu?", fragte Nidsa mit gerümpfter Nase.

    „Das war nicht gänzlich metaphorisch gemeint. Ist es nicht so, Onkel? Du hast Schauspieler hierher eingeladen", vermutete Ugo.

    „In der Tat handelt es sich um eine kleine Theatergruppe, mitsamt Regisseur, Bühnenbauern und welche Lakaien sie sonst noch brauchen. Allesamt Virtuosen ihres Faches, allenthalben bejubelt und gefeiert. In wenigen Wochen werden wir die Premiere ausrichten. Im Burggarten soll sie stattfinden. Die ersten Karten habe ich bereits verkauft, ausschließlich an Vertreter mit Rang und Namen. Wir inszenieren das Spektakel als Geheimtipp, das wird den Preis für den Eintritt in die Höhe treiben. Außerdem müssen wir uns auf Mundpropaganda verlassen, da wir von Ankündigungen in der Öffentlichkeit Abstand wahren sollten. Immerhin könnte ein Besuch des Gesundheitsamtes unser Vorhaben erschweren. Bis zur Aufführung wird die Truppe jedenfalls hier proben und im Gästehaus residieren."

    „Bravo!, rief Amanda und ließ die Faust wie zur Demonstration ihrer Loyalität auf den Tisch donnern. „Wie lautet der Plan?

    „Nun, zunächst einmal -", begann Emanuel, wurde aber jäh von Nidsa unterbrochen.

    „Einen Moment. Du verlangst von uns, dass wir diese Affenbande wochenlang auf unserem Grund dulden und uns von denen die Staudenrabatten niedertrampeln lassen? Und ich prophezeie dir, dass die Elektrizität im Gästehaus wieder zur Unzeit versagen wird. Was dann? Soll ich jedem einzelnen Virtuosen dann seinen morgendlichen Cappuccino aus unserer Küche servieren?"

    „Du wirst sehen, meine geschätzte Nidsa, dass es sich um ein geradezu … kontemplatives Kollektiv handelt. Sie werden die vorübergehende Askese als eine wertvolle Erfahrung erachten", erwiderte Emanuel aalglatt.

    „Aus welchem Tümpel hast du denn solch einen Klub gefischt?", hakte Nidsa nach.

    „Wie ich bereits sagte, reden wir von ruhmreichen Männern mit tadellosem Leumund. Den Aufenthalt auf der Burg werden sie als Inspiration erleben", wehrte Emanuel ihre Bedenken ab.

    „Und das Ensemble ist zu demselben Urteil gekommen wie du?", erkundigte sich Ugo und beobachtete daraufhin genau, wie sich die Mundpartie seines Onkels verfestigte, so als bisse er die Zähne fest aufeinander.

    Nachdem er für einige Sekunden so aussah, als verfluche er seinen Vater Gaspard dafür, dass dieser die in seinen Augen ohnehin anmaßend penetrant ausgefallene Beobachtungsgabe seines Neffen noch weiter kultivierte, gewann er wieder vollends die Beherrschung.

    Da zumindest Ugo irgendwo in Emanueles Darbietung die Existenz eines Pferdefußes erkannt hatte, war er nun gezwungen, die Krux in seiner Geschichte preiszugeben:

    „Wenn man den bisherigen Status unserer Kollaboration allzu streng betrachten würde, könnte man vielleicht zu dem Schluss kommen, dass das abschließende Wort der Zustimmung bei unseren Partnern noch nicht gesprochen ist. Eine reine Formalität! Wir haben die hinreichenden Bedingungen für unsere Übereinkunft quasi schon geschaffen".

    Auch Nidsa hatte Lunte gerochen und wandte sich an Emanuele mit einer Stimmlage, die ein wenig zu grollend und ein wenig zu gesenkt war, als dass man ihrer Bedrohlichkeit nicht zwangsläufig hätte innewerden müssen: „Werde ein wenig konkreter in puncto ‚Bedingungen‘!"

    Noch immer in der Pose eines Toreros trat Emanuele zu den üppig gefüllten Blumenkörben, beugte sich darüber und sprach von da an mehr zu den Sträußen als zu der Familie hinter sich: „Anfangs bestand eine gewisse … Reserviertheit seitens der Koryphäe der Theatergruppe, des unentbehrlichen Wunderkindes, wenn ihr so wollt. Er hatte einige wenige, unerhebliche Bedenken wegen der Austragungsstätte unserer ‚epochemachenden Festspiele‘, wie man sie gewiss noch in ferner Zukunft nennen wird. Erfreulicherweise haben wir aber seinen Agenten auf unserer Seite. Um es deutlich zu sagen, verfüge ich über einige Druckmittel, die ihn dazu motivieren, mir bei der Manipulation des besagten Genies zu assistieren … Er hat von uns eine Kondition heraushandeln können. So wir sie zur Zufriedenheit erfüllen, steht der Vertrag. Es ist ein irrationales Anliegen, eine nostalgische Albernheit. In seiner frühen Kindheit hat unsere Hauptattraktion den Sommer in den Bergen bei Verwandten verbracht. Er war den ganzen Tag über mit den Dorfbälgern unterwegs, verbrachte die Tage mit ihnen auf der Alm, wo sie sich ihr kümmerliches Taschengeld beim Hüten des Viehs verdient hatten … Jedenfalls war es ihm nie vergönnt, bis in den Herbst zu bleiben. Stets wurde er gezwungen, kurz vor dem feierlichen Almabtrieb abzureisen. Die prahlerische Wiedereinstallung der opulent dekorierten Rindviecher, begleitet von Posaunen und Trompeten, lernte er nur aus den schwärmerischen Erzählungen der anderen Landplagen kennen. Letztendlich ist es sein Begehren, diese Erfahrung heuer nachzuholen."

    „Aber daran soll es doch nicht scheitern, meinte Amanda unverzagt. „Man kann einen Menschen mit aller Herzlichkeit drangsalieren, in aller Milde triezen, mit größter Huld malträtieren und ihm aus bestem Wohlwollen heraus zusetzen. Wieso sollten wir also nicht das Gespräch mit den Dörflern suchen und jeden Vorbehalt, den sie angesichts der Partizipation eines Fremden hegen könnten, in einer liebevollen Umarmung ersticken?, führte sie ihren Gedanken aus und gab damit den anderen Anlass zur Erleichterung darüber, bisher ihre Barmherzigkeit nicht kennengelernt haben zu müssen.

    Emanuele unterbrach sie mit einer kurzen Geste und legte daraufhin wie als Zeichen der Dankbarkeit seine Hand auf die eigene Brust.

    „Dein Kampfesgeist enttäuscht mich nimmer, teure Amanda", entgegnete er mit einem großzügigen Lächeln. „Allerdings besteht man strikt auf eine Vorlage von unserer Seite her. Unser Handel geht erst auf, nachdem er den Umzug erlebt hat. Darum ist es nun an uns, etwas zu improvisieren. Unser schwieriger Klient ist nicht im Geringsten mit den lokalen Traditionen vertraut und hinterfragt mit Gewissheit nicht den Sinn hinter dem Brauchtum, geschweige denn den unmittelbaren Nutzen für die Tierversorgung. Seine Vorstellung von einem Almabtrieb beruht auf Anekdoten, weswegen wir auf ein ausreichendes Maß an Plastizität vertrauen können, was seine Ideen von dem Spektakel angeht. Wir werden heute einen Almabtrieb für unseren famosen Freund veranstalten und müssen dabei lediglich die ihm bekannten Elemente, das heißt mit Blumen geschmückte Tiere und Blasmusik, berücksichtigen. Dass auch Gaffer, Trinkgelage und heidnischer Hokuspokus eine Rolle spielen, davon ahnt er gar nichts. Sehen wir sie alle gemeinsam und halten sie für wahr, wird er die Fata Morgana gar nicht als solche erkennen."

    „Und welches Geviech willst du in deinem Wahn von der Sommerweide scheuchen? Murmeltiere?", fragte Nidsa mit ungläubigem Unterton.

    „Keine Bange, meinte Emanuele abwiegelnd. „Wir machen einfach einen Spaziergang zu einer der Wiesen, leihen uns unbemerkt zwei oder drei der wiederkäuenden Biester aus, binden ihnen so viel Blumengestecke auf den Schädel wie möglich und bugsieren sie dann hinunter zur Burg. Wir behaupten schlichtweg, dass die Tiere sich dort ausruhen müssen und später von ihren Besitzern aus dem Tal abgeholt werden würden. Am Abend lassen wir sie dann einfach heimlich laufen und sie finden ganz von allein wieder zurück auf ihre Weide.

    Es stand gewiss noch so manches an Fragen, Einwänden und unschmeichelhaften Unterstellungen im Raum, die jedoch nie zur Sprache gebracht werden konnten. Ihr Wortwechsel nämlich wurde urplötzlich durch eine Wehklage unterbrochen, die durch Mark und Bein ging.

    Alle vier Menschen zuckten heftig zusammen und Grisu drängte sich schutzsuchend an Ugos Beine. Alarmiert durch die Schrille des von draußen stammenden Rufes, der nur von einer qualvoll dahinscheidenden Kreatur stammen konnte, zögerten die Konspiratoren nicht länger, zu dem einzigen Fenster des Raumes zu eilen. Dicht nebeneinander gedrängt, versuchte ein jeder, einen Blick auf den Weg zum Silbleincastell zu erhaschen. Es bedurfte einen Moment, bis sich ihre Augen an den Kontrast gewöhnt hatten, der zwischen dem grell von der Sonne beschienenen Anteil des Pfades und seinem weiter entfernten, im Schatten der Fichten gelegenen Bereich herrschte. Genau an der Grenze aber, am Übergang vom finsteren Wald zur lichten Straße, konnte deutlich eine Bewegung ausgemacht werden.

    Sie nahmen zuerst nur eine, und kurz darauf eine weitere Silhouette wahr. Wären sie auf die Täuschung ihres Gesichtssinns hereingefallen, dann hätten sie wohl an das Erscheinen eines Monstrums oder seiner zwei geglaubt. Denn wahrlich ungeheuerlich wirkten die Gestalten, jede von ihnen mit zwei Häuptern, ihre Körper teils von dunklem Pelz, teils von dunklen Stoffen bedeckt.

    „Spielen mir meine Augen einen Streich oder sehe ich da Reiter auf …?", fragte Amanda zweifelnd.

    Auch wenn ihre Worte einer Entzauberung der Chimäre gleichkamen, war der Anblick von zu Pferde Reisenden dennoch ein seltener in diesem Gelände. Kaum einem war bei dem Versuch, sein Ross den schmalen, steilen Pfad hinaufzubewegen, häufig Erfolg vergönnt. Diese Huftiere hatten den Weg offenkundig bewältigen können, doch schien nun das vordere den Schritt in das gleißende Tageslicht zu scheuen. Bei genauerer Betrachtung war sodann zu erkennen, dass es sich um Vertreter einer anderen Spezies handelte. Trotz der Distanz ließ sich die samtige Beschaffenheit ihres, mit Ausnahme der cremefarbenen Partien um die Nüstern, die Augen und an der Bauchunterseite, dunkelbraunen Haarkleides erahnen. Am prägnantesten waren vielleicht die ausgesprochen langen, forschend auf das fremde Terrain gerichteten Ohren.

    „… Maultieren?", ergänzte Amanda ihre Frage.

    Noch dazu erweckten sie den Eindruck, dass es recht junge Exemplare waren, deren entschiedenes Innehalten die Familie mitansehen konnte. Der erschütternde Schrei schien von dem ersten Tier ausgestoßen worden zu sein, das seinen einige Meter hinter ihm wandelnden Gefährten zu sich herbeirief. Mittlerweile hatte dieser aufgeschlossen, was dem Maultier des Tetereiters genügend Wagemut verschaffte, sodass es über die Schwelle des Waldes treten und sich der Burg nähern konnte. Die Menschen, die auf ihren Rücken thronten, wirkten, eingezwängt zwischen gigantischen Satteltaschen, noch kleiner als sie es ohnehin waren. Was die beiden derweil voneinander unterschied, waren ihre Lebensjahre. Der hintere Reiter war ein Mann mittleren Alters, dem das Erstaunen darüber, die Klettertour heil überstanden zu haben, ins Gesicht geschrieben stand. Im Gegensatz dazu zierte die Visage seines Vorreiters so etwas wie vollendeten Stoizismus. Ein Kind, offenbar südasiatischer Abstammung und nicht älter als zehn Jahre, war es, das mit Gleichmut seine Umgebung musterte. Ungeachtet des Umstandes, dass er seinen Verbündeten dadurch die Glasscheibe gegen die Stirn donnerte, riss Emanuele großspurig das Fenster auf, um seine verfrüht eingetroffenen Gäste die Honneurs zu machen.

    „Welch eine Ehre!, rief er und es gelang ihm tatsächlich, dass sich seine Stimme wie aus Freude dabei überschlug. „Seid aufs Herzlichste willkommen in unserer bescheidenen Residenz. Geduldet euch nur noch eine kleine Weile, ich werde flugs bei euch unten sein!

    Emanuele machte auf dem Absatz kehrt und stolperte in seiner Hast beinahe über den armen Grisu.

    „Bis ich die Begehrlichkeiten ausgekundschaftet und euch weitere Instruktionen gegeben habe, unternehmt noch nichts!", rief er und verschwand durch die Pforte in den Hof.

    „Es darf nicht sein Ernst sein, dass er bei dem ganzen Geschwätz über ein Wunderkind wirklich ein Gör gemeint hat!, empörte sich Nidsa. „Aber es ist noch nicht zu spät. Wir sollten einfach rasch das Eingangstor verriegeln und Emanuele bleibt uns ein für alle Mal mit seinen Absurditäten erspart!

    „Caramba!, entfuhr es Amanda plötzlich. „Doch, es ist schon zu spät, zumindest für dich, Ugo! Verzeih mir, ich habe es ganz vergessen. Heute Morgen ist dein Großvater in aller Früh zu mir gekommen und hat mich darum gebeten, dich zu ihm zu schicken, sodass du um zehn Uhr oben an den Latschenkiefern bist.

    Sie deutete auf die Küchenuhr, die ihnen ins Bewusstsein rief, dass die Zeit nicht stehen geblieben war, auch wenn die Regeln, die ein solches Kontinuum begründen, für Emanueles Zuhörer während seiner hanebüchenen Vorträge zuverlässig an Gültigkeit verloren.

    „Ohne jede Müh, erwiderte Ugo, indes er bereits seinen Lederbeutel mit Notizblock, Stift und Handy aus dem Wandschrank zog. „Wenn ich den Anstieg so schnell mich meine Beine tragen zurücklege, werden wir noch rechtzeitig ankommen.

    „Angeber", murmelte Nidsa, wohlwissend, dass Ugo seine athletische Statur eben diesen Märschen, mit annähernd vertikalen Steigungen und in einem der Geschwindigkeit der Windhunde angepasstem Tempo, verdankte.

    „Vielleicht begegnen wir uns ja noch, wenn ihr die Murmeltiere ins Tal treibt", sagte Ugo und hob lachend die Hand zum Abschied.

    „Nehmt nicht den Weg durch das Eingangstor, sondern jenen durch den Garten, damit ihr den Maultieren einen Herzkasper erspart", rief Amanda ihnen noch nach, doch da waren der junge Baldemar und sein Vierbeiner schon beinahe durch die schmale Tür geschlüpft, die den Turm vom Zwinger trennte. Die darin eingelassene Hundeklappe hatte man sorgfältig mit dem hölzernen Schubverschluss verriegelt. Es musste Grisu daher eine stundenlange Geduldsarbeit abverlangt haben, das eingeschobene Brett mit Pfoten und Schnauze so weit nach oben zu schieben, dass er hindurchkriechen konnte, bevor es in seiner ursprünglichen Stellung eingerastet war.

    Die Innenräume des Zwingers fanden die beiden verlassen vor. Erwartungsgemäß hatte sich das Rudel auf dem Hof vor dem Eingangstor versammelt, weil auch ihnen das Erscheinen der Neuankömmlinge nicht verborgen geblieben war. Daher durchquerten sie rasch das mit kunstvoll gestalteten Fliesen voller Arabesken und ineinander verschlungenen sternförmigen Vielecken ausgestattete Zimmer, um ins Freie zu gelangen.

    Dort spielte sich ein weiteres Mal das seit ewigen Zeiten so wundersame und für die Menschen so unerklärliche Phänomen ab, welches zentral für diese unsere Geschichte sein soll. Die Rede ist von einer einzigartigen Gabe, einer Fähigkeit Ugos, die er mit keinem Zeitgenossen teilte und auch seit Jahrhunderten nicht mit seinen Vorfahren. Nur wenige wussten diese Eigenschaft zu benennen, doch all die, welche es konnten, kannten auch ihre Herkunft und das damit verzahnte Vermächtnis. Ugo selbst war bis zu diesem Tag nicht eingeweiht worden. Zu eng war sein ganzer Charakter, der von einem nicht minder faszinierenden Ausmaß an Herzlichkeit allen Geschöpfen gegenüber geprägt war, mit diesem besonderen Wesenszug verknüpft. Daher hatte man die Entscheidung zur Enthüllung des Geheimnisses noch nicht gefällt.

    Es ist eine tückische Aufgabe, dieses Talent mit Worten zu umschreiben. Ein jeder, der sich im Schildern von so Ungreifbarem wie Vertrauen oder Charisma versucht, wird sich allzu bald im Nebulösen und Schemenhaften verfangen. Dennoch sei ein Versuch gewagt: Bei Ugos Gabe handelt es sich um das Vermögen, eine subtile, durchdringende und gleichsam starke Beziehung zu den Deerhounds aufzubauen.

    Fern waren den Hunden seit jeher die obrigkeitshörige Daseinsform von Untertanen wie auch jede hierarchische Hackordnung. Es handelte sich um eine innige Bindung, die weder der Unterwerfung noch eines reflektierenden Bewusstseins bedurfte. Als eine die Grenzen ihrer Identitäten überwindende Relation, bestehend zwischen dem jungen Mann und den Windhunden, durfte sie betrachtet werden. In Ugos Gegenwart waren die Windhunde wie verzaubert, völlig von ihm vereinnahmt, blind und taub für ihre Umwelt. Jedes innere Signal und jeder Außenreiz entzogen sich ihrer Aufmerksamkeit, wenn sie unter dem Bann seiner Strahlkraft standen. Sie begegneten ihm mit solch einer Hingabe, dass es für den Betrachter wirken musste, als durchlebten sie Empfindungen für eine Gottheit. Wenn auch Ugo die Natur ihrer Wahrnehmung, ihres Geistes, verborgen blieb, so war ihm doch dieses Band zwischen sich und den Tieren Quelle seines Frohsinns und seiner Unbeschwertheit. Überschwänglich, wie es Hunde ihrem Herrn gegenüber zu tun pflegen, begrüßten sie Ugo nun, umschlossen mit ihren Mäulern seine Arme und Hände und schwankten wedelnd mit dem ganzen Körper. Anders als es andere Menschen kannten, würde ihre ungeteilte Aufmerksamkeit aber durch nichts in der Welt abebben. Wie hypnotisiert vergäßen sie alles um sich herum, gäbe Ugo sie nicht wieder frei. Den mentalen Draht konnte er nach jahrelanger Übung mittlerweile individuell kappen, sodass es ihm eilig gelang, lediglich mit Grisu und seinen Geschwistern Gemma und Gaura im Schlepptau, durch den Garten den Weg zu den Anhöhen zu nehmen. Nur die Elterntiere, Pierrot und Myra, blieben zurück, da Gaspard die älteste Hündin, Eruca, augenscheinlich schon am frühen Morgen mit sich in die Berge genommen hatte. Seine unverwüstliche Eruca war an Zähheit kaum zu überbieten, doch es häuften sich zunehmend die Tage, an denen Ugos Großvater ihr den Anstieg schweren Herzens nicht mehr zumuten konnte. Ihre Abwesenheit im Hof erschien wie eine Prophezeiung für eine freudige Gemütslage bei Gaspard, die seinem recht strengen Naturell stets ein wenig mehr Milde verlieh. Mit immerzu herausragender Ernsthaftigkeit bereitete Ugos Großvater ihre Treffen vor, die gleichzeitig Freilandstudien waren. Bereits vor Jahren hatte er sich der Ausbildung seines Enkels angenommen, getrieben von der Skepsis gegenüber des in seinen Augen kleingeistigen schulischen Unterrichtes. So hatte Ugo bis zu seinem Abschluss vor zwei Jahren an den Abenden nicht bloß Hausaufgaben, sondern auch die ausgefallensten Abhandlungen für seinen Großvater anfertigen müssen. Die Themen reichten dabei von Vorstellungen über Pantheismus und Ästhetik im Altertum bis zum modernen Verständnis von Biomechanik und neurophysiologischen Bahnungstheorien. Nie hatte Gaspard die Aufsätze einfach nur zur Korrektur entgegengenommen. Vielmehr bat er Ugo üblicherweise um Vorträge seiner Erkenntnisse und Gedanken, die er dann immer mit kritischen Einwänden und gewitzten Fragen unterbrach, um dem Jungen noch klügere Gegenargumente zu entlocken. Gaspard betrachtete Ugo als außergewöhnlich gescheiten Kopf und hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, ihn bereits auf eine Universität gehen zu lassen. Stattdessen hatte der alte Veterinär vor dem Rest der Familie dafür plädiert, ihm noch den eigenen Bildungskanon zukommen zu lassen, bevor ihn seine geistigen Kräfte womöglich verlassen würden. Ugo war es nicht eingefallen, diesem Plan zu widersprechen, weil er es offenbar genoss, Zeit mit seinem Großvater zu verbringen. Abgesehen von dessen immensem Wissensschatz wäre es kaum verwunderlich gewesen, wenn er auch dessen Seriosität und Verantwortungsbewusstsein bisweilen als erquicklich empfunden hätte, stellte er damit doch ein Antipode zum Rest von Ugos exzentrischer Sippe dar. Die Komplexität der Materie, mit der Ugo konfrontiert worden war, hatte eine sukzessive Steigerung erlebt und häufig brütete er stundenlang über einem Werk aus Gaspards Bibliothek oder übersetzte die neueste Publikation an dessen Computer. Im Besonderen legte Gaspard allerdings Wert auf die Beobachtungsstudien im Freien.

    Wie es die klassischen Verhaltenswissenschaftler damals mit einfachsten Mitteln getan hatten, erstellten die beiden mit ausgesuchter Akribie Ethogramme der Deerhounds. Diese Kataloge, die sämtliche Interaktionen untereinander und des Gebarens der Hunde an sich auflisteten, waren auch Gegenstand von Gaspards eigenen Veröffentlichungen, die er gelegentlich mit Ugos Assistenz verfasste. Ohne dass sein Enkel davon Kenntnis erlangte, war aber sein zentraler Beweggrund für ihre Ausflüge der Wunsch, mehr über dessen Gabe in allen Feinheiten zu erfahren. Mit aller Genauigkeit dokumentierte er das Ausdrucksverhalten der Hunde, wenn Ugo sie zu sich rief, die maximale räumliche Distanz, die noch eine uneingeschränkte Fokussierung auf den Neunzehnjährigen erwirken konnte und von welchen Bedingungen sie abhing. Da seinem Glauben an dank empirischer Methoden erzielten Erkenntnisgewinn keine engen Grenzen gesetzt waren, hatte der Veterinär über die Jahre Daten von überaus passablem Umfang gesammelt, die ihn zumindest dazu befähigten, die außergewöhnliche Relation vom Standpunkt des Betrachters aus zu beschreiben. Nichtsdestoweniger hatte sich sein Staunen über das Verhältnis nicht im Geringsten vermindert, auch wenn Gaspard schon bei Ugos Geburt geahnt hatte, dass ihm irgendeine kostbare Fähigkeit mitgegeben worden sein musste. Dem Veterinär war ungewollt eine Schlüsselrolle dabei zugekommen, dass Ugos Eltern damals überhaupt hatten zueinander finden können und schwer lastete auf ihm die Bürde, die sich aus den Konsequenzen dieser Liaison entwickelt hatten, bis zum gegenwärtigen Tag.

    Als Ugo an diesem Morgen aber mit seinen vierbeinigen Gefährten den Gebirgspfad hinaufpreschte, war er sich noch nicht der Bedeutung oder auch nur der Ursache seines Talents bewusst. Wie im Flug ließen sie den zunehmend lichteren Wald hinter sich, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten. Auf der Hochebene, eingerahmt von den Dolomiten in ihrer ganzen Imposanz, herrschte trotz des wolkenlosen Augusthimmels noch immer eine angenehme Kühle. Darum konnten sie sich mit ungedrosselter Eile weiterfortbewegen, auch wenn die Sonne hell auf den grauen Pelz der Hunde und Ugos bronzefarbener Haut schien.

    Der Teint des jungen Baldemars war auch im Winter so dunkel, dass man ihn für einen Nordafrikaner gehalten hätte, wären seine halbschulterlangen Locken nicht von einem honigblonden Farbton gewesen. Was wie eine außergewöhnliche Laune der Natur wirkte, war Ugo früher damit erklärt worden, dass die Vorfahren seiner Mutter aus den entferntesten Weltregionen stammten und sich der Reichtum ihrer Anlagen nun so kurios in seinem Äußeren spiegelte. Überhaupt hatte er sich von Beginn an mit äußerst kärglichen Erzählungen von seiner Mutter und allenfalls vagen Beschreibungen zufriedengeben müssen. Sein Vater besaß weder Fotoaufnahmen noch Briefe von ihr, keinesfalls erwähnte er sie unaufgefordert. Dennoch war da kein Wesenszug an Ugo, der irgendein Gegenüber hätte erahnen lassen, welche Entbehrung ganz am Anfang seiner Biografie stand. Immerhin beschränkte sich seine charismatische Wirkung nicht bloß auf die Windhunde. Wenn der Effekt, den er auf Menschen hatte, vielleicht auch von weniger magischer Natur war, rief er mit seinem arglosen und zugleich gewitzten Selbstbewusstsein doch regelmäßig so etwas wie Ehrfurcht hervor.

    Wie ein kraftstrotzender, einheitlicher Organismus rannte das Quartett denn seines Weges, so als teilte es einen einzigen rhythmisch pochenden Herzschlag, eine einzige nach Sauerstoff gierende Lunge. Zu erwägen, einer der Hunde könnte auf Abwege geraten, wäre so absurd gewesen wie anzunehmen, die Gliedmaße eines Körpers könnte sich unerlaubt von ihrem Rumpf entfernen. Entsprechend fremd waren diesen Tieren Leine und Halsband. Wozu wäre die Verlängerung des Armes von Nutzen gewesen, waren die Hunde doch die Arme selbst?

    Allmählich kamen sie dem Treffpunkt an den Latschenkiefern näher und Ugo meinte, in der Ferne die Gestalt

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