Leuchtende Dunkelheit - dunkles Licht: Neue Teishos zu klassischen ZEN-Koans
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Über dieses E-Book
Klaus Fahrendorf
ZUM AUTOR: Klaus Fahrendorf, geb. 1947 in Gelsenkirchen-Buer. Studium der Rechtswissenschaft, Dr. jur., Richter, Ruhestand 2012. Verheiratet, zwei Söhne. Zen- Praxis seit 1989. 1990 Schüler bei P. Johannes Kopp (Hôun-ken Roshi). 2008 Ernennung zum Zen-Lehrer (Cloud of Merciful Awareness) im „Programm Leben aus der Mitte – Zen-Kontemplation im Bistum Essen“ zusammen mit Marlis Fahrendorf (Cloud of Infinite Beginning; verst. 9. 12. 2008). 2009 Gründung der Regionalgruppe Bochum. Seit 2015 auch Zen-Kurse im Kardinal-Hengsbach-Haus in Essen-Werden. Nach Schließung des Kardinal-Hengsbach-Hauses Kurse in verschiedenen anderen Häusern.
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Buchvorschau
Leuchtende Dunkelheit - dunkles Licht - Klaus Fahrendorf
Kapitel 1
ZEN
ES GIBT KEIN ZEN!?
Das Neue Jahr, das Jahr 2022, hat gerade begonnen. Wir beginnen es in dieser Sangha, die sich über Jahre gebildet hat, immer in Veränderung ist und sich mit Hilfe der modernen digitalen Hilfsmittel auch erweitert hat, an diesem Abend, den 3. 1. 2022, digital.
EIN NEUES JAHR BEGINNT
Wenn ein neues Jahr beginnt, fühlen sich viele Menschen gedrängt, etwas Bedeutungsvolles zu sagen – im Rückblick auf das vergangene und im Ausblick auf das kommende Jahr. Etwas Bedeutungsvolles sagen zu wollen, (vermeintlich) sagen zu müssen, ist übrigens nach meiner Beobachtung eine ziemlich große und oftmals grassierende Versuchung für Menschen auf spirituellen Wegen, auch dem des Zen. Und wenn man es nicht mit Worten so richtig auf die Reihe zu bekommen glaubt, geschieht das, was der für seine drastischen und zuweilen auch sarkastisch klingenden Aussprüche berühmte japanische Zen-Meister Kodo Sawaki so beschrieb: „Schlaue Menschen machen schlaue Gesichter!" Als ich neulich den täglich in der WAZ abgedruckten Comic von den Peanuts anschaute, ging mir genau das als Assoziation durch den Kopf.
1. Bild: Lucie: „Dieses Jahr fühle ich mich so anders."
2. Bild: Lucie: „Ich glaube, ich war noch nie so wahrhaftig vom Geist der Weihnacht durchdrungen wie dieses Jahr!"
3. Bild: Linus zu Lucie: „Warum sollte das so sein?"
4. Bild: Lucie brüllt: „Weil ich es sage. Ganz einfach!"
HÜTEN WIR UNS VOR BEDEUTUNGSVOLLEM
Ja, so ist das mit dem „Ich glaube", usw. Und dem Bedeutungsvollen. Sobald wir ansetzen, das, was uns bewegt, das, was wir zu fühlen, zu spüren oder als Glauben zu empfinden meinen, in Worten und durch sie gekennzeichnete Gedanken auszudrücken, ihnen (und uns!!!) dadurch Bedeutung verleihen wollen, wird es schief. Und je länger und genauer wir üben, umso mehr werden wir diesen Effekt bei uns erleben und bei anderen beobachten können. Und so uns (und anderen, besser uns Menschen überhaupt) auf die Schliche kommen können.
Also hüten wir uns vor Überhöhungen und Idealisierungen und dem Herausstellen von Überzeugungen. Beschränken wir uns besser darauf, die Relativität und Unsicherheit all dieser lediglich vermeintlich so festen Dinge, die letztlich nur aus unserem Denkorgan stammen, zu erkennen.
Anlass für dieses Neujahrs-Teisho 2022 ist ein Kapitel zum Koan Hekiganroku Nr. 11, bekannt als „Ôbakus ‚Tresterfresser‘, welches ich bei Barry Magid in seinem dritten Buch: „Nothing is Hidden
las.¹ Das Koan geht so:
Ôbaku unterwies seine versammelten Mönche und sagte zu ihnen: „Ihr seid alle Tresterfresser! Wenn ihr so weitermacht auf eurem Weg, wann werdet ihr dann euer „Jetzt erleben? Wisst ihr nicht, dass es im ganzen Land der T´ang-Dynastie keinen einzigen Zenlehrer gibt?
Da trat ein Mönch nach vorne und sagte: „Was sagt Ihr dann über die, welche an vielen Orten ihre Mönchsgemeinschaft anleiten und ihre Anhänger lehren?"
Ôbaku erwiderte: „Ich sage nicht, es gibt kein Zen, sondern es gibt keine Zenlehrer."
Ein ausführliches Teisho dazu habe ich vor einigen Jahren gehalten. Es findet sich in meinem ersten Buch abgedruckt.²
Zwei Schwerpunkte werden durch das Koan gesetzt.
SEKUNDÄRMATERIAL UND PRIMÄRERFAHRUNG
Der eine ist die Klassifizierung als bloße Tresterfresser, d. h. der immer wieder aufflackernden (und bei manchen leider chronisch vorhandenen) Neigung, sich mit dem Bodensatz zu begnügen und sich sozusagen mit dem Sekundärmaterial zu berauschen, wo doch der Zen-Weg ein Weg ist, der den Übenden auf sich selbst verweist, um so sein Jetzt zu erleben, wie Ôbaku es ausdrückt. Aus diesem Sekundärmaterial werden dann Bedeutungen herausgefischt, die wir auf uns und unser Erleben übertragen wollen. Aber damit bleibt es Fremdmaterial, es sei denn, wir können aufgrund eigener Einsichten und (Primär-)Erfahrungen sozusagen aus uns selbst heraus das bestätigen, was Generationen vor uns ausgedrückt haben oder zeitgenössische Quellen uns sagen.
Jedes Koan-Üben sieht so aus. Immer wieder aufs Neue wird ein Koan-Schüler oder eine Koan-Schülerin für sich selbst zu Antworten kommen müssen, die wiederum eingebettet sind in die jahrhundertalte Zen-Tradition zu diesen Koans und den dahinterstehenden, auf zahlreichen Erfahrungen von Zen-Praktizierenden fußenden, Erkenntnissätzen zur Wirklichkeitserfahrung.
KEINE ZEN-LEHRER
Den zweiten Schwerpunkt bildet die Aussage von Ôbaku, es gebe keine Zen-Lehrer, wohl aber Zen.
Dazu wird üblicherweise – und so auch von mir in meinem Teisho aus dem Februar 2016 – darauf abgehoben, dass Zen nicht gelehrt werden könne. Denn wie soll jemand, der sich Zen-Lehrer nennt, einem das Erleben des Jetzt, die Erfahrung des wahren Selbst „lehren" können? Es kann doch nur etwas Unmittelbares sein, das einem geschieht.
„Denn nur einer ist euer Lehrer: Christus." (Mt 23, 10) Der Christus, der in euch ist (Kol 1, 27). Buddhistisch gefasst: Buddha = Buddhanatur. Zusammengenommen: Wesensnatur, Wahres Selbst, unendliche Wirklichkeit.
Wir dürfen also Worte machen, wir müssen das auch tun.
Aber wir müssen wissen, was gelehrt werden kann, was nicht; was gelernt werden kann und was nicht. Das ist ein wesentliches Element unserer Praxis. Das immer mehr zu erüben. Und uns nicht in Konzepten und Vorstellungen zu verstricken.
„Euer einziges Bestreben sei, während ein Gedanke dem anderen folgt, an keinem Gedanken zu hängen." Wieder Originalton Ôbaku in der Wan-Ling-Niederschrift (Nr. 37, S. 118).³
So können wir sehr gut nachvollziehen, warum Ôbaku sagt, dass es keine Zen-Lehrer gebe.
SONDERN NUR ZEN
Aber was ist mit der Aussage, er wolle nicht sagen, dass es kein Zen gebe? Damit will ich mich heute etwas näher befassen.
In meinem alten Teisho sagte ich, Zen sei „Wegnehmen", um die wahre Form in der Leere des Jetzt erscheinen zu lassen.⁴ Wenn ich diesen Gedanken weiterverfolge, stellt sich unweigerlich die Frage, ob „das", was da als Wegnehmen oder Wegnehmendes bezeichnet wird, nicht ebenfalls etwas Wegzunehmendes ist.
Ist Zen nun all das, was im Laufe der Jahrhunderte bzw. sogar der Jahrtausende dazu erlebt, erdacht, geglaubt und in all die Worte des buddhistischen Kanons des Zen gefasst, gekleidet und umschrieben worden ist? Ist Zen also etwas, was es gibt? Etwas was als unverrückbare und strikt zu beachtende Tradition innerhalb des Buddhismus, isoliert von allen Zeitläufen und kulturellen Umbrüchen, existiert? Ist „unser" Zen das des klassischen China namentlich des 8. und 9. Jahrhunderts und/oder das des klassischen Japans (oder Koreas)?
Und was ist mit dem Trester, d. h. all den überlieferten Texten?
EINE PRAXIS DES VERTRAUENS
Klar ist, wir stehen sozusagen auf den Schultern all der Generationen vor uns, unseres Lehrers und dessen Lehrern und all der ganz großen Zen-Gestalten. Wir wurden und werden von ihnen und dem, was sie uns gaben und weiterhin geben, in unserer Praxis bereichert und bestärkt. Sie geben uns all das an die Hand, worauf sich das Dharma im konkreten Feld von Hier und Jetzt stützt und weiter entwickeln kann, im Einklang mit den jeweiligen historischen, kulturellen und religiösen Zusammenhängen.⁵ Und genauso wie in der Vergangenheit geschieht dies durch die einzelnen Menschen, die sich der Praxis verschreiben, einer dialektischen Praxis von Selbst-Entdeckung, die niemand für uns anstellen kann, und eines Sich- Selbst-Vergessens, d. h. eines Loslassens des eigenen Willens und eines sich dem Leben und der Praxis Überlassens. Einer Praxis, die nicht unsere eigene Kreation ist,⁶ der wir uns aber aufgrund eines Vertrauens, welches eine so lange und tiefgehende und von so vielen ernsthaften Menschen getragene und weitergegebene Tradition verdient, anvertrauen können.
UND DES WEITERGEBENS
So wird jeder Übende Teil eines Flusses, der stetig weiterfließt, sich aber mal langsam, mal schnell, mal glatt und ohne Wirbel, mal mit verschiedenen Strömungen bewegt. Immer derselbe Fluss, aber immer wieder neu und anders gefüllt.
Da die Weitergabe von Generation zu Generation von den jeweiligen äußeren Zusammenhängen und von der Realisierung des Weitergegebenen durch die jeweilige Generation für sich selbst und für ihr Umfeld beeinflusst wird, finden Änderungen statt. Aber immer ist genau zu schauen, was lediglich kulturelle oder religiöse Ausprägungen sind, die den Kern von Dharma und Praxis nicht berühren.
Zu fragen, was ist Zen, ist gleichbedeutend mit der oft in Koans ausdrücklich oder sinngemäß gestellten Frage danach, was der Weg sei. Und all die Reaktionen, seien es Gesten, Laute oder Worte der Zen-Meister zeigen auf den Fragenden, werfen ihn (und uns) zurück in die (Wesens-)Frage!
KEIN ZEN, AUSSER PRAXIS UND LEBEN
Es gibt kein Zen, außer du praktizierst und du lebst es – in dem vorhin aufgezeigten dialektischen Sinne.
Es? Dich!
Mich?
Was denn nun?
DIE DIALEKTIK VON ABSOLUT UND RELATIV
Absolut – relativ. Wieder ein dialektisches „Paar", genauso wie Übungs-Praxis und Lebens-Praxis. Da ist das Absolute in jedem Moment, ein Raum, den wir als zeitlos und außerhalb von Ursache und Wirkung erleben können. Und da ist der relative, zeitlich und das heißt auch historisch zu verortende Augenblick. Und in beidem zeigt sich, verwirklicht sich das, was wir Dharma nennen.⁷
Und so ist auch konkret die Interaktion zwischen Zen-Lehrer und Schüler/in. Geht der Schüler oder die Schülerin auf das Absolute, antwortet der Lehrer im Relativen. Und umgekehrt.
So sieht auch unser Üben und Leben insgesamt aus. So „schaukeln wir auf der Wippschaukel und „kreuzen
immer wieder und immer wieder neu den „Balancepunkt", d.h. den Punkt des Gleichgewichts, der wie in der Wippschaukel immer fest in der Mitte ist, der Punkt, um den und in dem sich alles dreht.
IMMER BEIDES UND IMMER ZUGLEICH
Wenn man das so betrachtet, wenn also Absolutes und Relatives – immer beides und immer zugleich – existent sind, dann könnte man doch mit Fug und Recht Ôbakus Aussage so fassen:
Es gibt kein Zen ohne Zen-Lehrer.⁸
Mehr noch: Es gibt kein Zen ohne Zen-Übende.⁹
UND IMMER WIR
Wir alle sind somit lebendiger und lebenswichtiger Teil dieser wundervollen Praxis und verantwortlich für ihren Erhalt und ihre Weitergabe.¹⁰
Und deshalb schrieb ich schon in meiner E-Mail zu Weihnachten:
Das ist mein Wunsch für das Neue Jahr: Dass wir uns dem, so gut (oder so schlecht) wir können, mit ganzem Herzen widmen.
Danke!
(ZOOM-Abendmeditation am 3. 1. 2022)
DIE ANGEBUNDENE KATZE
Ich bin auf eine interessante Geschichte gestoßen, eine indische Geschichte über die angebundene Katze. Sie wurde und wird geschildert im Zusammenhang mit ethischen Fragen und der dazu geäußerten Annahme, dass überlieferte ethische Gebote oder Verbote gegen ihren wirklichen Sinn verstanden werden, wenn man es unterlässt, auch ihre Begründung zu überliefern.¹¹
DIE GESCHICHTE
Ein Guru hielt mit seinen Jüngern täglich eine Abendmeditation. Als eines Tages die Hauskatze während dieser Zeit in den Meditationsraum lief und störte, ordnete er an, sie solle während dieser Zeit draußen festgebunden werden. So konnte man von da an wieder ungestört meditieren. Aber die Zeit verging. Der Guru starb und bekam einen Nachfolger. Dieser hielt sich streng an die Tradition, dass während der Abendmeditation draußen „eine Katze" angebunden sein müsse. Als schließlich auch die Katze starb, wurde eine neue Katze angeschafft, um sie während der Abendmeditation anbinden zu können. Weil die einfachen Leute den Sinn dieser Maßnahme nicht verstanden, traten Theologen auf den Plan und schrieben ein zweibändiges Werk mit vielen Fußnoten über die Heilsnotwendigkeit einer angebundenen Katze während der Abendmeditation. Mit der Zeit jedoch kam die Abendmeditation selbst ganz außer Gebrauch; niemand mehr interessierte sich dafür. Aber mit größter Treue wurde wenigstens der Ritus des Katzenanbindens beibehalten.
Der Theologe Peter Knauer (SJ; Professor an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M.), der die Geschichte von einem indischen Gastdozenten hat, ergänzt:
Ähnlich mag es viele Überlieferungen geben, die sich völlig von ihrer ursprünglichen Begründung gelöst und dadurch ihren Sinn verloren haben (vgl. Mk 7,13: „Ihr tut vieles dieser Art").¹²
LEERE TRADITION
Der Guru lässt die Hauskatze anbinden, weil sie die tägliche Abendmeditation störte. Da fängt es schon an, dass alles in die Richtung einer Entwicklung läuft, an deren Ende eine leere Tradition steht, die ihren ursprünglich relativ alltäglichen, praktischen Sinn verloren hat, aber dennoch (oder gerade deshalb?) eine Geltung und Gültigkeit aus sich selbst heraus beansprucht – und erhält. Die Frage ist, wie konnte das passieren? Es konnte passieren, weil auch im spirituellen und religiösen Bereich die Menschen dazu neigen, „ihren Sinn dort hinein zu projizieren, ihm Bedeutungen zu verleihen, die „ihnen
assoziativ kommen, – die sie glauben „wollen". Und dies alles verknüpfen sie oftmals mit magischem Denken und Spekulieren.
EINFACHE TATSÄCHLICHKEIT
Dass da einfach mal eine Katze aus ganz profanen praktischen Gründen an einem Tempel oder Zendo draußen angebunden wurde, in dessen Innerem „heilige Männer sich religiösem bzw. spirituellem Tun hingaben, und das Ganze nichts Besonderes war („nothing special
, wie Joko Beck die Zen-Praxis beschreibt), sondern einfach nur: Katze stört – Katze wird herausbefördert – Katze wird draußen angebunden, damit sie nicht immer wieder hereinkommt, wird nicht gesehen. Das kann doch nicht sein; irgendetwas Bedeutungsvolles muss da doch dran sein!
UND VERZERRTE WAHRNEHMUNG
Frage an uns: Können wir nicht ebenfalls solche Dinge bei uns oder anderen beobachten? Dass wir allem irgendeinen vorgestellten Sinn verleihen wollen? Anstatt die bloße Tatsächlichkeit zu sehen, wie sie sich uns in jedem Augenblick darbietet. Aufgrund unserer oft durch die angesprochene „Bedeutungssicht und „Sinnversessenheit
verzerrten Wahrnehmung nehmen wir das Faktum jeden Moments, welches sich zu präsentieren versucht, nicht wahr. Mehr noch, wir verdecken es auf diese Weise.
Das gerade Gesagte betrifft die Entwicklung der Geschichte im Laufe der Generationen. Und das sollte uns sensibel machen für eine Aufmerksamkeit gegenüber all den vielen traditionellen Riten und Gewohnheiten. Denn wenn Jesus seinen Zeitgenossen der jüdischen Tradition zu Recht vorhielt, diese hätten sich in vielerlei Hinsicht im Formalen „verloren" und dadurch die unmittelbar anstehenden Aufgaben religiösen Lebens zum Nutzen für die anderen Menschen vernachlässigt, wie es im Markusevangelium eindrücklich geschildert wird (Mk 7, 6 ff.), so sollten wir Heutigen auch sehr genau schauen, wo sich solche Entwicklungen auch gegenwärtig zeigen. Das gilt für das Christentum wie für den Buddhismus und für Zen-Traditionen.
Es gilt also, sehr genau den Blick für das Eigentliche zu bewahren und, wo er verloren gegangen ist oder getrübt wurde, ihn wieder klar zurückzugewinnen.
DAS EIGENTLICHE IN DER GESCHICHTE
Das Eigentliche in der Geschichte war die tägliche gemeinschaftliche Abendmeditation. Die wollte der indische Guru nicht von der Hauskatze gestört haben, warf sie raus und band sie sogar an. Wenn ich das so betrachte, kommt mir eine sehr aussagekräftige Parallele zu unserem so vielfältigen Bemühen, alles Störende von uns fern zu halten, wenn wir uns in die Stille zurückziehen wollen. Ich sage hier bewusst „wollen". Warum sage ich es so? Weil uns das so gerade nicht gelingen kann.
Warum nicht?
Weil wir da schon wieder Begrenzungen vornehmen zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir nicht wollen. Genauso, wie wir dann die Stille sozusagen aus der normalen Welt herausnehmen, in einen besonderen Raum verlagern und dort bewahren wollen, um von ihr zu profitieren. Dann, ja dann, müssen wir „die Katze rausschmeißen: „Du störst! Verzieh Dich!
So wie wir oftmals glauben, mit den „Störungen" durch Gedanken, Emotionen, Gefühlsregungen, Verspannungen und Schmerzen meinen umgehen zu müssen, anstatt sie in ihrer auch Geheimniswirklichkeit unseres gesamten und nicht aufspaltbaren Daseins in diesem Körper und Geist zuzulassen. Und sie damit loszulassen, sie so loszulassen, dass man die Haftung an sie als Faktoren, als Störfaktoren gar, jedenfalls aber als etwas, das man nicht loslassen, sondern loswerden will, aufgibt. Natürlich gilt die Regel weiter, wie sie z. B. Dôgen Zenji in seinem Kapitel Fukanzazengi, seiner allgemeinen Anleitung zum Zazen, zur Beschaffenheit des Meditationsplatzes und des Ablaufs der Meditation formuliert hat.
Aber genau auch dafür gilt das, was ich zur Überlieferung von Traditionen etc. sagte. Es kommt immer auch sehr genau darauf an, ihre Begründung im Auge zu behalten. Natürlich ist es richtig, alles zu tun, damit die Meditation störungsfrei und möglichst still ablaufen kann. Aber wichtig ist eben auch zu sehen, dass dieses „Drumherum nur das Eigentliche ermöglichen will, dass gerade darin besteht, wie wir mit „Störungen
umgehen.
DIE GESCHICHTE UMDREHEN?
Die Geschichte mit der Katze hat mich noch zu einem weiteren Gedankenexperiment veranlasst. Ich stellte mir nämlich die Frage, ob und wenn ja, wie sich die Geschichte mit der angebundenen Katze, deren Ritus über die Generationen weitergegeben wird, und der Abendmeditation, die irgendwann in Vergessenheit gerät und nicht mehr praktiziert wird, umdrehen lässt: Nicht die Abendmeditation, sondern das Ritual des Anbindens einer Katze gerät in Vergessenheit. Dieser Ritus, zunächst als alltagsnotwendiger Bestandteil der Meditationspraxis eingeführt, dann jedoch mit dieser praktisch gleichgestellt, ja letztlich über Generationen hinweg nach und nach ihre eigentliche religiös/spirituelle Grundlage bildend, entfällt plötzlich. Was bleibt ist nunmehr die nackte Abendmeditation, ohne dass die Praktizierenden noch wissen, warum sie das tun.
Das entspräche, so mein Gedankengang weiter, einer Übungspraxis des Zen, die den Bezug zum religiös-existentiellen Ausgangspunkt verloren hätte und ohne entsprechende Einbettung ausgeübt würde. Es wäre, wie wir das nicht nur beim Yoga schon seit längerem und beim Zen auch bereits teilweise beobachten können, eine Entkleidung, verbunden mit einer Betonung, bis hin zu einer Fixierung, auf positive Auswirkungen für Körper, Geist und Psyche. Auch bei einer Achtsamkeitsmeditation, die nicht in eine Praxis sog. Einsichtsmeditation (Vipassana-Meditation) eingebunden ist und/oder die Aspekte von Mitgefühl und Verantwortung nicht mit einbezieht, würde so der traditionelle und aus guten Gründen so begründete Bezug geschwächt und aus meiner Sicht ein Zen verbleiben, was letztlich seinem wirklichen Sinn entfremdet wäre.
DEN BEZUG NICHT VERLIEREN
Dass das nicht geschieht, ist letztlich der Grund, warum all die vielen Teishos gehalten wurden, und warum auch ich das tue: um das wesentliche Erbe des Zen und der Kontemplation wachzuhalten, damit es in uns und durch uns fruchtbar sein kann. Um so unser übendes Bemühen eingebettet zu sehen.
ZEUGNIS GEBEN
Auch wenn die Worte als solche bzw. sie allein dies nicht bewirken können, so können sie doch Zeugnis geben von dem Eigentlichen, um das es geht. Und sie können so uns immer wieder unsere Grundlagen bewusst machen und die Richtung aufzeigen: weiter, tiefer und, immer wieder neu orientiert, anders. Wir müssen dabei auch akzeptieren, dass, um weiter zu kommen, man oftmals oder auch immer wieder feststellen muss, welche Irrwege man wie beschritten hat. Vielleicht einfach dadurch, dass wir „unsere" Hauskatze draußen angebunden haben, anstatt sie machen zu lassen, was ihrer Natur gebührt. Also nicht weglaufen vor der Wirklichkeit, die von jedem von uns gelebt werden will, damit sie fruchtbar wird.
In der Stille der Meditation und im Getümmel der Welt.
Danke.
(Impuls für die ZOOM-Abendmeditation am 15. 2. 2021)
SORGE TRAGEN FÜR
Wenn du die Dinge sehen willst, so wie sie sind, musst du – hier und jetzt – ganz du selbst sein, so wie du bist.¹³
So schrieb ich zum Neuen Jahr und überschrieb es mit Neujahrswunsch 2021. Neujahrswunsch? Komisch, nicht wahr? Jedenfalls erschien mir das gestern, als ich das las, so. Müsste es nicht heißen Neujahrsgruß o. ä.
Wieso „Wunsch"?
Nun, ich zäume das Pferd mal (wieder) von hinten auf. Die erste Frage wäre ja, wieso habe ich mir gestern dieses Zitat angeschaut, so dass mir die Überschrift erst so auffallen konnte?
GANZ SELBST SEIN, WIE GEHT DAS?
Mir kam in Gedanken an den heutigen Montagabend die Frage, wie man das eigentlich anstellen soll, ganz selbst zu sein, so wie man ist, also ohne jegliche Vorbehalte und Einschränkungen bzw. Ausgrenzungen.
Wie geht das? Wie soll ich das anstellen?
Eine ganz und gar berechtigte Frage, soll diese Aufforderung von Dôgen Zenji, ganz selbst zu sein, wie man ist, nicht als bloßer Appell, als bloße schöne „Sonntagsrede" oder als ein zum Nachdenken anregender Kalenderspruch verhallen. In all diesen Fällen würde kein Echo im Sinne einer Wandlung oder Umkehr in uns hervorgerufen. Appelle haben oftmals eine fatale gegenteilige Wirkung. Sie setzen die Adressaten nur unter Druck, dem sie sich letztlich womöglich entziehen. Schöne Sprüche werden häufig nur nachgeplappert, ohne dass sie Wirkungen zeitigen.
IN EINER HALTUNG DER SORGE FÜR
Inspiriert von einem Artikel von Giovanni Maio, dem bekannten Professor für Medizinethik und Buchautor („Den kranken Menschen verstehen"), in der ZEIT im November 2020 dazu, was es heißt zu sterben, möchte ich hier zur spirituellen Seite, die Dôgen Zenji für den suchenden Übenden auf dem Zen-Weg ansprach (s. das Zitat oben), den Satz des Untertitels von Giovanni Maio abwandeln, der da im Original lautet:
Wenn ein Leben zu Ende geht, ist medizinisch nichts so wichtig wie eine Haltung der Sorge, die auf die Not des sterbenden Menschen zu antworten versteht.
Eine Haltung der Sorge, das ist es, was ein Schlüssel auch für unsere Zen-Übung sein kann. Ich übertrage den Satz von Giovanni Maio mal so:
Wenn es um ein „Sterben (des Egos) auf dem Kissen" geht, ist spirituell nichts so wichtig wie eine Haltung der Sorge, die auf die Not des sterbenden Ichs zu antworten versteht.
FÜR DIE NOT DES ICHS
Das heißt zunächst, dies überhaupt als Not zu sehen und nicht nur, wozu wir oftmals in erster Linie tendieren, es nur als Widerstand aufzufassen! Als Widerstand gesehen, weckt eine solche Empfindung fatalerweise die Gegentendenz, nämlich Widerstand mit Widerstand zu erwidern – und ihn so zu bekämpfen versuchen. Dann aber ist eine endlose Negativspirale in Gang gesetzt, in der die Spaltung zwischen dem, der ich gerne wäre, und dem, der ich tatsächlich (!) bin, nur verfestigt oder sogar vertieft wird.
Demgegenüber tut es not (!), uns selbst erst einmal in unserer leiblich/körperlichen, unserer geistig/seelischen und unserer sozial bedingten Verletzlichkeit zu erkennen. Denn all diese Faktoren unserer Grundverletzlichkeit betreffen unsere Ich-Identität. Und daher sind sie in der Lage, uns in unserer Ich-Wahrnehmung zu bedrohen und Ängste vor Verlust oder Verletzungen auszulösen.
IN MÜNDIGER ZUWENDUNG
Wenn es dann aber mal „Klick macht, dass wir nur in dem Bereich des gewöhnlichen Ich-Bewusstseins, d.h. aus der Perspektive des „kleinen
Ichs betrachtet, verletzlich sein können, können wir zu der Haltung der Sorge finden, die durch Achtung gekennzeichnet und von dem Bemühen getragen ist, den schützenswerten Kern dessen, was unsere Identität ausmacht, zur freien und vollkommenen Entfaltung gelangen zu lassen. So bekommt unser Ich mit all seinen Ich-Kräften, die ja nun nicht allesamt „schlecht sind, sondern zu einem guten Teil unser Überleben (individuell und kollektiv) gewährleisten, die Richtung aufgezeigt, in der die Verletzlichkeit zurücktreten und die Angst vor einer Unwiederbringlichkeit einer Auflösung oder einem „Vergehen–Wohin?
schwinden kann. Damit wir uns in der Sorge für den je eigenen Wesenskern aufgehoben fühlen können – und so die Kontrolle abgeben können –, ist es nötig, um dies noch einmal zu betonen, dass die Haltung der Sorge für uns selbst ohne jegliche Bevormundung und Besserwisserei uns selbst gegenüber auskommt. Es geht also um eine – so könnte man sagen – „wohlverstandene Sorge „auf Augenhöhe
(Maio). Eine Haltung, die die Autonomie nicht aufhebt oder beschränkt, sondern lediglich eine Sorge, die sich in einer mündigen Zuwendung zu sich selbst mit alldem, was uns ausmacht, äußert.
Diese Sorge gilt uns, so wie wir gerade sind.
DER MEHRWERT EINER GRUPPE
Diese Haltung der Sorge ist auch das, was Gemeinschaft im Wesenskern ausmacht. Jeder ist so angenommen, wie er ist. Das macht den Mehrwert aus, wenn eine Gruppe wie unsere, eine Sangha, um den buddhistischen Begriff für den dritten Pfeiler der Praxis neben Buddha und Dharma mal hier einzuführen, gemeinschaftlich praktiziert. Wir alle tragen das Gebilde der Gemeinschaft in Sorge für uns und die anderen.
Aber es wäre nur eine sehr verkürzte und damit unvollständige Haltung, wollte man die Sorge nur auf sich und andere Meditierende beziehen. Wie beim christlichen Verständnis der sog. Nächstenliebe geht es viel weiter. Ihr wisst es schon:
Die Geschöpfe sind zahllos. ICH gelobe, sie alle zu retten.
Die Leidenschaften sind unzählig. ICH gelobe, sie alle zu überwinden.
Die Tore der Wahrheit sind mannigfach. ICH gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Der Weg des Wahren Selbst ist unübertrefflich. ICH gelobe, ihn zu gehen.
All dies geloben wir in der Haltung der Sorge, für uns selbst, für die anderen neben mir und für alle Wesen.
So lasst es uns gleich gemeinsam tun!
Danke!
Ach ja. Halt Stopp! Wie ist die „Überschrift"? Neujahrswunsch!
Genau!
Wir wünschen dies im Grunde unseres Seins allesamt!
Glaube ich.
(ZOOM-Abendmeditation am 4. 1. 2021)
¹ Barry Magid, Nothing is Hidden, S. 51 ff.
² Finde tiefen Glauben in dir selbst, S. 61 ff.
³ A.a.O., S. 67.
⁴ A.a.O., S. 69.
⁵ Vgl. auch Barry Magid, a.a.O., S. 52.
⁶ A.a.O., S. 52, 53.
⁷ Vgl. dazu auch Barry Magid, a.a.O., S. 53.
⁸ Vgl. dazu Barry Magid, a.a.O., S. 59.
⁹ A.a.O., S. 60.
¹⁰ Vgl. auch dazu a.a.O.
¹¹ Peter Knauer, Handlungsnetze, 2002, S. 11 f.; vgl. auch Christiane Woopen im Interview mit DIE ZEIT Nr. 5, 28. 1. 2021.
¹² Peter Knauer, a.a.O.
¹³ Dôgen Zenji, Fukanzazengi (Universelle Anleitung zum Zazen), Übersetzung aus dem Japanischen von Muho, in: Kodo Sawaki: Tag für Tag ein guter Tag, S. 100.
Kapitel 2
TRAUM
Hekiganroku Nr. 40: Nansens „Blumenstrauch"
Engos Einführung
Aufhören und erlöschen, sich zurückziehen und aufgeben:
am eisernen Baum sprießen Blüten hervor.
Gibt es das? Kann es so sein?
Ein schlauer Bursche kommt zu Fall.
Auch wenn er sich in jeglicher Hinsicht hervorgetan hat,
muss er es hinnehmen, dass seine Nasenlöcher durchbohrt werden.
Sagt mir, wo hat er sich verwickelt, wie vertan, was ist der Fehler?
Schaut her; ich zitiere ein Beispiel.
Der Fall
Der hohe Beamte und Würdenträger Rikukô sagte in einem Gespräch mit Nansen: „Jô Hosshi sagte: ‚Das ganze Universum und ich selbst, wir haben die gleiche Wurzel. Alle Dinge und ich selbst sind eins.‘ Ist das nicht absolut wunderbar?"
Nansen zeigte auf einen Blumenstrauch im Garten, wandte sich Rikukô zu und sagte: „Heutzutage sehen die Menschen solche Blumen wie im Traum."
Setchôs Vers
Getrennt, doch nicht ein Einzelsein
sind Sehen, Hören, Fühlen, Wissen.
Im Spiegel siehst du nur zum Schein
ein Bild von Bergen und von Flüssen.
Schon sinkt der Mond – Im Frosthauch friert
die Schattenwelt, um Mitternacht.
Wer ist es, der im Teich mit dir
sein Spiegelbild betrachtet?
Teisho
Ich muss Sie warnen: Sie werden, wenn ich mein Teisho erst einmal beende, nicht mehr wissen als jetzt. Aber vielleicht ein besseres Gefühl, besser noch: ein deutlicheres Gespür dafür bekommen haben, was mit „Nicht-Wissen im Sinne des Zen gemeint ist und was es heißt, dass Zen nicht lehrt, sondern „zeigt
.¹⁴
ZEN ZEIGT WORAUF?
Worauf? Nur auf das Faktum. Was das nun wieder heißt, wird in dem vorliegenden Koan sehr subtil veranschaulicht, – wenn wir genau hinschauen.
Dieses Koan hat es „wirklich in sich. Damit zu „arbeiten
als ein Übender fühlt sich an, als wenn man mit bloßen Händen einen Fisch fangen will. Oder, um ein anderes Bild zu nehmen, was sich hierbei mir aufgetan hat: Dieses Koan ist glitschig wie ein Stück Seife in der Dusche, welches einem immer wieder wegflutscht und unkontrolliert in der Duschwanne