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Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung
Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung
Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung
eBook417 Seiten4 Stunden

Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung

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Über dieses E-Book

Was ist das Wesentliche in der Aufstellungsarbeit und was sind ihre Grundlagen? Unter dem Titel »Essenzen« sucht dieses Buch nach den Hintergründen der Methode, wie sie sich auf dem heutigen Entwicklungsstand der Diskussion formulieren lassen. Rund um die Begriffe Bewusstsein, Wahrnehmung, Phänomenologie, Praxis und Forschung Tragen die Autorinnen und Autoren theoretische und praktische Kernthemen zusammen und beleuchten, was in Aufstellungen vorausgesetzt ist und ihren praktischen Einsatz begleitet. Dabei fließen Erkenntnisse aus mittlerweile drei Jahrzehnten Erfahrung ebenso ein wie Forschungsergebnisse und Ansätze zur Erfassung des Phänomens der repräsentierenden Wahrnehmung sowie Hintergründe für die Haltung von Aufstellungsleitern.


Mit der Aufstellungsarbeit hat man ein Erkenntnis schaffendes Vorgehen an der Hand, das nicht nur Einzelne in ihrer Entwicklung unterstützt, sondern auch die Wissenschaft befruchtet und damit eine kollektive Selbstaufklärung fördert.


Mit Beiträgen von Holger Finke, Markus Hänsel, Harald Homberger, Heiko Kleve, Kerstin Kuschik, Christiane Lier, Holger Lier, Thomas Latka, Albrecht Mahr, Georg Müller-Christ, Frank Oberzaucher, Kirsten Nazarkiewicz, Olivier Netter, Annika Schmidt, Jakob Schneider, Jan Weinhold und Christoph Wild.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Dez. 2019
ISBN9783647999036
Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung
Autor

Markus Hänsel

Dr. Markus Hänsel ist systemischer Berater, Coach und Trainer für Unternehmen und Organisationen in Ladenburg (bei Heidelberg).

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    Buchvorschau

    Essenzen der Aufstellungsarbeit - Kirsten Nazarkiewicz

    I Bewusstsein

    Kerstin Kuschik

    Annäherungsbewusstheit als Haltung – eine Suche

    Vorbemerkung

    Wahrscheinlich ist es stimmig, einen Beitrag, der sich um Annäherung rankt, der suchend ist, ja suchend sein muss, im besten Sinne vorläufig zu nennen. Die Annäherung, die ich meine, kommt ohne Hoffnung auf ein Ziel aus, obwohl die Illusion eines Zieles mir Anregung ist. So mache ich mich auf die Reise, fragmentarisch, sinnend und nachspürend zu einzelnen Bereichen, die diese prozesshafte Haltung beschreiben möchten. Mein Anliegen dabei ist, eine essenzielle Verbundenheit als Quelle sowohl für Haltung als auch für Heilung immer wieder wahrzunehmen, aufzusuchen und auch, mich darin befindend, zu beschreiben.

    Ein solches Verbundensein habe ich beim Aufstellen als Teilnehmerin zum ersten Mal vor zwanzig Jahren erlebt, bevor ich mir dessen bewusster wurde. Und als Leiterin habe ich es weiter gelebt und erlebt. Es sind darin Größen wie Demut enthalten, eine starke Kraft, eine Geborgenheit und das Staunen über das Dasein und Sosein. Im Folgenden hege ich die Hoffnung, etwas zur Diskussion beizutragen, mit welcher Haltung wir Aufstellungen wohl am besten leiten können, wie wir überhaupt Menschen begleiten oder auch Haltung lehren könnten.

    In den 1950er Jahren waren einige Studien zur Bedeutung der Beziehung und der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Klient*innen und Therapeut*innen veröffentlicht worden, die klar herausbrachten, dass eine positive Beziehung und kommunizierte Wahrnehmung Therapieerfolge begünstigen (Fuchs, 2018, S. 57 f.). Carl Rogers formuliert dazu: »Verfahren und Techniken sind weniger ausschlaggebend als Einstellungen. Kein Ansatz, der sich auf Wissen, auf Training, auf die Annahme irgendeiner Lehre verlässt, kann auf Dauer von Nutzen sein. Haltung ist entscheidend, nicht Worte« (1961/2018, S. 58). Wir setzen also heutzutage in vielen Begleitungsformen stark auf die Beziehung vor den Interventionstechniken und der Methode. Da treibt es mich um, zu fragen: Wie wächst Haltung? Welche über Werte und Einstellungen hinausreichende Grundströmung könnte dies sein? Wie ist dies beschreibbar?

    Es sind ja seit dem Beginn der Aufstellungsarbeit bereits einige Aufsteller-Haltungen beschrieben worden. Ich nenne einmal diejenigen, die mir besonders geläufig sind und die ich beim Durchschauen quer durch die Artikel aller Hefte der »Praxis der Systemaufstellung« aufgefrischt habe (die Aufzählung ist subjektiv und unfertig und mit notizartig aufgeführten Stichworten versehen):

    –systemische Haltung: Einschließlichkeit/alles gehört dazu, selbst das, was ich jetzt so noch nicht wahrnehme/systemische Ordnungen und Dynamiken,

    –leere Mitte: Nichtwissen/Anfängergeist,

    –phänomenologische Haltung: Vertrauen ins Feld/in das, was sich zeigt, ins Unmittelbare/die stellvertretende Wahrnehmung/die Anregungen der Personen im Außenkreis,

    –konstruktivistische Haltung: die Annahme verschiedener Wirklichkeiten/Lösungskompetenz beim Anliegeneinbringer/bei der Anliegeneinbringerin,

    –dazu durchaus zu allen obigen Haltungen (und anderen) passende Einstellungen wie: Vertrauen in den Körper/in Körperwissen, Vertrauen in den Zweifel, Vertrauen in mich als Resonanzkörper, Transparenz, Offenheit auch bezüglich meiner Grenzen und anderes.

    Es steht also für unsere Begleitungsarbeit eine Fülle an hilfreichen Erfahrungen, Konzepten, Wahrnehmungen, Einstellungen oder auch Haltungen zur Verfügung, um Heilung zu ermöglichen. Die meisten beruhen auf der Erfahrung, dass wir selbst und damit unsere Arbeit in etwas universelles Größeres eingebettet sind und dass es deshalb wesentlich ist, sich sowohl darüber gewahr zu werden, wie Bewusstsein und Wahrnehmung als Ausdruck und zugleich Mittel dieses Größeren funktionieren könnten, als auch darüber, dass Zeit- und Raumgrenzen nicht manifest und Beständigkeiten relativ sind. Diesen letzteren Annahmen möchte ich im Besonderen folgen und auch gleich erwähnen, dass mich der phänomenologische Aspekt der Aufstellungsarbeit besonders interessiert. Hinsichtlich der Struktur des Beitrages bediene ich mich einer abschnitthaften Gliederung und beleuchte einzelne Bereiche.

    Alltagshaltungen

    Zunächst: Es gibt eine ganz alltagsweltliche, praktische Nutzung des Begriffs Haltung im Sinne einer Einstellung und eines Wertebezuges. So könnte ich z. B. eine pazifistische Haltung haben, die auf Gleichwertigkeit, Frieden, Verständigung, Würde und anderem beruht. Als Vorständin einer Friedensinitiative würde ich aus dieser Haltung heraus sprechen und agieren und etwa gegen Kampfeinsätze oder Waffenexporte sein und auf jeden Fall für friedliche Konfliktverhandlungen. Ich würde aus dieser Haltung heraus die Bereitschaft für gegenseitiges Zuhören, Entgegenkommen u. Ä. erwarten und bieten. Ist diese pazifistische Haltung mit einer anderen Wertezusammensetzung verknüpft, etwa Gleichwertigkeit, Autonomie, Gesundheit, Familie, Verantwortung und Macht, könnte im Kontext einer Situation, in der mein Haus einer Bahntrasse weichen soll, eine Art Kampfgeist in mir wachsen und ich würde vielleicht zunächst mit anderen, letztlich sogar alleine gegen ein Projekt kämpfen, das im Ganzen betrachtet sogar eine gute Sache wäre und wofür ich an anderen Orten sofort meine Unterschrift gegeben hätte. Diese Haltungsausrichtungen in uns können widersprüchlich oder wechselhaft sein, sie können kurzfristig oder nebeneinander her bestehen. Sie sind mittelbar, so durchdrungen und begrenzt von unserer sozialen Einbindung, Herkunfts- und Lebensgeschichte, wie sie in uns eingeschrieben sind – bis hin zur Körperhaltung, ja vermittelst durch sie sowie durch Sprache oder durch unseren Kleidungsstil. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat hierüber geforscht und die Begriffe Habitus (geistige Haltung, soziokulturelle Gewohnheiten und Verhalten) und Hexis (körperlicher Ausdruck, die Art, wie jemand sich beispielsweise Raum nimmt oder welche Sportart gemocht wird) wiederbelebt und weiterentwickelt. Wir sind uns dieser »verinnerlichten Gesellschaft« (Bourdieu, 1993, S. 125) oft nicht bewusst, selbst in den gewählten und gelernten Haltungen unserer Berufsrollen bleiben wir unserem Habitus verbunden. So etwa habe ich als Kleinbürgerkind meine statusangemessene mittlere Reife und eine Lehre gemacht und dann über den zweiten Bildungsweg studiert. Ich kann einen sozialen Aufstieg vorweisen, an intellektuellen Runden teilnehmen, mich dort auch wohlfühlen, Dior auflegen und ich würde an der Art, wie ich zwischen Prosecco-Trinkern meine Bierflasche ansetze, sofort einen anderen »Stallgeruch« durch die Diornebel schicken.

    Es ist eine Entwicklung in der Haltung, dem eigenen Habitus auf die Spur zu kommen sowie diesem möglichst wertungsfrei zu begegnen, denn Haltungen sind Informationsträger unseres sozialen Ordnungssinnes, sie zeigen, wie wir uns den Umgang mit den Anforderungen des sozialen Feldes, in dem wir leben, angeeignet haben. Auch in einem Aufstellungsfeld wirken diese inkorporierten Muster, werden wahrgenommen und gesendet.

    Was ich jedoch mit diesem Beitrag versuchen möchte, ist, eine Bewusstseinshaltung zu beschreiben, die hinter oder unter diesen alltagsweltlichen Orientierungsfeldern liegt und schließlich dazu dient, diesen Alltagshaltungen, sofern sie unheilsam sind, heilsame Alternativen zu bieten. Meine Sprache ist begrenzt dabei, was nicht verwundert, denn auch meine Wahrnehmung ist begrenzt. Auch ist es schwer, über den Leib Erfahrenes in dieser nichtsprachlichen Erlebensqualität in Sprache zu fassen. Kunst sprechen zu lassen wäre hier manchmal angebrachter, wie u. a. Rilke (2003, S. 112) immer wieder zeigt:

    »Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen

    aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!

    Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,

    entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

    […]

    Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

    Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

    durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

    ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.«

    Be-Deutungen

    Im indo-europäischen Sprachraum umfasst der Begriff »Haltung« sowohl eine körperliche Komponente als auch eine innere Werteausrichtung. Hier einige Übersetzungsbeispiele, zusammengesucht aus diversen Wörterbüchern und »Wiktionary«:

    –attitùdine (ital., lat. = actus: Richtschnur im Tun, Körperbewegung): Darauf beziehen sich attitude (franz./engl.), Attitüde, actitud (span.) u. Ä.;

    –mindset (mind = altengl.: gemynd/althochdeutsch: gimunt: Erinnerung, Gedächtnis, indoeuropäisch: mentis= Gedanken; set = indoeuropäisch: sitzen);

    –Position (lat. positio, ein bestimmter, physischer wie psychischer Ort im Raum), alle Ableitungen: posizione mentale, disposition, posture etc.;

    –Haltung (althochdeutsch: haltan = Stillstand (von Vieh): holdnig (dän.), hållning (schwed.) etc.;

    –als Beispiel außerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie mag eine japanische Übersetzung dienen: Haltung = shisei, dieser Begriff gilt sowohl für eine körperliche wie auch für eine geistige Position.

    Die in der Aufzählung bestehenden Korrelationen zeigen vor allem die von Bourdieu beschriebene Auffassung von Haltung: Es klingen soziale Strukturen mit, wie etwa im Begriff der »Position«, dem Verweis auf Alltagspraktiken wie Viehhaltung oder »etwas halten«. Wichtig an dieser Stelle erscheint mir jedoch das mannigfaltige Vorhandensein eines Zusammenhangs von Körperausdruck und Geisteshaltung an sich.

    Leib und Bewusstsein

    Da also eine Geistesausrichtung – alltagsweltlich oder spirituell – erst durch ihre körperliche Bedingtheit spürbar wird, möchte ich diesen Beitrag im Einklang mit der Wahrnehmung über meine Leiblichkeit schreiben, besser: über meine Leibhaftigkeit. Unter Leib verstehe ich in Anknüpfung an Merleau-Ponty (1965) und die Neue Phänomenologie (Schmitz, 2016) den Körper als ein über die Sinne hinausreichendes Bewusstseinsorgan, welches meinem Selbst erlaubt, sich in diesem Leib wahrzunehmen und über ihn die Welt zu erfahren. Dies betrifft sowohl konkrete, sensorische Eindrücke als auch solche Wahrnehmungen, die sich in raumlosen Räumen ohne Innen und Außen zu befinden scheinen, die Schwingungen und Atmosphären zwischen sich und der Mitwelt wahrnehmen, ohne sich einnehmen zu lassen, sowie Phasen von Zeitlosigkeit – etwa wie in tiefer Meditation. So ist es kein Wunder, dass die buddhistische Sicht auf das Bewusstsein diesen leibphilosophischen Betrachtungen nahekommt. Der Meditationslehrer Jack Kornfield beschreibt Bewusstsein mit von der Quantenphysik entliehenen Begriffen als wellen- und teilchengleich (2008, S. 63). Die Quantenphysik versucht, die dichotome Beschaffenheit des Lichtes zu fassen. Bewusstsein aus Kornfields buddhistischer Sicht hat ebenfalls zwei Aspekte: den raumgleichen, unwandelbaren und zeitlosen und den mit der Erfahrung momenthaft verbundenen. Das Sich-Hineinüben in diesen offenen Raum des wellengleichen Bewusstseins geschieht vermittelst der sowohl leiblichen als auch geistigen Atemerfahrung: Mein Leib ist hier atmender und beatmeter Körperraum, erfahrbar durch den augenblicksgebundenen, teilchengleichen Aspekt des Bewusstseins als das, was meine Gedanken, meine Gefühle, Stimmungen und Erwartungen in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung erkennen kann.

    Atmen

    Wenn ich auf meinen Atem achtend meiner Haltung nachspüre, ändert sich meine Position, ich richte mich in mir bequemer, in der Regel aufrechter ein. Ich gebe meinem Atem Raum. Ich achte auf meinen Herzschlag und gebe ihm Raum durch den Atemraum, darum herum. Ich atme bis ich Atem bin und gleichermaßen empfinde, dass es atmet, denn ich steuere nicht. Atmen ist eine basale Empfindung der Beziehung mit der Welt, mit dem In-der-Welt-Sein oder auch mit dem Welt-Sein (Rosa, 2016, S. 92). Über den Austausch eines Stoffes, der unsere gasförmig-physikalische Atmosphäre bildet und der alle nährt, wird mir mit jedem Atemzug diese Verbindung gewahr und mit dem Sich-Anvertrauen an den Atemrhythmus kann ich sowohl meine Bedeutsamkeit als Teil von allem erleben als auch die Demut von einer, die diese Form des Daseins empfängt. Das Gleiche ist in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahrbar. Am deutlichsten, wenn ich als Liebende meinem Partner so nah bin, dass einer des anderen Atem atmen und über die Bewegungen des Bauch- und Brustraumes gleichermaßen spüren kann. Die Trennung zwischen Einatmen und Ausatmen schrumpft um die zeitliche Unterschiedenheit, denn während meines Einatmens spüre ich das Ausatmen des anderen.

    Ich ziehe das Blickfeld wieder etwas auf und nehme die begleiterische Arbeit mit Klienten in den Blick: Wenn ich hier in der achtsamen Begegnung bleibe, spüre und erinnere ich diesen Raum gleichfalls und ich kann mich ihm bewusst und gelassen anvertrauen. Das »Du« (Buber) beginnt, in das Vertrauen und den Raum hineinzuwachsen, dieses gegenseitige Sich-Anvertrauen können beide in einer Art von atmosphärischer Dichte spüren. Was immer nötig sein sollte, sich zeigen möchte, geschützt werden möchte, ich kann es so besser wahrnehmen und annehmen. Solche Wahrnehmungen über den Atem gehen über die Erfahrung des Atmens in dessen existenzieller Dimension als lebenswichtigster Stoffwechselvorgang hinaus. Atemtechniken und -erfahrungen über die Zeiten, Kulturen und Disziplinen hinweg bilden die Grundlage von heilerischen, mentalen und spirituellen Praktiken (vgl. auch Rosa, 2016, S. 92 ff. und Fuchs, 2018, S. 118 f.). Wenn ich Atem wahrnehme, bin ich – hier – jetzt … Deshalb beginne ich auch diesen Beitrag auf diese Weise.

    Dann kann ich auf Nachhall achten: Was treibt mich zum Schreiben über Haltung an? – Was hindert mich? – Was ängstigt mich? – Was erfreut mich? – Manchmal entsteht die Klarheit für einen Gedanken oder eine Struktur, manchmal nur eine Ruhe, in der sich nichts ausdrücken möchte. Und immer wieder zum Jetzt des Atmens zurückkommen: Ist die Entscheidung, den Beitrag auf diese Weise zu schreiben, bereits eine Haltung? Die Frage stellen und loslassen und atmen. Das Nein, das kommt, prüfen. Nein, es ist noch nicht die Haltung selbst, aber darin könnte sich eine zeigen. Ich spüre eine sich verdichtende Qualität in Aufmerksamkeit und Körperlichkeit, wie ich sie auch in einer alltagsweltlichen Einstellung wiederfinde.

    Aber langsam: Zunächst bemerke ich, solchermaßen mit dem Suchen beschäftigt, wie ich eine (Körper-)Haltung einnehme – macht sie mich eng oder weit? Ist das Suchen mit Erwartung verknüpft oder ist es eine Frage, die ich in die gedankliche und körperliche Weite hineinstelle? Nehme ich eine Haltung ein, oder lasse ich mich einnehmen? Ein Versuch: Vielleicht gibt es jede Haltungsmöglichkeit bereits und ich öffne mich ihr nur, lasse sie in mein Bewusstsein hinein, wie etwas, das langsam und willkommen in ein anderes einsickert. Eine Haltung ist so für mich eine Erfahrung, ein Bekenntnis hierzu und dann eine aktive Erneuerung. Atem als die Verbindung mit der Gegenwärtigkeit im Körper bildet den (Zeit-)Raum, in dem ich dies immer wieder aufspüren kann. In diesem Sinne schließe ich mich einer zeitgebundenen Haltung an und bleibe einer fragenden Haltung verbunden.

    Üben

    Das im vorherigen Absatz Festgestellte gilt auch, wenn ich mich von jemandes (spiritueller) Haltung inspirieren lasse, mich einfühle, eine Resonanz in mir erfahre. Dies ist ein stimmiges Geschehen in beiden Richtungen: Ich (wieder-)erkenne eine Haltung, die schon da ist und lasse mich einnehmen. Vielleicht möchte ich etwas lernen, vielleicht erst einmal nur etwas sehen. Das gelingt sogar ohne die Reaktion eines Gegenübers, denn ich kann auch von Haltungen lernen, die sich mir durch niedergeschriebene Worte erschließen.

    Solchermaßen im Prozess des Sich-Einlassens seiend, ist es, als würde meine Aufmerksamkeit sich sowohl erweitern als auch gleichzeitig fokussieren; es kommt mir vor, als entstünde ein körpergroßer Raum hinter meinem Körper oder in ihm. Diesen Raum möchte ich offenhalten, weiter erlauschen, gleichermaßen wie meinen eher physischen Alltagskörperraum erleben, in dem ich vorhandene Erfahrungen, Wissen, Pläne in freundlicher Allianz wahrnehme. Ich gebe mir Zeit, Erlaubnis, Freundlichkeit – Atem. Hier kann ich auch mein langsam wachsendes Vertrauen ins Nichtwissen (verstanden als ein aktiver Zustand des Loslassens vom Denkbaren zugunsten absichtsloser Wahrnehmung) nähren. Mir hilft hier sehr der Begriff des Übens als bevorzugter Prozessmodus mit dem wunderbaren Aspekt des Vorläufigen. Als Sängerin habe ich beim Üben gelernt, das Üben selbst zu genießen. Das kommt mir jetzt sehr zugute. Später als Gesangslehrerin habe ich beobachtet, dass sich diejenigen mit technischen Fortschritten schwertun, die es auch schwer hatten, im Üben selbst schon zufrieden zu sein. Üben empfinde ich als das bewusste ewig Unfertige, das ich im Tun erfahre, und das sich im Tun erfüllt – bei gleichzeitigem Wissen, dass nicht einmal das Unfertige wiederholbar ist. So ähnlich, so ähnlich gut mag es mir noch einmal gelingen, gleich wird es allerdings nicht sein. Den Bewusstseinszustand hierbei bezeichne ich versuchsweise als Annäherungsbewusstsein. Dieses wächst, wenn ich Üben als bewussten Zustand werden lassen kann, gehen lassen kann, annehme und kultiviere. Ich kann natürlich den Begriff »Üben« gut mit »Leben« ersetzen und habe damit einen grundsätzlichen Umgang mit allem Vorläufigen, Prozesshaften, Offenen oder auch noch nicht Erfassbaren – eine Haltungsschulung bezüglich der Erfahrung, dass alles Veränderungen unterliegt. Und so sehr ich beim Aufstellen auch feststelle, entscheide oder handle: Diese Haltung zum Üben/Leben gehört zu meinem professionellen Selbstverständnis und ich nehme sie in Leitungen mit hinein und nicht etwa heraus. Und so könnte schließlich die Bewusstseinsqualität Annäherungsbewusstheit meinem Handeln hinterlegt sein.

    Musik ist ein Bereich, in dem mir diese Bewusstheit sowohl mitgestaltend als auch primär auf mehreren Ebenen aufnehmend (also physisch, emotional und auch geistig-kognitiv) so leibhaftig ist, dass sie mir hilft, auch beim Arbeiten in anderen Kontexten eine Art nützliche Übertragung zu vollziehen. Ob als Rezipientin oder aktiver Part: Wie ich weiß jede Musikerin und jeder Musiker, wie groß der atmosphärische Unterschied ist, für sich zu spielen oder vor Publikum. Und wir als Publikum können den Unterschied, eine Aufnahme zu hören oder live im Konzertsaal zu sitzen, beschreiben. Im Klangraum ist die Flüchtigkeit sowohl klanggewordener Intuition und Kommunikation als auch guter Technik mit allen Sinnen spürbar. Sie ist aber auch leibhaftig und wirkt solchermaßen transformiert im besten Falle bezüglich aller Anwesenden inspirierend (inspiratio = einhauchen, spiritus = Atem, Geist), oder trifft durch Dissonanzen oder fehlende Resonanzmöglichkeiten der Beteiligten etwa auf Angst. Ähnliches kennen wir bezogen auf unsere Arbeit: Die Resonanz der Gruppe auf das Geschehen mit den Aufstellenden und umgekehrt ist sehr spürbar und beredt.

    Präsenz

    In verschiedenen Weiterbildungen wurde gerne auf Steve de Shazer Bezug genommen, sinngemäß so, dass man eine Hypothese wie einen Anfall behandeln und in einer Ecke abwarten solle, bis er bzw. sie wieder vorbei sei. Als ich von diesem Aufruf zum Warten in meiner Weiterbildung gehört hatte, schien er mir einleuchtend, also habe ich versucht, sehr früh meine Urteile, Sympathien, Antipathien und Vermutungen z. B. beim Zuhören dessen, was eine Person mit einem Fall im Vorgespräch schildert, zu bemerken und ziehen zu lassen. Ich wähnte mich in einer abwartenden Haltung. Bis ich spürte, dass ich eher eine Technik und keine Haltung übte, und zwar zunächst in einer passiven Weise, nämlich darauf gerichtet, etwas nicht zu tun (reaktive Impulse erkennen und ihnen nicht folgen). Diese Art der Passivität brachte mich jedoch aus einer tieferen Ebene der Verbundenheit mit der Person und ihrem Anliegen heraus. Es war ein durchaus nützliches Handeln bzw. eine nützliche Technik im Sinne einer Neutralisierung von den Blick verengenden, einer breiteren Empathie hinderlichen Gedanken und Gefühlen, aber doch auch begrenzend. Ich war darauf ausgerichtet, etwas wegzuhalten, ja, etwas auszuschließen. Da das Zitat im Kontext einer Weiterbildung neben anderen Begriffen gefallen war, die uns Orientierung in Fragen zur Haltung geben sollten, blieb de Shazers amüsante Zuspitzung für mich ein hilfreicher Knoten im Taschentuch, was eine Technik betrifft. Haltung im tieferen Sinne, verstanden als ein Gravitationsfeld von Daseins- und Herkunftserfahrungen, in dem ich lebe und arbeite und durch das und mit dessen Hilfe ich wirken kann, müsste sich anders anfühlen.

    Ich habe Begriffe wie »leere Mitte« oder auch »Allparteilichkeit« und »gleichschwebende Aufmerksamkeit« (Sigmund Freud) ausprobiert. Freuds Begriff war mir am eindrücklichsten, wobei ich gleichschwebend so verstehe, dass ich mehrere Elemente, Gedanken, Hypothesen, Körperregungen, Aussagen oder auch Personen gleichermaßen im Blick zu behalten versuche und auch – vorerst – als gleichermaßen bedeutsam ansehe. Wenn ich eine für mich vertraute, leichte Yogaposition länger einnehme, begebe ich mich anfangs etwas zäh und dann immer fließender in die Position hinein: über eine zunächst rotierende Aufmerksamkeit auf die je einzelnen Körperbereiche, die ich dehne oder mit Energie versorge, gelingt es mir manchmal nach einiger Zeit, beinahe alle gleichermaßen zu spüren und überall hin zu atmen. – »Gleichschwebend« die Aufmerksamkeit zu halten, ermöglicht eine tiefe Ruhe und einen weiteren Blick, sogar über sich hinaus, wenn der Körper immer weniger zu spüren ist. Wenn mir diese Verfassung mit Klienten gelingt (Aufstellung oder nicht), spüre ich eine erweiterte Präsenz, ein »Mehr« als vorher, etwas, aus dem eine Lösung sich zeigen kann, die unerwartet ist und/oder eine emergente Qualität hat. Also übe ich, eine präsente Haltung einzunehmen, eine Art Bereitschaft, die ich über einen erweiterten Raum spüre, über eine veränderte Zeitempfindung, die langsamer als die Uhren zu laufen scheint, eine Art Freundlichkeit und die Ausbreitung einer Erlaubnis, eines Jas.

    Mitschwingen

    Jedoch: eine Aufstellung beispielsweise ist keine Yoga-Pose und keine Versenkung. Es gibt viele Impulse, die von und zwischen anderen aufzunehmen und zu halten sind. Meine Taktung der Aufmerksamkeiten (rotierende Aufmerksamkeit) wird schneller. Eine präsente Haltung einzunehmen, immer wieder zu erneuern und dadurch zu erhalten, ist eine sich durch die Begegnung ziehende Aktivität, die mal mehr, mal weniger gelingt. Haltung bekommt hier also eine instabile, fragile Verfasstheit, wird eher zu einem Mitschwingen. Die physische Feinsicht unseres in der Welt aufgerichteten Körpers bestätigt das: Hiernach gibt es keinen festen Stand, nur eine in Millisekunden und Mikrobewegungen austarierte dynamische Balance. Äußerlich zeigt sich eine Haltung, gemacht und erhalten wird sie durch Mitschwingen. Und sogar aus spiritueller Sicht ist eine entsprechend bewegliche Haltung nötig: Selbst wenn zu meiner Annahme gehört, es gäbe so etwas wie eine Standleitung zum Göttlichen, muss ich meine Antennen immer wieder neu ausrichten.

    Ich bin hin- und hergerissen, so sagen wir oft, wir wackeln mit dem Kopf, treten von einem Bein auf das andere, wissen nicht, welcher Stimme wir glauben sollen, haben zwei Seelen, ach, in unserer Brust. Dies beschreibt eine unserer natürlichen Verfassungen (»Verfassung« oder »Zustand« sind wieder Begriffe, die fester halten wollen, als es möglich scheint): Ambivalenzen oder Mehrdeutigkeiten verleiten uns zur Illusion der einen Lösung, des für immer Klaren, der ewig gültigen Entscheidung. Wenn es mir so geht, dann kann ich nicht einmal mehr einen vorläufigen »Standpunkt« (emp-)finden. Wenn ich nun Haltung bewahren möchte, halte ich mich vielleicht fest: an jemandem, an etwas, einer Idee – also an einem »Standpunkt« eines anderen. Je fester dieser Standpunkt scheint, umso lieber ist er mir vielleicht. Ich eigne mir also eventuell Standpunkte anderer als Haltegriffe an – Haltung ist das noch nicht, aber ein (kurzfristiger) Halt, ein Versuch – wie wir ihn alle kennen und unternehmen.

    Wenn es mir allerdings gelingt, trotz eines unklaren oder uneindeutigen Ausdrucks im Feld, im geistigen und körperlichen Mitschwingen zu bleiben, ich also für mich empfindsam und erlaubend bleibe, werde ich eine Haltung in dieser Instabilität erleben können, indem ich diese Instabilität beschreiben, annehmen und vielleicht auch mit anderen, an einer für mich ambi/multi-valenten Situation beteiligten Personen kommunizieren kann. Ich kann dann die Sicherheit durch das Vertrauen in die Bewegung wahrnehmen, ohne zunächst eine Ansicht haben zu müssen, wohin sie führt.

    Es gibt womöglich ein stabiles Grundrauschen hinter allem, wie das des Urknalls, das alle Klangmöglichkeiten enthält, und als in Dualität gesetzter Mensch, einerseits als Körper im Hier und Jetzt gefasst und andererseits den Gesetzen der Veränderung angehörend, braucht es eine Bewusstheit über diese beiden Qualitäten, die der Begrenztheit und die des Wandels. Mitschwingen als bewegtes Tun scheint mit hierfür passend.

    Absichtslosigkeit

    In diesem fortwährenden Auslotprozess gibt es, wie oben schon angesprochen, zeitgedehnte Ruhezonen, die – so darf ich aus der Erfahrung anderer hoffen – wahrscheinlich zunehmend souveräner zugänglich sein werden. Gerade bei emotionalen Phasen in einer Aufstellung oder auch den Gefühlslagen der Klientinnen und Klienten in der Einzelarbeit ist es eine wesentliche Kompetenz, mitzuschwingen und gesammelt zu bleiben. Empathie erlebe ich auf der Ebene dessen, was ich Annäherungsbewusstsein nenne, als grundsätzlich ruhig. Ich kann diese Bewusstheitsqualität halten und mit anderen fühlen und miterkennen, ich kann andere bezüglich deren Freude oder Schmerz wahrnehmen, die Resonanz in mir und meiner Geschichte empfinden oder sogar das archetypische, uns alle wesentlich Berührende daran. Dies empfinde ich als Geschenk, verstanden als etwas, das mir gegeben wurde; hier wähne ich mich in dem, was Peter Bourquin als Heilungsraum beschrieben haben mag (2013, S. 111 ff.). Wenn es mir nun gelingt, in diesem Raum »absichtslos« zu verweilen, wird diese Resonanz für andere auch erfahrbar. Absichtslosigkeit oder auch Anfängergeist ist ein Zustand, der in vielen spirituellen Traditionen und Praktiken geübt wird. In diesem Zusammenhang fällt mir eine Bemerkung Harald Hombergers ein, der in einer Aufstellungsrunde geschmunzelt hat: »Aufstellungen sind für mich Meditation mit therapeutischen Nebenwirkungen.« Ich habe das so gehört: Wenn Heilung zum Ergebnis wird und nicht zur Absicht, ist ein anderer Freiheitsgrad in der gemeinsamen Arbeit erreicht – ohne im Mindesten die Anliegen, die mit unterschiedlichen Qualitäten von Leid verbunden sind, in ihrer Bedeutsamkeit und Ernsthaftigkeit zu schwächen. Der Freiraum entsteht, weil ich mich im Dienst dessen sehe, was wahrhaftig in diesem Moment ist (Wahrhaftigkeit heilt), und nicht in dem, was gestaltet werden könnte, etwa im Sinne des

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