Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ich und Selbst: Konstruktionen und Behandlungskonzepte: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis
Ich und Selbst: Konstruktionen und Behandlungskonzepte: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis
Ich und Selbst: Konstruktionen und Behandlungskonzepte: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis
eBook294 Seiten2 Stunden

Ich und Selbst: Konstruktionen und Behandlungskonzepte: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dieses Buch hilft Psychotherapeuten, Psychiatern und Supervisoren, ihre Patienten und Klienten bei ihrer Identitätssuche und Selbstfindung zu unterstützen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen werden die Theorien der Ich- und selbstpsychologischen sowie der relationalen psychodynamischen Richtungen dargestellt.

Die Selbst- und Identitätsbildung als Suchbewegung von Klienten und Therapeuten steht im Zentrum der Fragestellungen. Die Autorin gibt fundierte und hilfreiche Antworten – in dem Wissen, dass Antworten nie ein für alle Mal gelten und doch zufriedenstellend sein können. Wir transformieren uns fortwährend und können uns letztlich nie auf etwas Eigentliches zurückführen. 

Fragen aus dem Inhalt: 

Menschen sagen: „Ich suche mich“, „Ich finde mich“, „Ich erfinde mich neu.“ Wer oder was ist eigentlich dieses Ich, wer oder was ist dieses Mich, und was machen die beiden da, wenn sie sich suchen, finden oder erfinden? Machen die beiden das stets und ständig und beeinflussen sie sich wechselseitig? „Ich kann mich selbst so schwer verstehen?“ Wer oder was ist denn dieses Selbst? Also ist da noch ein Dritter im Bunde, wie immer? In diesem Buch werden Antworten auf diese Fragen gesucht. 

Die Autorin: 

Dr. phil. Marie-Luise Althoff ist Analytikerin, Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin und diskutiert mit Blick auf Psychotherapie und Supervision die Konzeptualisierung einer Beeinflussung des Ich- und Selbsterlebens.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum18. Okt. 2019
ISBN9783662565445
Ich und Selbst: Konstruktionen und Behandlungskonzepte: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis

Ähnlich wie Ich und Selbst

Ähnliche E-Books

Psychologie für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ich und Selbst

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ich und Selbst - Marie-Luise Althoff

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019

    M.-L. AlthoffIch und Selbst: Konstruktionen und BehandlungskonzeptePsychotherapie: Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-56544-5_1

    1. Einleitung

    Marie-Luise Althoff¹  

    (1)

    Bielefeld, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

    Marie-Luise Althoff

    Email: marie-luisealthoff@web.de

    1.1 Wenn ich mich selbst erkenne – dann findet mich auch das Glück

    1.2 Die Botschaften der Märchen und Erzählungen zur Selbstfindung

    1.3 Die Botschaften der Märchen und Erzählungen zur Überwindung psychischer Krankheit

    1.4 Die basale Frage: Was meint Selbsterkenntnis?

    Literatur

    Das Streben nach Selbsterkenntnis und die Suche nach Glück scheinen eng miteinander verbunden zu sein, und zwar in der Weise, dass die Selbsterkenntnis oft wie ein Glücksversprechen verstanden wird. In Märchen, Sagen und Mythen wird auf dem Weg der Selbstfindung die Botschaft übermittelt, dass wir selbst die Quelle von Zufriedenheit und Glück sind. Für die Protagonisten der Erzählungen ist die Phase der Selbstfindung entweder eine normale Entwicklungsaufgabe (z. B. Dornröschen) oder Herausforderung zur Überwindung psychischen Leids (z. B. Bastian in der Unendlichen Geschichte). Selbsterkenntnis kann es jedoch nicht an und für sich geben, sondern der Erkennende wird das Erkannte notwendig konstruieren. Die innere Wirklichkeit kann demnach nur so erkannt werden, wie sie uns erscheint. Gleichzeitig ist jede Erkenntnis immer abhängig von unserer inneren Gestimmtheit bzw. unserem Lebensgefühl, das unser Denken und Handeln beeinflusst. Es entsteht weitere Erkenntnis, wenn unsere Befindlichkeit von einem anderen Menschen nachvollzogen werden kann oder wenn wir das geistig Fremde integrieren können.

    Etwas verträumt und schon in Gedanken mit dem Beginn dieses Buches beschäftigt tauche ich einen Teebeutel, dessen Etikett einen kleinen Spruch enthält, in das kochend heiße Wasser. Mein Blick fällt auf das Etikett: „Erkennst Du Dich selbst, wird auch das Glück Dich finden. „Hey super, denke ich, „Dass ich heute ausgerechnet auf das Sprüchlein schaue, kann kein Zufall sein. Da geht es doch um mein Thema „Ich und Selbst oder „Ich suche mich selbst. Das wird auch alle Leser interessieren, denn sich selbst suchen und erkennen ist schon ein gutes Ziel, aber als Belohnung vom Glück gefunden zu werden, wer möchte das nicht.

    1.1 Wenn ich mich selbst erkenne – dann findet mich auch das Glück

    Schon Aristoteles sagte: Alle Menschen wollen glücklich sein. Auch Freud meinte:

    „Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben" (Freud 1930, S. 433).

    Vielleicht gehen wir nicht auf Selbstsuche, wenn wir glücklich sind. Und auch umgekehrt, vermutlich gehen wir auf die Selbstsuche, wenn wir uns nicht glücklich fühlen. Oft suchen Menschen dann das Glück in äußeren Dingen wie Geld, Status, Prestige. „Eure Spezies hat echt nicht sonderlich viel Talent zum Glücklichsein!", stellt Jacob fest, der als Praxishund des Psychologen Tom täglich den Menschen und ihren Sorgen zuhört (Diesbrock 2018). Jacob wundert sich, was wir alles anstellen, um ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu führen und wie effektiv wir uns dabei selbst im Weg stehen.

    1.2 Die Botschaften der Märchen und Erzählungen zur Selbstfindung

    In Märchen, Heldensagen und Mythen ist stets die Botschaft zu finden, dass wir nur, wenn wir selbst die Quelle der Zufriedenheit und des Glücks sind, immer wieder daraus schöpfen können. Auch im Märchen von Dornröschen geht es darum, einen Weg der Selbstfindung zu entdecken.

    Inhalt

    Der Konflikt, der gelöst werden muss, ist die Frau-Werdung des Mädchens Drewermann (2005). Das Dornröschen wächst wie ein Königskind heran und ist schon von Geburt an mit einem Fluch belegt. An seinem fünfzehnten Geburtstag werde es sich an einer Spindel stechen und tot umfallen. Eine Fee wandelt den Fluch in einen 100-jährigen Schlaf um. Seine Eltern tun alles, ihr Mädchen vor dem Unheil zu bewahren. Obwohl im Reich des Vaters alle Spindeln systematisch eingesammelt und vernichtet werden, geht die Prophezeiung in Erfüllung.

    Interpretation als Konflikt

    Drewermann (2015) interpretiert die Konflikthaftigkeit des Schritts vom Kind- zum Frausein:

    Es „führt unvermeidlich dahin, jenes Geheimnis zu berühren, das, so verdrängt auch immer, zur Reifung einer Frau gehört. Zwar stirbt nicht physisch die Prinzessin, als sie sich an der » Spindel « sticht, jedoch erlebt sie ihre erste Liebe wie ein Trauma, das jede weitere Entwicklung ihrer Persönlichkeit zum Stillstand bringt. So liegt sie seelisch da wie schlafend; wer sich ihr zu nahen wagt, verfängt sich in ein dornenvolles Dickicht, – er dringt zu ihr nicht durch, kommt aber auch nicht von ihr los; erst ganz zuletzt gelingt es jemandem, den Bann zu heben und die Geliebte aufzuwecken, indem er nach und nach auch ihre Eltern und den Hofstaat und die Tiere und sogar das Herdfeuer wieder belebt. Nichts demnach kann so ängstigen wie Liebe, nichts aber schenkt an Leben mehr als sie" (Drewermann 2015, S. VII).

    Interpretation als Entwicklungsphänomen

    Bettelheim hat das Dornröschen-Thema als typisches Adoleszenz-Phänomen beider Geschlechter interpretiert:

    Das Märchen betont, „daß auch die lange, ruhige Konzentration auf das eigene Ich notwendig ist" (Bettelheim 2002, S. 261).

    „Bei größeren Veränderungen im Leben wie bei der Adoleszenz sind für ein erfolgreiches Wachstum sowohl aktive als auch geruhsame Perioden notwendig. Zu einem Sich-nach-innen-Kehren, das nach außen hin wie Passivität (oder Verschlafenheit) wirkt, kommt es dann, wenn sich in dem Betreffenden innere Prozesse von solcher Wichtigkeit abspielen, dass er keine Energie mehr für nach außen gerichtete Aktivitäten übrig hat. Märchen, die wie „Dornröschen die Periode der Passivität als zentrales Thema haben, ermöglichen es dem jungen Menschen zu Beginn der Adoleszenz, sich über seine mangelnde Aktivität in dieser Zeit keine Sorgen zu machen: er erfährt, dass die Dinge sich trotzdem weiterentwickeln. Der glückliche Ausgang gewährleistet dem Kind, dass es nicht dauernd im scheinbaren Nichtstun verhaftet bleiben wird, selbst wenn es im Augenblick so aussieht, als sollte die Periode der Ruhe hundert Jahre dauern (Bettelheim 2002, S. 262).

    1.3 Die Botschaften der Märchen und Erzählungen zur Überwindung psychischer Krankheit

    Im modernen Märchen von Michael Ende „Die unendliche Geschichte" (1979) begegnet uns auch das Thema des Rückzugs (hier: auf den Speicher der Schule), jedoch weist die Symbolik über einen normalen Entwicklungskonflikt hinaus auf das Thema von kindlich-jugendlicherDepression hin (wie übrigens in den Harry Potter-Erzählungen auch).

    Inhalt

    Bastian Balthasar Bux wird von dem Buch „Die unendliche Geschichte", welches er im Antiquariat des Buchhändlers Karl Konrad Koreander gesehen hat, magisch angezogen. Als Bastian das Buch an sich nimmt, glaubt er, einen Diebstahl zu begehen, etwas zu nehmen, das nicht ihm gehört, das nicht zu ihm gehört. Doch er irrt sich. Wie Koreander ihm später erklärt, sei das Buch aus dem Stoff gemacht, aus dem die Träume seien. Es müsse selbst bereits aus Phantásien stammen. Folglich könne Bastian es nicht gestohlen haben. Er vermisse auch kein solches Buch. Die Erzählung lässt auch keine andere Schlussfolgerung zu: Phantásien ist Bastians Innenwelt, und das Buch ist ein Teil von ihr. Indem Bastian das Buch an sich nimmt, beginnt er lediglich damit, das zu greifen, was ihm ohnehin bereits wesentlich zugehört, was untrennbar mit ihm verbunden ist.

    Auf dem Speicher seiner Schule, auf den er sich heimlich verkrochen hat, verfolgt Bastian gespannt die Abenteuer des Helden Atréju und seines treuen Begleiters, dem Glücksdrachen Fuchur. Atréju ist mit der Aufgabe betraut, das Reich Phantásien vor dem sich ausbreitenden Nichts zu retten. Zu diesem Zweck muss er ein Menschenkind finden, welches der erkrankten kindlichen Kaiserin, der Herrscherin Phantásiens, einen neuen Namen gibt. Nur auf diesem Weg kann diese geheilt und Phantásien vor dem Nichts gerettet werden. Mit jeder Seite, die Bastian liest, wächst in ihm der ungeheure Verdacht, dass er selbst das gesuchte Menschenkind sein könnte. Aber ist dies überhaupt möglich? Kann Bastian tatsächlich in das Geschehen eingreifen und die kindliche Kaiserin retten? Die Idee für einen neuen Namen für die kindliche Kaiserin hätte er jedenfalls schon … So muss sich Bastian auf die Suche nach seinem wahren Wunsch begeben und dabei feststellen, dass dies keine leichte Aufgabe ist. Im Verlauf der abenteuerlichen Reise wird Bastian schließlich mit seinen tiefsten Hoffnungen und Wünschen konfrontiert. Doch das Ende ist in der unendlichen Geschichte erst der Anfang …

    Fazit

    Atréju zu Bastian: Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du. Und die machen beide Welten gesund.

    Zur Symbolik kindlich-jugendlicher Depression

    In der Geschichte wird uns auch etwas über kindlich-jugendliche Depression erzählt. Depression wird durch einen der Protagonisten, das Nichts, dargestellt. Mit dem Nichts als Metapher für den Verlust der Vorstellungskraft und der Unschuld in der Erwachsenenwelt wird erzählt, dass Großwerden nicht bedeuten muss, aufzuhören, zu träumen. Denn dann existiert das Reich Phantásien nicht länger. So kann das Nichts Kindern auf eine interessante Weise erklären, was eine Depression ist. Aber das ist nicht die einzige Gestalt, die es in diesem Buch oder Film annimmt. Im Verlauf der Geschichte kommen nicht nur die Symptome einer Depression vor, sondern auch, wie man diese am besten bekämpfen kann, wie man z. B. aus den „Sümpfen der Traurigkeit" herauskommt.

    Bastians Depressionsentstehung

    Es wird erzählt, dass Bastian sehr unter dem Verlust seiner Mutter leidet. Dinge, die ihm früher Freude bereitet und Kraft gegeben haben, hat er aufgegeben, und seine Klassenkameraden ärgern ihn sehr. Als einzige Möglichkeit, dieser Welt zu entkommen, erscheint es, seine Vorstellungskraft zu benutzen. Er versinkt in der Geschichte über Phantasiewesen, die einst alles hatten, doch vom Nichts bedroht werden. Ein Leben, das Bastian selbst hatte, als seine Mutter noch am Leben war. Doch dann geschah plötzlich das Unerklärliche.

    Das Nichts ist diese Leere, dieser Schrecken, der das noch verschlimmert, was man verliert. Es zerstört einfach alles. Daher kann nur der stärkste Krieger des Reichs Phantásien, Atréju, gegen es ankämpfen. Dafür reist er durch das gesamte Reich, bis er Antworten in den Sümpfen der Traurigkeit findet.

    Die Überwindung der Depression

    Die Sümpfe der Traurigkeit sind die Endstation und die letzte Hoffnung. Dort begegnet er der alten Morla, dem weisesten Wesen von Phantásien. Aber die Sümpfe stellen eine große Gefahr dar, weil sich in ihnen eine große Traurigkeit befindet, die alles in sich untergehen lässt. Wenn das passiert, versinkt es langsam im Morast. Im Dialog zwischen Bastian und der alten Morla wird klar: „Lasse dich nicht von der Traurigkeit mitreißen, sie wird dich herunterziehen. Du musst weiter gegen das Unglück ankämpfen. Und vor allem solltest du dich nicht von Menschen herunterziehen lassen, die nicht die Freude der Jugend in sich tragen und ihr nicht einmal zuhören wollen".

    Das schwarze Nichts nimmt Gestalt an und wird zum Werwolf Gmork. Dieser Werwolf wird in Momenten sichtbar, in denen Atréju all seine Hoffnung verloren hat. So zeigt sich das Nichts als das schwarze Loch der Psyche des Protagonisten. Ein Abgrund, der besagt, dass er einen zerstören wird, wenn man sich ihm nähert, doch Atréju ist ein Kämpfer, der sich nicht kampflos ergibt. Dennoch weiß er nicht, wie er gegen das größte seiner Probleme, das Nichts, ankämpfen soll. Aber als das Nichts am Ende fast alles verschlungen hat, verstand Bastian, dass er der Protagonist der Geschichte ist, dass er traurig war, dass er es war, der nach dem Tod seiner Mutter im Sumpf der Traurigkeit versank. Er war derjenige, der seine wundervolle Welt verloren hatte. Doch er hatte noch etwas Hoffnung in sich, weshalb das Nichts nicht seine gesamte Welt verdunkeln konnte.

    Die Lehre der Kinderpsychotherapie

    Die Kinderpsychotherapie lehrt, dass es nicht so ist, dass Kinder die Welt der Erwachsenen nicht verstehen können, wir Erwachsenen sind es, die die kindliche Welt nicht verstehen. In Therapie z. B. zeigen sie uns mithilfe ihrer Spiele, Geschichten und ihrer Vorstellungskraft ihr eigenes Universum. Aus diesem Grund sind die projektiven Verfahren von so großer Bedeutung. Kinder können sich dadurch verständlich machen, wie sie sich fühlen, und sie können uns von Sachen berichten, deren Namen sie nicht kennen. Denn für ein Kind ist es nicht möglich, zu sagen, dass es eine Depression hat. Aber es kann erklären, dass eines seiner Phantasiewesen traurig ist, weil es alles verloren hat.

    Die Verwirklichung des Ratschlags, selbst die Quelle der Zufriedenheit und des Glücks zu sein, wird auch schwierig, wenn wir auf der Suche nach uns Selbst und dem Glück z. B. die uns bis dato unbewusste negative Überzeugung finden, dass wir kein Recht auf Glück haben. Zur Auflösung einer derartigen Überzeugung bedarf es meist einer Psychotherapie.

    1.4 Die basale Frage: Was meint Selbsterkenntnis?

    Am Tempel des Apoll in Delphi war für alle sichtbar ein kurzer und markanter Spruch zu lesen: „Gnothi Seautón – „Erkenne dich selbst. Selbsterkenntnis sollte die Basis sein für jedes Denken über Gott und die Welt.

    Kant meinte, dass Philosophie letztlich nichts anderes als Selbsterkenntnis sein kann. Er stellte fest, dass das, was erkannt wird, von dem, der es erkennt, zwangsläufig abhängt, und zwar insofern, als der Erkennende das Erkannte notwendig konstruiert (Position der Konstruktivisten). Die Wirklichkeit kann demnach nicht so erkannt werden, wie sie an sich ist, sondern nur so, wie sie uns erscheint.

    Unsere Ordnung der Welt

    Erkennbar wird die Welt, so Kant, ausschließlich als unsere Vorstellung. Welcher Art Ordnung sie tatsächlich entspricht, bleibt unklar. Wir selbst müssen der Welt Ordnung geben, um sie überhaupt erkennen zu können, und dass es bloß unsere Ordnung ist, wenn etwas geordnet erscheint. Letztlich sind wir es, die die Welt konstruiert haben, und wir haben sie so entworfen, dass wir sie auch erkennen konnten. Ja, wir konnten sie gar nicht anders konstruieren, da wir sie nur so entwerfen können, wie unser Bewusstsein gebaut ist. Die Welt zu erkennen und sie zu konstruieren ist demnach ein und derselbe Vorgang.

    Wenn Erkenntnis nun aber tatsächlich stets Selbsterkenntnis ist, bekommt das delphische „Gnothi Seautón" eine ungeahnte Tragweite: Nicht nur das, was außen ist, liegt gleichsam in uns selbst, sondern auch, was innen wohnt und alles Äußerliche in einem bestimmten Licht erscheinen lässt. Vermutlich war es dieses Psychische, was die Griechen mit dem Spruch in Delphi im Sinn hatten.

    Selbsterkenntnis als ein Persönlichkeit bildendes und Persönlichkeit schaffendes Element

    Diesem Innenleben, diesem Selbst, diesem „angeborenen und unveränderlichen Charakter", wie Schopenhauer schreibt, ist stets die größte Aufmerksamkeit zu widmen, ist er es doch, der unser Handeln „im Ganzen und Wesentlichen" (Schopenhauer 1977c, S. 251) bestimmt. Selbsterkenntnis, Einsicht in das eigene Wollen, hat somit oberste Priorität. Denn nur wenn die eigene Individualität in ihren Vorlieben und Talenten, aber auch in ihren Defiziten transparent wird, besteht die Möglichkeit bzw. haben wir die Macht, das Leben gezielt gestalten zu können. Nur wenn man dasselbe bewusst will, was man vorher blind wollte, so Schopenhauer, wird man auch die richtigen Entscheidungen treffen: „Ein Mensch muss wissen, was er will, und wissen, was er kann: Erst so wird er Charakter zeigen, und erst dann kann er etwas Rechtes vollbringen" (Schopenhauer 1977a, S. 381).

    Was der Mensch wirklich will

    Freiheit wird damit zum Wissen um die stärksten Handlungsmotive, ihr Sprungbrett ist die Selbsterkenntnis. Der Mensch ist nur frei, wenn er zuerst einmal sich selbst erforscht hat. Weiß er einmal, was er wirklich will und was er auch zu leisten im Stande ist, so kann er, wenn er weiterkommen möchte, bei vollem Bewusstsein verwirklichen, was seinem Charakter und seinen Talenten adäquat ist. Werde, der du bist.

    Der menschliche Wille aber, so Schopenhauer, wird allezeit nur durch sein stärkstes Motiv bestimmt. Er schreibt,

    „ich kann tun, was ich will: Ich kann, wenn ich will, alles was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden – wenn ich will! – Aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1