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Die Schuldumkehrer
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eBook398 Seiten4 Stunden

Die Schuldumkehrer

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Über dieses E-Book

Textauszug (gekürzt und adaptiert)

»..., wenn ich die Tat rekonstruieren kann, habe ich meist schon einen Hinweis auf den Täter. ... Kannst du mir folgen?«
Er nickte heftig, wobei das Nicken mehr ein Automatismus war. Genau genommen, war ihm schleierhaft, worauf sie hinauswollte.
»Der Schwierigkeitsgrad lässt sich für die Ermittlungsbehörden steigern, wenn es dem Täter gelingt, es so aussehen zu lassen, als ob das Opfer der Täter wäre.«
»Ja, das habe ich verstanden. Aber irgendwas gibt es doch immer, was dazu beiträgt, dass der Täter am Ende überführt wird … Weil er einen Fehler bei seiner Planung macht, etwas übersehen hat … oder so.«
»Das Opfer wird alles daransetzen, zu beteuern, die Tat nicht begangen zu haben. Sämtliche Hebel in Bewegung setzen, ... .«
Statt sinnentleerter Paragrafen schwirrten jetzt Fragezeichen durch den Raum.
»Das leuchtet mir ein. Am Ende bleibt das erfolglos, wenn es dem Opfer doch noch gelingt, sich herauszuwinden.«
»Genau. Deshalb darf es gar nicht so weit kommen.«
Er seufzte. Langsam riss ihm der Geduldsfaden. Er zappelte auf seiner Sofaecke herum. ...
»Ich bin überzeugt davon, dass es funktioniert.«
»Was?«
»Liegt doch auf der Hand.« Sie ließ den Satz kurz im Raum stehen. »Das Opfer, das versucht sich doch nur dann herauszuwinden, wenn es sich für unschuldig hält. Was ist«, sie ließ den angefangenen Satz kurz in der Luft hängen, »wenn es davon überzeugt ist, der Täter zu sein?«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Juni 2023
ISBN9783347952355
Die Schuldumkehrer
Autor

Ellen Ulbricht

Dr. Ellen Ulbricht, geboren 1958, ist Juristin und leidenschaftliche Autorin. In der Nähe des Bodensees geboren, im Schwäbischen also, zog sie zum Studium der Rechtswissenschaften in die hessische Universitätsstadt Marburg an der Lahn. Nach Staatsexamen und Promotion war sie im Rhein-Main-Gebiet als Unternehmensjuristin tätig. Abstecher führten sie unter anderem nach Hamburg, wo sie den spröden Charme der Norddeutschen kennenlernen durfte. Sie lebt jetzt mit Partner und zwei Hunden in der Nähe von Wien, auf halbem Weg zu der einzigartigen Steppenlandschaft des Neusiedler Sees. Neben ihrer Referententätigkeit ist sie vor allem als Fachautorin im Gesellschafts- und Steuerrecht tätig. Auch in ihrem ersten Roman ist der Hang zum Juristischen nicht zu kurz gekommen.

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    Buchvorschau

    Die Schuldumkehrer - Ellen Ulbricht

    Vor zwanzig Jahren – Annäherung

    Das Baumgesicht aus Stamm und ein paar knorrigen Ästen schaute erwartungsvoll auf sie herab. Seine mächtig gelappten Eichenblätter strotzen in unverschämt frischem Grün.

    Sie machte es sich unter den ausladenden Ästen auf einer Parkbank gemütlich. Deren leicht morbider Charme passte hervorragend zu ihrer momentanen Stimmung. Die rotbraune Farbe war schon reichlich abgeblättert, die Oberfläche rissig und das ausgebleichte Holz trotzte nun Wind und Wetter. Ihren Rucksack lehnte sie an die gusseiserne Armlehne. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das rostzerfressene Ding in einen haltlosen Zustand verfallen würde. Sie kramte ein Buch aus der Seitentasche. Der Wind zupfte an ihrem blonden Pferdeschwanz. Sanftes Blätterrauschen mischte sich mit Vogelgezwitscher. Von der nahe gelegenen Autobahn war Fahrzeuglärm zu hören. Die Luft war an diesem Junitag angenehm warm. Sie blätterte in dem Wälzer, bis sie die Stelle wiederfand, an die sie das Post-it als Lesezeichen geklebt hatte. Zügig und konzentriert arbeitete sie sich durch den Text, blätterte gelegentlich ein paar Seiten zurück, um dann erneut in die Untiefen des deutschen Rechts abzutauchen.

    Neben ihr ließ sich jemand schwungvoll auf das Sitzmöbel fallen. Die in die Jahre gekommenen Holzlatten ächzten kurz unter der Last. Die senkrechten Fältchen auf ihrer Stirn waren kein Willkommensgruß. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks hob sie irritiert den Blick.

    »Was liest du denn da?«

    Sie zögerte erst, entschloss sich dann aber dazu, den Kopf eine winzige Spur zu heben und den Störenfried etwas näher zu betrachten. Ein flüchtiger Blick über den Bücherrand genügte, um ihr Gegenüber einem ersten Check zu unterziehen. Eines stach ihr gleich ins Auge: Der Typ war knackig, durchtrainiert und entsprach schon mal ihrem Beuteschema. Er trug ein lässig weites T-Shirt und Shorts, die knapp über dem Knie endeten. Seine Arme und Beine glänzten in sattem Oliv-Braun.

    Sport-Student, schoss ihr durch den Kopf.

    Sie besann sich anders.

    »Ich hab schon bessere Anmachsprüche gehört!«, blaffte sie ihn an und wandte sich scheinbar wieder ihrer Lektüre zu.

    »Ach was. Welche denn?«

    Der Typ ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie kniff die Augen zusammen, wie immer, wenn sie leicht genervt war. Ihr Blick wanderte erneut über den Bücherrand. Ihre Gedanken schweiften ab zu dem dunklen Haar, das zum Wuscheln geradezu einlud.

    »Wow, das sieht nach ziemlich komplizierter Fachliteratur aus. Was ist das? Interessiert mich. … echt.«

    Die Bemerkung verhallte unbeantwortet zwischen Vogelgezwitscher und Blätterrauschen. Ihre Konzentration war verflogen. Zum dritten Mal versuchte sie dem Satz, der sich wie ein Lindwurm über drei Zeilen schlängelte und in dem es von Einschüben nur so wimmelte, zumindest annähernd etwas Sinnhaftes zu entlocken.

    »Ist es wenigstens spannend?«

    »Ist nur was für Eingeweihte«, wimmelte sie ihn ab und blätterte demonstrativ ein paar Seiten weiter.

    »Zu schade, dass du deinen Kopf hinter dem dicken Wälzer versteckst. Hm, was studierst du?«

    So schnell ließ er nicht locker. Die Blonde neben ihm entsprach zwar nicht dem gängigen Schönheitsideal, dafür war ihr Körper schlicht zu kurz geraten. Stattdessen haftete ihr etwas an, was er in diesem Moment nicht so genau in Worte fassen konnte. Die feinen Haare waren straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der, wenn sie den Kopf drehte, frech hin und her wippte. Ihre beiden oberen Schneidezähne trotzten allen Versuchen, sie in Reih und Glied zu zwängen. Sie standen geringfügig zueinander gekippt, was ihrem Lächeln einen verschmitzten Anstrich verlieh.

    Langsam ging er ihr auf den Keks. Sie warf einen zweiten Blick auf ihn, und das, was sie im Auge hatte, war nicht nur passabel, sondern umwerfend. Die Farbe seiner Augen erinnerte entfernt an einen tosenden Gebirgsbach: sprudelndes Türkis mit grünen und blauen Sprenkeln.

    »Jura«, purzelte es aus ihr heraus.

    »Wow, stark, dann haben wir was gemeinsam. Ich muss einen Schein in Jura machen.«

    »Wofür brauchst du den?«, fragte sie beiläufig und zwang sich, den Blick dabei ins Grün schweifen zu lassen. Sie schwankte dabei zwischen der Hoffnung und dem Bangen, dass er mit seiner Fragerei aufhören könnte.

    »BWL. Vielleicht kannst du mir auf die Sprünge helfen.«

    Der Typ war echt wie eine Klette, nicht abzuschütteln. Sie ließ das Buch sinken, markierte die Seite, auf der sie zuletzt gelesen hatte, mit dem Post-it, schlug den Wälzer geräuschvoll zu und verstaute ihn im Rucksack.

    »Und weshalb sollte ich das tun?«, fragte sie mit leicht säuerlichem Unterton.

    »So wie du aussiehst, bist du bestimmt genial im Erklären.«

    Das ließ sie durchgehen. Diesmal.

    Das perfekte Verbrechen

    Sie grinste vor sich hin. Den ersten Punkt auf ihrer To-do-Liste konnte sie abhaken. Ihr Bauch meldete ein verdammt gutes Gefühl.

    Einige Tage später hockten sie gemeinsam über Eck auf den einzigen beiden Sitzmöbeln, die in der Studentenbude vorhanden waren. Sie zog ihre Beine auf das Sofa. Bücher und Skripte lagen aufgeschlagen auf dem Glastisch und umrahmten zwei Pizzakartons. In denen fristeten leicht angetrocknete Reste ihr Dasein. Ein paar grüne Oliven lagen verstreut noch im Karton. Die Ränder der Salamischeiben bogen sich bereits seit geraumer Zeit nach oben.

    Ihre Diskussionen drehten sich um die Grundlagen des Zivilund Gesellschaftsrechts. Jetzt hatten sie sich in der trägen, nicht enden wollenden Masse aus Paragrafen festgefahren, stocherten in dem zähen Brei aus Vorschriften, die sich schneller zu ändern schienen, als sie den Weg in ihre Köpfe fanden.

    »Gesellschaftsrecht ist nicht gerade meins«, räumte er ein und stopfte sich eine der übrig gebliebenen Oliven in den Mund. »Dir fliegen die Paragrafen doch nur so zu.«

    »Hilft nichts. Wenn du deinen Schein haben willst, musst du dir das in den Kopf hauen. Anschließend kannst du den ganzen Kram von mir aus vergessen«, gab sie in einem versöhnlichen Ton zu bedenken. In ihren Augen blitzte etwas auf, was er nicht deuten konnte. Zwischen den einschlägigen Vorschriften des Gesellschaftsrechts verloren sich seine Gedanken immer wieder in einer entscheidenden Frage: »Deine wunderschönen Augen lenken mich ab. Ich denke ununterbrochen darüber nach, welche Farbe sie haben. Ich schwanke ständig zwischen azurblau, eisblau, grünblau, himmelblau, jeansblau. Womöglich sind sie veilchenblau.«

    Sie verdrehte erst kurz die Augen. Dann sagte sie: »Meinst du damit, sie sind irgendwie anders?« Er nickte heftig.

    »Für mich waren sie bisher einfach nur blau«, meinte sie mit versonnenem Blick.

    Er ließ nicht locker. »Welches Rechtsgebiet – außer dem hier«, und deutete kurz auf das Chaos um ihn herum, »interessiert dich am meisten?«, fragte er in der Hoffnung, aus dem Dschungel gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen einen Ausweg zu finden.

    »Schwer zu sagen.« Sie legte eine Gedankenpause ein und ließ ihren Blick über das Inferno schweifen. »Strafrecht …. Kriminologie, ergänzt durch Psychologie«, fügte sie hinzu.

    »Oha. Was fängt man damit im Alltag an? Zumindest klingt es wahnsinnig spannend.«

    »Eine ganze Menge.« Die kryptische Andeutung ließ sie einen Moment im Raum stehen, um dem Ganzen ein wenig mehr Wirkung zu verleihen. »Jeder Straftäter hat seine eigene Persönlichkeit, so wie halt jeder Mensch.«

    »Meinst du damit Psychopathen und so?«

    »Na ja, die sind krass. Nicht jeder Täter ist gleich ein Psycho.« Sie klaubte ein paar von den angetrockneten Salamischeiben von dem übrig gebliebenen Pizzadreieck im Karton, steckte sie sich in den Mund und spülte das Ganze mit einem Rest lauwarmer Cola herunter.

    »Viel interessanter finde ich eine ganz andere Frage«, setzte sie ihre Überlegungen fort.

    »Und die wäre?«

    »Na ja, diejenigen, die eine Straftat planen, also nicht mal eben so im Vorbeigehen einen Ladendiebstahl begehen oder so, die tüfteln oft monatelang daran, kundschaften aus, planen Fluchtwege und so weiter.«

    »Du meinst, die Ausgefuchsteren unter den Tätern?«

    »Zumindest halten sie sich dafür. Jeder glaubt, er hätte alles bedacht … das perfekte Verbrechen, das ihnen keiner nachweisen kann.«

    »Und dann geht doch irgendwas schief«, räumte er ein.

    »Ja, weil sie etwas übersehen haben, oder keine Alternativen für den Fluchtweg herausgearbeitet haben.«

    Sie warf sich eine der übrig gebliebenen Oliven in den Mund und erklärte kauend: »Oder die Methode war doch nicht so bombensicher und man kann ihnen die Tat nachweisen.«

    »Klingt plausibel. Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst?« Er war etwas irritiert.

    »Die Frage lautet ganz einfach: Gibt es das perfekte Verbrechen?«

    Er blies die Backen auf und ließ die Luft langsam entweichen. »Puh, ich weiß nicht. So richtig kann ich es mir nicht vorstellen. Was ist denn ein perfektes Verbrechen in deinen Augen?«

    »Na, eins zum Beispiel wie in dem gleichnamigen Film: zwei Menschen beiseiteschaffen, ohne dafür belangt werden zu können.«

    »Hm. Das ist nicht einfach. Spuren gibt es immer«, gab er zu bedenken.

    »Findet sich ein Projektil, kannst du Rückschlüsse auf die Waffe ziehen. Und so weiter …«

    »Das stimmt schon. Bei Gift, Drogen oder Arzneimitteln ist das so. Es gibt heute kaum noch was, was sich nicht im Körper eines Toten aufspüren lässt.«

    Sie saß auf einmal kerzengerade, unterstrich mit ihren Händen das Gesagte. Sie war in ihrem Element. »Die Gerichtsmediziner sind darauf getrimmt, nach Einstichstellen an ungewöhnlichen Hautstellen zu suchen. Es wäre daher dilettantisch, einen Diabetiker mit einer zusätzlichen Portion Insulin um die Ecke zu bringen.«

    »Außer … du lässt die Leiche anschließend auf Nimmerwiedersehen verschwinden«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. Seine Augen glitzerten wie ein frischer Gebirgsbach. Einer, der sich in luftigen Höhen aus Rinnsalen gebildet hatte, um sich anschließend gewaltig den Weg ins Tal zu bahnen. Das Spiel machte ihm mittlerweile Spaß. Kein Vergleich zu den Grundzügen des Gesellschaftsrechts, die an einen alten muffigen Lappen erinnerten, den man bestenfalls mit spitzen Fingern anfasste.

    »Eins zu null für dich«, räumte sie ein. »Man muss das Opfer nicht umbringen. Es reicht doch, wenn du es so ruinierst, dass der Täter am Ende die gesamte Kohle in die Finger kriegt und das Opfer ohne einen Cent dasteht.«

    »Hm. Um dann ewig auf der Flucht zu sein, wie diese Posträuber damals in England?«

    »Nee, eben nicht«, warf sie mit Nachdruck ein. »So soll es ja gerade nicht laufen. Das Geld muss greifbar sein. Schließlich will sich der Täter damit ein schönes Leben machen. Natürlich darf er nicht über die Stränge schlagen, sonst kommen schnell Fragen auf, woher die Kohle stammt. Außerdem muss es unmöglich sein, den Geldstrom zurückzuverfolgen«, gab sie zu bedenken.

    »Was ist da jetzt das Besondere dran? Das haben doch schon viele versucht und sind genial gescheitert!«

    »Ja, genau. Die haben alle den gleichen Fehler gemacht«, fügte sie mit einem Unterton hinzu, der zwischen Überheblichkeit und Sarkasmus schwang.

    Er schüttelte den Kopf. Auf welchem Trip war diese Frau? »Und du hast einen genialen Plan in deinem hübschen Köpfchen ausgeheckt?«, fragte er mehr aus Höflichkeit. Die Idee schien ihm schlicht abwegig, an den Haaren herbeigezogen, ach, wer weiß was noch alles.

    »Na ja, ich muss dazu etwas weiter ausholen. Wir haben auf der einen Seite einen Täter – ich gehe jetzt mal von einer Person aus, damit es nicht zu kompliziert wird – und auf der anderen Seite das Opfer. Soweit alles klar?«

    Er nickte verständnislos.

    »Mit anderen Worten, wenn ich die Tat rekonstruieren kann, habe ich meist schon einen Hinweis auf den Täter. Die Herangehensweise ist dumm und führt nicht zum Ziel. Kannst du mir folgen?«

    Er nickte heftig, wobei das Nicken mehr ein Automatismus war als ein Zeichen, ihrem Vortrag folgen zu können. Genau genommen, war ihm schleierhaft, worauf sie hinauswollte.

    »Der Schwierigkeitsgrad lässt sich für die Ermittlungsbehörden steigern, wenn es dem Täter gelingt, es so aussehen zu lassen, als ob das Opfer der Täter wäre. Also, sich Fingerabdrücke des Opfers auf der Tatwaffe finden … Nur mal als Beispiel. Mir fällt gerade nichts anderes ein.«

    »Ja, das habe ich verstanden. Aber irgendwas gibt es doch immer, was dazu beiträgt, dass der Täter am Ende dann doch überführt wird … Weil er einen Fehler bei seiner Planung macht, etwas übersehen hat … oder so.«

    »Das Opfer wird alles daransetzen, zu beteuern, die Tat nicht begangen zu haben. Sämtliche Hebel in Bewegung setzen, einen Anwalt einschalten, vielleicht einen Detektiv, um Beweise für die eigene Unschuld zu finden.«

    Statt sinnentleerter Paragrafen schwirrten jetzt Fragezeichen durch den Raum.

    »Das leuchtet mir ein. Am Ende führt das nicht zum Erfolg, wenn es dem Opfer doch noch gelingt, sich herauszuwinden.«

    »Genau. Deshalb darf es gar nicht so weit kommen.«

    Er seufzte. Langsam riss ihm der Geduldsfaden. Er zappelte auf seiner Sofaecke herum, suchte eine andere Sitzposition. Dabei fegte er die ausgedruckten Blätter für eine Klausur in Gesellschaftsrecht von der Sitzfläche, stieß dann gegen eine Cola-Dose, deren klebriger Rest sich auf dem Glastisch verteilte. Im letzten Moment riss er noch einen der Wälzer hoch, sonst hätte sich der Schwall womöglich mitten auf das dicke Handbuch zum Zivilrecht ergossen. Das Drama, es auch noch mit verklebten Paragrafen aufnehmen zu müssen, wollte er sich nicht ausmalen.

    Sie lief in die Küche, um ein Schwammtuch zu holen und wischte die braune Soße vom Tisch. Das Malheur erschien ihm als willkommene Gelegenheit, um das Thema zu wechseln. Bloß fiel ihm beim besten Willen so schnell nichts ein, womit sich das Gespräch in eine andere Richtung lenken ließ. Der Schwenk hin zum Gesellschaftsrecht, dessen Grundlagen gerade auf dem Fußboden dahinvegetierten, schien ihm wenig tauglich. Weiter ließ sie ihn mit seinem Ablenkungsmanöver nicht kommen.

    »Ich bin überzeugt davon, dass es funktioniert.«

    »Was?«

    »Liegt doch auf der Hand.« Sie ließ den Satz kurz im Raum stehen. »Das Opfer, das versucht sich doch nur dann herauszuwinden, wenn es sich für unschuldig hält. Was ist«, sie ließ den angefangenen Satz kurz in der Luft hängen, »wenn es davon überzeugt ist, der Täter zu sein?«

    Sein Mund klappte wie bei einem Fisch auf dem Trockenen auf. Er formte Sprechblasen ohne Inhalt. Er schaute sie eine gefühlte halbe Ewigkeit an.

    »Und du glaubst, das funktioniert tatsächlich?«

    »Klar, ich mach‘ dir das mal an einem Beispiel deutlich.«

    »Okay, lass hören, was dir durch den Kopf spukt.«

    »Pass auf. Kannst du dich noch dran erinnern, was ich an dem Tag anhatte, als du dich zu mir auf die Parkbank gesetzt und mich angemacht hast?«

    »Ääähm. Fpffff. Keinen blassen Schimmer.«

    »Ich helf dir auf die Sprünge. Ich hatte ein weißes Tanktop an.«

    »Mag sein.«

    »Jetzt sag ich zu dir: Immer dann, wenn ich die weiße Bluse in meinem Schrank hängen sehe, muss ich an dich denken.«

    »Hä, ich dachte, es war ein Tanktop.«

    »Nur Geduld. Kommt alles … Ich erzähle dir immer wieder, wenn wir uns treffen, von der weißen Bluse und den vielen Knöpfen dran.«

    Er schaute sie verwirrt an. »Wenn da keine Bluse war, dann waren da doch keine Knöpfe. Was soll der Quatsch?«, rief er leicht genervt.

    »Ja, genau das wirst du denken, zumindest am Anfang. Aber dann kommts. Ich lasse nicht locker und erzähl dir immer wieder von der Bluse und den Knöpfen … und von dem, was du mit den Knöpfen gemacht hast.«

    »Verdammt, was willst du damit? Ich hab doch gar nichts gemacht! Ich kapier noch immer nicht, was du mir damit sagen willst.«

    »Ich mach gar nichts. Ich erzähl dir bloß immer wieder von der weißen Bluse mit den Knöpfen und was du damit gemacht hast … Irgendwann wirst du die weiße Bluse vor dir sehen. Du weißt beim besten Willen nicht, was du mit den Knöpfen gemacht hast … Kannst du auch gar nicht. Die waren ja gar nicht da. Und jetzt kommt’s: Dein Gehirn versucht, die vermeintliche Erinnerungslücke zu schließen, und zwar mit deinem Erfahrungswissen.«

    Er saß staunend vor ihr und war sich nicht ganz sicher, ob er die richtige Schlussfolgerung zog.

    »Und was sagt dir deine Erfahrung? Hm? Sag schon …«

    Er hüllte sich beharrlich in Schweigen. Die Sache wurde ihm langsam unheimlich.

    »Knöpfe kann man entweder auf- oder zumachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einem Frühlingstag mit offener Bluse auf einer Parkbank gesessen habe, ist jetzt nicht gerade hoch. Also macht dein Kopf da draus: Ich hab mir an den Knöpfen zu schaffen gemacht.«

    »Hab ich doch gar nicht!«, brüllte er entrüstet, sprang auf und fegte dabei die gesammelten Werke des Zivilrechts vom Tisch.

    »Nee, haste auch nicht. Aber wenn ich dir das jetzt oft genug erzähle und immer wieder ein kleines Detail hinzumogle, dann glaubst du das nicht nur, sondern du hast genau dieses Geschehen vor Augen.«

    »Ich glaub das einfach nicht. Ich weiß doch, an was ich mich erinnere und an was nicht.«

    »So denken die meisten. Bis sie es zum ersten Mal hautnah erlebt haben. Da gibt es interessante Fachliteratur dazu.«

    »Echt jetzt? Wow, wenn das wirklich stimmt … Die Idee, die dir da durch den Kopf spukt, die hat was. Und ich bin mir sicher, wenn du es anpackst, dann kriegst du das auch so hin.«

    Das hätte er besser nicht sagen sollen.

    Verderbnis

    Alles sah nach einem ereignislosen, gewöhnlichen Tag aus. »Papa ist da«, rief Luisa aus dem Wohnzimmer. Sie hüpfte wie ihr großes Vorbild Pipi Langstrumpf mitsamt Hund im Schlepptau zur Verbindungstür zwischen Garage und Haus. Die Tür ging auf, das Kind quietschte vergnügt. Der Hund tat es dem Kind nach und empfing Oliver mit freudigem Gebell. »Papa, du kommst heute spät«, flötete sie, wobei im Unterton ein kleiner, unüberhörbarer Vorwurf mitschwang.

    »Oh, tut mir leid, Prinzessin. Ich hab dich warten lassen. Auf jeden Fall lese ich dir später noch das nächste Kapitel aus dem Buch mit dem Pinguin und der Giraffe vor«, tröstete Oliver seine Tochter. Er hob sie zur Begrüßung kurz in die Luft, wirbelte um die eigene Achse. Das verstand der Vierbeiner umgehend als Aufforderung zum Spiel. Während Oliver sich im Kreis drehte, jagte der Hund den fliegenden Kinderbeinen hinterher.

    Pepper nahm es ernst mit seinem Hüteauftrag. Er war sich nicht sicher, ob er zuerst mit Hundebett, Napf und Stofftier in das Haus eingezogen war. Oder ob das kleine, etwas schrumpelige Wesen, das zu der Zeit gelegentlich merkwürdige Töne von sich gab, schon vor ihm da gewesen war. In der Zwischenzeit waren beide gewachsen. Am Anfang sah Pepper etwas verloren in seinem Hundebett aus. Er füllte nämlich bloß die rechte, untere Ecke aus, wenn er zusammengerollt darin schlief. Inzwischen ragte sein buschiger Schwanz über den Rand seines Kuschelbetts, wenn er die Schnauze auf der anderen Seite ablegte, um einen gepflegten Mittagsschlaf zu halten.

    Nicht zuletzt verdankte er sein Wachstum dem Kind. Da war er sich sicher. Die hatte sich vom Winzling zu einem Wesen entwickelt, das sich eine Zeit lang auf allen vieren fortbewegte. Das trieb beide zu waghalsigen Wettrennen durch Wohn- und Esszimmer an.

    Jessica beobachtete das Treiben von Hund und Kind mit gemischten Gefühlen. Erst gestern war sie bäuchlings auf allen vieren durch den Raum gerobbt. Aus der Perspektive eines Vierbeiners und eines Krabbelkinds gab es verdammt viel zu entdecken, was einem als Erwachsener entging. In der Ecke fand sie ein Kabel, das Pepper gern als Springseil nutzte, ohne zu wissen, dass am anderen Ende eine stattliche Tischlampe hing. Der Holzfrosch von der Insel Bali hatte bisher nur ein paar Kauspuren aus der Zeit des Zahnwechsels davongetragen. Das Kind kaute zu dieser Zeit nur auf dem angesabberten Hundespielzeug herum.

    Diesem Kind, das auf den Namen Luisa hörte, fiel immer etwas aus der Hand. Das hatte Pepper rasch gelernt. Ohne langweiliges Hundetraining übernahm er die Aufgabe eines Staubsaugers auf vier Pfoten, der brav nach getaner Arbeit in seine Parkposition zurückkehrte. Diesen süßlichen, breiigen Klumpen, die dem Kind im frühen Lebensalter unverhofft aus dem Gesicht fielen, konnte er nicht viel abgewinnen. Die Phase der leicht angekauten Kekse, Zwiebacke und Bananen war schon mehr nach seinem Geschmack. Eine deutliche Verbesserung stellte sich ein, als Luisa endlich über ein ordentliches Gebiss verfügte, zu einer Zeit, als er seinen Zahnwechsel bereits hinter sich hatte. Fester Nahrung stand nichts mehr im Weg.

    Zu der Zeit fragte sich Pepper, welcher Job für ihn in der Familie wohl geeignet war. Alle Familienmitglieder gingen Beschäftigungen nach, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Sein Stammbaum war undurchsichtig, seine berufliche Laufbahn deshalb fragwürdig. Körperbau und das lange, glatte Fell ließen auf einen Vorfahren aus der Gattung Border Collie schließen, der Kopf wies Strukturen eines Schäferhundes auf. Bei seinen Ohren war guter Rat teuer. Das rechte reckte sich zu einem ordentlichen Stehohr in die Höhe. Das linke, in edlem Schwarz gehalten, hatte sich im Lauf der Zeit zu einem Knickohr entwickelt. Bei Bedarf ließ es sich blitzschnell aufstellen. Etwa, wenn es darum ging, bedeutungsvolle Worte nicht zu verpassen, wie: Essen ist fertig!

    Aufgrund seiner breit gefächerten Ahnengalerie und entsprechender Fähigkeiten war ihm die Jobwahl nicht leichtgefallen. Ein Jagdhund bekam bei einwandfreier Führung und Eignung echt coole, herausfordernde Aufgaben im Wald. Der hatte nur einen Förster am anderen Ende der Leine, den es im Auge zu behalten galt. Das Hüten, das lag ihm. Das hatte er schon früh bemerkt. Wahrscheinlich war das der Border Collie in seinem Blut. Mangels geeigneter Schaf- oder Ziegenherde spezialisierte er sich auf das Bewachen des Kindes und den Rest der Familie.

    »Luisa«, tönte es aus der Küche, »du kannst den Tisch decken.« Oliver setzte seine Tochter vorsichtig auf dem Boden ab, gab ihr einen sanften Klaps als Bestätigung auf die Schulter.

    »Lauf, und hilf deiner Mutter beim Tischdecken«, und zu Jessica gewandt, die in der Küche werkelte, »bin gleich da.«

    Ein paar Minuten später saßen Jessica, ihr Mann Oliver und Luisa an dem großen Esstisch. Pepper hatte sich zu Beginn der Mahlzeit in eine strategisch nützliche Position gebracht. Der Länge nach ausgestreckt, die Schnauze auf die Pfoten gelegt, lag er an der Ecke des Tisches zwischen Luisa und ihrem Vater. Gelegentlich reckte sich eines seiner Ohren, um nichts Wesentliches zu verpassen.

    »Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist«, sagte Oliver und blickte versonnen auf die riesige Familienpizza, die Jessica in die Mitte zwischen den drei Tellern platziert hatte. Aus dem Karton strömte verführerischer Duft nach Tomaten, Sardellen, Kapern, Käse und feinsten mediterranen Gewürzen.

    »Ich hoffe, die Pizza ist noch warm. Heute hatte ich keine Zeit zum Einkaufen. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen.« Jessica klang noch immer etwas gehetzt. »Auf dem Nachhauseweg bin ich schnell bei der Pizzeria vorbeigefahren.«

    »Es duftet köstlich und du weißt, dass ich die Pizza liebe, auch wenn das nicht ganz mit deinen Vorstellungen von gesunder Ernährung zusammenpasst.« Oliver drückte kurz die Hand seiner Frau, was Jessica ein warmes Lächeln ins Gesicht zauberte.

    »Man muss Kompromisse eingehen«, seufzte sie, blies gleichzeitig eine kurze Haarsträhne aus dem Gesicht und verteilte die ersten Pizzastücke auf den Tellern.

    »Du siehst in der Tat etwas erschöpft aus«, sagte Oliver und sah seine Frau etwas besorgt an. Jessica blickte ratlos das Pizzadreieck auf ihren Teller an. »In der Apotheke war heute die Hölle los. Die neue PTA, die ich erst vor ein paar Tagen eingestellt habe, ist ausgefallen. Und bei den Coronatests gab es schon wieder eine Änderung. Das muss man jedem Kunden jedes Mal aufs Neue erklären. Die sind nicht immer begeistert. Oft haben sie kein Verständnis für die Anpassungen und lassen ihren Frust am Personal aus.«

    Der feinen Hundenase war indessen der Pizzageruch nicht entgangen. Pepper brachte das, an der Tischecke lauernd, in eine arge Zwickmühle.

    »Hast du wieder so Nasenbohrer-Tests verkauft, Mama?«, erkundigte sich Luisa. Zur Erläuterung fuchtelte sie mit den Fingern in der Luft herum, als ob sie gerade den Coronatest der neuesten Generation für Grundschulkinder ausprobierte. Jetzt fehlte ihr die zweite Hand, um das überdimensionale Pizzadreieck festzuhalten. Es kam, wie zu erwarten war: Das Pizzastück klappte wie ein Schweizer Messer in der Mitte zusammen, rutschte Luisa zwischen den Fingern durch und landete mit einem ‚Klatsch‘ auf dem Fußboden.

    Trotz seines fransigen Ponyhaars war dem Hund Luisas Malheur nicht entgangen. Bevor das Kind den Verlust seiner Mahlzeit erfasst hatte, war Pepper bereits auf den Pfoten, schnappte sich das matschige Stück und verschwand in Windeseile durch die Terrassentür in den Garten.

    Jessica schüttelte kurz den Kopf. »Pepper, schleich dich!« Sie legte erst ihrem Kind ein neues Pizzadreieck auf den Teller, wischte dann die matschige Masse aus Tomatensoße und klebrigen Käseresten vom Holzfußboden und setzte sich wieder an den Esstisch zu ihrer Familie. Schließlich war sie als Pharmazeutin nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen.

    Ehe Luisa zugreifen konnte, kehrte Pepper schwanzwedelnd zurück und setzte sich erwartungsvoll deutlich schmatzend zwischen Vater und Tochter. Sein Blick wanderte zwischen den Teller der beiden hin und her.

    »Beinahe hätte ich es vergessen …«, nahm Oliver erneut das Gespräch auf und tippte sich kurz an die Stirn. »Es gibt wichtige Neuigkeiten. Auch deshalb war ich heute so spät dran«, und zu seiner Ehefrau gewandt, »Ich wollte dich noch anrufen und dir sagen, dass ich etwas später komme. Bloß, ich habe mein Mobiltelefon nicht gefunden.«

    Jessica runzelte kurz die Stirn und fragte bloß: »mal wieder?«

    »Ich wollte es nicht lang im Labor suchen«, räumte er zähneknirschend ein.

    »Erzähl, um das Handy können wir uns nachher kümmern.« Gedanklich ging sie kurz die Möglichkeiten durch, wo das Mobiltelefon diesmal abgeblieben sein könnte. Bisher war es ihr nach gründlicher Suche immer gelungen, das Teil zu finden. Über die seltsamen Fundstellen wunderte sie sich nicht mehr. Selbst Pepper waren sie bisher als Depot für einen Vorrat an Kaustangen entgangen.

    »Oh ja, es war ein erfolgreicher Tag«, antwortete Oliver und seine Augen blitzten hinter seinen runden Augengläsern wie am letzten Weihnachtsfest. An jenem Heiligabend hatte ihm seine Tochter feierlich ein paar handgefertigte Topflappen überreicht. Bei großzügiger Betrachtung ließen sie sich als quadratisch beschreiben und waren liebevoll mit Blümchen verziert. Ernsthaft und mit Nachdruck trug sie ihm auf, sie auf jeden Fall im Labor zu benutzten, damit er sich dort bei der Arbeit nicht die Finger verbrannte.

    »Patrick kam heute

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