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60 x Wien, wo es Geschichte schrieb: Menschen - Mächte - Momente
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eBook422 Seiten2 Stunden

60 x Wien, wo es Geschichte schrieb: Menschen - Mächte - Momente

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Eine Stadt – sechzig Geschichten

Adressen mit Geschichte: In zahlreichen Ecken Wiens erinnern Orte, Straßen und Plätze an Menschen und Geschehnisse, die die Stadt geprägt haben. Doch viele dieser Spuren gilt es erst wiederzuentdecken.
In sechzig historischen Miniaturen, deren Geschichten selten in Touristenführern zu finden sind, reist Georg Hamann zurück in die Zeit des Altertums bis ins 20. Jahrhundert und schreibt gleichzeitig das faszinierende Porträt einer Stadt und ihrer Bewohner.

Aus dem Inhalt:
Von Kaiser Probus bis zum Heurigen: Wien und der Wein
Ungeheuer, Magie und Teufelswerk – Wiener Sagen und ihre Hintergründe
Der »Lateinische Krieg« – ein blutiges Kapitel der Wiener Universitätsgeschichte
Anna von Tirol und der Orden der Kapuziner
Paganini – Der »Teufelsgeiger« in Wien
Karoline von Perin und die Frauen der Revolution 1848
Baron Rothschild und die Anfänge des Wiener Fußballs
»Sodom und Gomorrha« auf dem Laaer Berg
Die Weiße Rose von Wien – ein Gymnasiast gegen Adolf Hitler
und vieles mehr

Mit zahlreichen Abbildungen
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Okt. 2022
ISBN9783903441040
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    Buchvorschau

    60 x Wien, wo es Geschichte schrieb - Georg Hamann

    1Von Kaiser Probus bis zum Heurigen – Wien und der Wein

    19., Probusgasse 14–16

    Zwar verfügen wir heute nur über verhältnismäßig wenige verlässliche Quellen über seine kurze Regierungszeit, dennoch ist Kaiser Marcus Aurelius Probus nördlich der Alpen immer noch ziemlich populär. Man errichtete ihm zu Ehren Denkmäler, benannte Straßen und Lokale nach ihm, und sowohl deutsche Volkslieder (Der Römeradler hielt den Rhein) als auch Wiener Heurigenlieder (Es steht ein alter Nussbaum …) nehmen auf ihn Bezug. Stets wird sein Name mit dem Wein in Verbindung gebracht. Probus sei es nämlich gewesen, so hieß es, der den Weinbau in den äußeren Provinzen des Römischen Reiches einführte.

    Hier muss man allerdings präzisieren: Schon lange bevor die Römer ihre Herrschaft bis an die Donau vorschoben, wurde dort von den Kelten Wein kultiviert. Kaiser Domitian suchte im ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr. aber nach Möglichkeiten, die Exportwirtschaft des italischen Mutterlandes zu stützen und verbot daher den Anbau. Der Wein, den man ab nun in Provinzen wie Noricum oder Pannonien trank, musste mühsam über die Alpen herangeschafft werden. Es muss sich um große Mengen gehandelt haben, bedenkt man, dass den hier stationierten Legionären täglich ein gewisses Quantum zustand. Kaiser Probus war es nun, der dieses Anbauverbot im späten 3. Jahrhundert wieder aufhob und gleichzeitig edle Weinreben aus Italien im Donauraum anpflanzen ließ.

    Überhaupt war er, der einst in vielen Schlachten erprobte Feldherr, während seiner Regierungszeit als Friedensfreund bekannt, der sich vor allem um die Kultivierung bislang vernachlässigter Landschaften bemühte. Seine Legionäre wurden zunehmend für zivile Aufgaben abkommandiert, mussten Sümpfe trockenlegen, Flüsse regulieren, Straßen, Brücken und Tempel errichten, ja man spekulierte, Probus denke sogar an die Abschaffung des stehenden Heeres. Die Soldaten, die ihn einst zum Kaiser ausgerufen hatten, wurden dieser Arbeiten schließlich überdrüssig, meuterten und töteten Probus im Jahr 282.

    Wie es um den Weinbau nach dem Abzug der Römer, zur Zeit der Völkerwanderung, bestellt war, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, dazu fehlen verlässliche Quellen. Durch die bayerisch-fränkische Kolonisation im 8. und 9. Jahrhundert dürfte er aber wieder eine wichtige Rolle gespielt haben und wurde unter den Babenbergern bald ein unverzichtbarer Zweig der Wirtschaft im Wiener Raum. Die Bedeutung ihrer neuen Residenz stieg im Hochmittelalter rasant – immerhin lag Wien am Kreuzungspunkt wichtiger Verkehrsrouten, und wo Menschen zusammentrafen, wuchs der Bedarf an Herbergen und Gaststätten. Bis nahe an die Stadtmauern zogen sich die Weinberge hin und bedeckten somit auch Teile der heutigen inneren Bezirke.

    Der überregionale Weinhandel entwickelte sich zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige Wiens und sollte es bis weit in die Barockzeit bleiben. Der Export nach Böhmen, Polen oder gar Russland versprach guten Gewinn und fast alle, ob Bauern oder Bürger, Klöster oder Adel, besaßen im späten Mittelalter Weinberge im Umland. Um das Jahr 1400 produzierte man rund um Wien die gewaltige Menge von 100 000 bis 140 000 Hektolitern pro Jahr (zum Vergleich: 2020 waren es rund 25 000 Hektoliter). Angesichts solcher Dimensionen blickte man verständlicherweise stets ängstlich in den Himmel, denn dauerhaft schlechte Witterung oder heftige Hagelschauer konnten existenzbedrohend für einen großen Teil der Bevölkerung werden. Auch trachtete man danach, Konkurrenz aus dem Ausland möglichst zu unterbinden. Es war insbesondere der Wein aus Ungarn, den man fernhalten wollte und dessen Einfuhr deshalb bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts verboten war (und selbst danach noch mit hohem Zoll belegt). Nur in Ausnahmefällen – bei wohlhabenden Familien und am landesfürstlichen Hof – kredenzte man auswärtigen Wein, etwa aus Südtirol oder Italien. In Wien gab es mit der Stadttaverne zwischen Bäckerstraße und Sonnenfelsgasse nur eine einzige privilegierte Gaststätte, die solche importierten, »welschen« Produkte zu entsprechenden Preisen ausschenken durfte.

    Der heimische Wein war hingegen eine Art Grundnahrungsmittel. Berechnungen zufolge lag der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 1,3 Litern – zweifellos eine große Menge, doch war der Genuss von Wein in einer mittelalterlichen Stadt sicherlich gesünder als das Trinken von Wasser aus den oft keimverseuchten Hausbrunnen. Auch war der Alkoholgehalt in früheren Zeiten weit niedriger als heute; überhaupt ähnelte der Wein nur bedingt dem, den wir heute kennen. Er dürfte viel mehr Säure enthalten haben, weshalb man ihn kräftig mit Honig, Safran, Kräutern oder Ähnlichem vermischte, ebenso wie man Speisen, je nach seinen finanziellen Möglichkeiten, gerne kräftig würzte.

    Außer den von Klöstern betriebenen Gastkellern gab es in der Stadt unzählige Trinkstuben – immerhin besaßen alle Bürger Wiens grundsätzlich das Recht des »Leitgebens«, also eine Schanklizenz. Ausdrücklich hieß es in der 1403 erlassenen Verordnung: »es sol jedermann in sein selbs haus schenken und sol nicht mer darauf geben als prat und zvival und schleich.« Zum Wein durfte man demnach nichts anderes servieren als Brot, Zwiebel und Knoblauch. Der Grund: Die Trinkstuben sollten den Wirtshäusern keine Konkurrenz machen. Schon damals war es üblich, mit Tannenreisig »auszustecken«, also die potenzielle Kundschaft auf seine Ausschank aufmerksam zu machen (hier liegen die Ursprünge des Heurigen, nicht erst in der Zeit Kaiser Josephs II.). Neben diesen erlaubten Lokalen gab es freilich auch die illegalen »Winkeltavernen«, in denen sich oft zwielichtige Kundschaft aufhielt und die zum Ärger der Konkurrenz keine Steuern abführten.

    Die große Zeit des Wiener Weinbaus dauerte bis um 1700, danach nahmen sowohl Anbau als auch Konsum kontinuierlich ab. Damals, als die direkte Bedrohung durch die Osmanen endgültig vorbei war, entstanden außerhalb der Stadtmauern all die prächtigen Sommerpalais des Adels mit ihren großzügig angelegten Gärten. Die Weinberge schwanden dementsprechend, auch weil man mehr Ackerflächen für die immer weiter anwachsende Stadt benötigte. Weiters trat jetzt vermehrt ein Getränk als Konkurrent auf, das bislang eine eindeutig untergeordnete Rolle gespielt hatte: das Bier. Je besser und somit teurer der Wein wurde, desto mehr stellte es vor allem für ärmere Gesellschaftsschichten eine Alternative dar. Um 1730 betrug der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch noch 160 Liter Wein und 65 Liter Bier, im Jahr 1780 war das Verhältnis 140 : 127, und im 19. Jahrhundert löste das Bier endgültig den Wein als Hauptgetränk der einfachen Bevölkerung ab.

    Zu jener Zeit galten bereits die von Kaiser Joseph II. in den frühen 1780er-Jahren erlassenen Regeln: Er gestattete »jedermann die Freyheit, die von ihm selbst erzeugten Lebensmittel, Wein und Obstmost, zu allen Zeiten des Jahrs, wie, wann und in welchem Preise er will, zu verkaufen oder auszuschenken«. Das galt für alle Kronländer der Monarchie und bildete die rechtliche Grundlage der Heurigen und Buschenschanken, wie wir sie heute kennen.

    So wie es heute beim Schloss Schönbrunn einen Heurigen mit dem Namen »Joseph II.« gibt, erinnert in Heiligenstadt, einem der alten Weinorte Döblings, seit 1894 die Probusgasse an den eingangs erwähnten Kaiser. Das in den späten 1950ern erbaute Haus Nummer 14–16 ist mit einem Mosaik geschmückt, das neben Romulus und Remus mit der Wölfin auch Probus zeigt – ihm zu Füßen steht eine Amphore und in Händen hält er eine Weintraube.

    2Das Werden einer Hauptstadt – die große Stadterweiterung unter den Babenbergern

    1., Denkmal Heinrich II. Jasomirgott, Schottenstift, Freyung

    Ist von der Stadterweiterung Wiens die Rede, denken wir zuerst an das 19. Jahrhundert, als man auf Befehl Kaiser Franz Josephs die alten Basteien, Mauern und Tore abtrug, um an ihrer Stelle den prächtigen Boulevard der Ringstraße anzulegen. Wien wurde nun mit den alten Vorstädten vereinigt und entwickelte sich zur modernen europäischen Metropole. So bedeutsam dieser Schritt auch war, es gab bereits lange zuvor eine erste große Erweiterung Wiens, die – für damalige Verhältnisse – noch viel bedeutendere Veränderungen mit sich brachte. Durch sie setzte im 12. Jahrhundert, in der Regierungszeit der Babenberger-Herzöge, die eigentliche Stadtwerdung erst ein.

    Bis dahin bestand Wien bloß aus einer wehrhaften Siedlung auf dem Areal des einstigen römischen Kastells Vindobona, machte also nur einen kleinen Teil des heutigen 1. Bezirks aus. Umschlossen war sie von einer Mauer, die in etwa den heutigen Straßenzügen Graben, Naglergasse, Tiefer Graben, Salzgries und Rotenturmstraße folgte. Innerhalb dieser Umfriedung fanden sich um 1100 bereits zwei Marktplätze und zwei Kirchen (St. Peter und St. Ruprecht), und außerhalb gab es einige durch Zäune und Gräben geschützte »Vororte«, wie etwa im Bereich zwischen Bäckerstraße und Sonnenfelsgasse oder rund um die alte Michaeler-kirche. Aus dieser doch noch sehr überschaubaren Siedlung machten die Babenberger in den kommenden Jahrzehnten eine echte Stadt, die ihre erste große Blütezeit erlebte, ja in die erste Riege des Heiligen Römischen Reiches aufstieg.

    Den Anfang machte Heinrich II. Jasomirgott, der 1156 durch das berühmte »Privilegium minus« zum ersten Herzog Österreichs aufstieg. Statt Klosterneuburg, der alten Residenz, erkor er Wien zu seiner neuen Hauptstadt. Am Hof ließ er seinen Herzogssitz errichten, ganz in der Nähe zu jenem Benediktinerkloster, das er kurz zuvor gegründet hatte, dem Schottenstift. Dieses älteste (und seither durchgehend bestehende) Kloster Wiens wurde rasch zur Keimzelle eines neuen Viertels mit Wohnhäusern, Wirtschaftshöfen und Stallungen. Allerdings befand es sich damals noch außerhalb der alten Mauern, so wie auch jenes Viertel, das sich zur gleichen Zeit auf der anderen, der östlichen Seite Wiens entwickelte. Dort war 1147 eine kleine romanische Kirche geweiht worden, St. Stephan, der spätere Dom.

    Die Residenzstadt der Babenberger Mitte des 12. Jahrhunderts. Schottenstift und St. Stephan wurden später durch die neue Stadtmauer umschlossen.

    Je dichter das Areal in und um Wien verbaut wurde, desto dringender wurde die Notwendigkeit einer neuen Stadtmauer, hinter der alle Bürger ein geschütztes Leben führen konnten. Ab den 1180er-Jahren begann man, dieses Großbauprojekt durchzuführen. Die alte Mauer riss man nieder und füllte gleichzeitig auch den davor liegenden Graben auf, der seit römischen Zeiten bestanden hatte. Weit außerhalb zog man jetzt einen neuen Befestigungsgürtel um die Stadt: Dort, wo sich heute die Ringstraße befindet, umschloss er Wien, dessen Fläche sich somit auf einen Schlag fast verfünffachte.

    Dass all die dafür notwendigen Arbeiten viel Geld verschlangen, liegt auf der Hand, doch Heinrich Jasomirgotts Sohn, Leopold V., sorgte dafür, dass die Kassen gut gefüllt waren. Das Lösegeld für den englischen König Richard Löwenherz, das er sich mit dem Kaiser teilen durfte, betrug nicht weniger als 100 000 Mark, das hieß, Leopold erhielt über elf Tonnen Silber! Höchstwahrscheinlich ging damit auch die Gründung der Wiener Münzstätte einher, wo ab nun der »Wiener Pfennig« geprägt wurde, der zur Leitwährung des Herzogtums Österreich wurde.

    Die neue Ringmauer hatte eine Länge von dreieinhalb Kilometern, verfügte über sieben Tore sowie 19 Türme, nutzte aber freilich nur dann etwas, wenn sie auch bewacht und verteidigt werden konnte. Das Gebiet der nunmehr vergrößerten Stadt teilte man daher in vier Viertel ein und verpflichtete deren Bewohner für den Notfall zum Waffendienst in ihrem jeweiligen Abschnitt. Erst ab dem 15. Jahrhundert wurde diese Aufgabe an Spezialisten, also an Söldner, ausgelagert.

    Auch nach 1200 ging der musterhafte Ausbau der Stadt weiter, unter der Regierung Herzog Leopolds VI. So wie sein Vater und sein Großvater zeigte er sich Wien stets eng verbunden und führte konsequent fort, was diese begonnen hatten. Letzte Arbeiten an der neuen Befestigung wurden abgeschlossen und gleichzeitig wichtige Impulse für das Wirtschaftsleben gegeben, das sich damals rasant entwickelte. Leopold förderte gezielt die Zünfte, immer mehr traten nun die Handwerker als selbstbewusste Bürger auf. Besonderes Augenmerk legte man auch auf den Handel, das Rückgrat einer funktionierenden, florierenden mittelalterlichen Gemeinde.

    Während man die beiden kleinen alten Marktplätze sukzessive verbaute, legte man planmäßig neue an. An erster Stelle ist hier der Hohe Markt zu nennen, der Jahrhunderte hindurch der wichtigste und größte der Stadt bleiben sollte (das Gerichtsgebäude, die »Schranne«, errichtete man hier allerdings erst später). Die Nähe zum stadtnahen südlichen Donauarm, wo die Handelswaren aus dem Westen angeliefert wurden, gab ihm zusätzliche Bedeutung. Hier war auch der Fischmarkt angesiedelt, den es zwar – ebenso wie den einst dazugehörenden großen Brunnen – längst nicht mehr gibt, an den aber das kleine Gässchen mit dem Namen »Fischhof« noch erinnert. Wenig später entstand auf bislang unverbautem Areal der Neue Markt, auch er sehr verkehrsgünstig gelegen, an jener Strecke, die in Richtung Süden führte, der Kärntner Straße. Deren Wichtigkeit stieg enorm durch die Tatsache, dass mittlerweile (seit 1192) die im Süden liegende Steiermark ebenfalls zum Herrschaftsgebiet der Babenberger gehörte.

    Im Wirtschaftsleben spielten auch die zahlreichen Niederlassungen von Klöstern eine große Rolle, die nicht nur als eine Art diplomatischer Vertretungen in Wien fungierten, sondern wo man auch deren landwirtschaftliche Produkte feilbot, allem voran Wein. Der Hof des von den Babenbergern gegründeten Stifts Heiligenkreuz entstand um 1200 und existiert noch heute (wenngleich im Barock komplett umgebaut). Aus jener Zeit stammte der große Freisingerhof am Graben, der aber im 18. Jahrhundert abgerissen wurde. Auch die Höfe von Göttweig, Melk, Zwettl und anderen Klöstern sind nicht mehr erhalten.

    Unter den Babenbergern erlebte aber auch Wien selbst eine wahre »Klosteroffensive«. In die anwachsende Stadt zogen etwa die Dominikaner sowie der damals ganz neue Bettelorden der Minoriten. Leopold VI. hatte sich persönlich an deren Gründer Franz von Assisi mit der Bitte gewandt, einige seiner »minderen Brüder« nach Wien zu senden, wo ihnen nahe der neuen Stadtmauer ein (bis heute bestehendes) Kloster gestiftet wurde.

    Mit seinem Plan, St. Stephan zum Sitz eines eigenen Bistums zu machen, hatte Herzog Leopold allerdings keinen Erfolg, denn der Widerstand des Passauer Bischofs, der auf seinen Einfluss im Wiener Raum nicht verzichten wollte, war zu groß. Mit der Verleihung des Stadtrechts von 1221 aber schuf Leopold einen wahren Meilenstein in der Wiener Geschichte. In diesem Dokument war nämlich das »Stapelrecht« enthalten, das den eigentlichen Aufstieg der Wiener Kaufmannschaft begründete. Hatten bislang Handelsherren aus Regensburg, Passau oder Schwaben die hiesige Wirtschaft dominiert, so wurde den Wienern nun das höchst einträgliche Monopol für den Zwischenhandel (speziell mit Ungarn) garantiert.

    In wenigen Jahrzehnten hatten die Babenberger-Herzöge also Gewaltiges für die Entwicklung Wiens verwirklicht. Sichtbare Zeugnisse ihrer Tätigkeit sind jedoch kaum vorhanden, denn ihre Residenz am Hof steht nicht mehr, ebenso wenig wie die alte Stadtmauer. Das Denkmal für Herzog Heinrich Jasomirgott an der Schottenkirche erinnert allerdings an jene Zeit, in der Wien zur Hauptstadt Österreichs wurde.

    3Der Heiltumstuhl – Reliquienverehrung im Mittelalter

    1., Rotenturmstraße

    Gemessen daran, was die spanischen Habsburger im Laufe der Zeit zusammentrugen, nahmen sich die Hunderten Wiener Reliquien geradezu bescheiden aus. König Philipp II. hatte im Escorial nicht weniger als 9000 untergebracht, darunter Arm- und Beinknochen, Zähne, Haarlocken und Fingernägel, über 100 Schädel, mehrere Wirbelsäulen sowie sechs vollständige Skelette von Heiligen. Auch wenn diese Reliquienverehrung heute vor allem viele Nichtkatholiken als unverständliches, makabres Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten anmutet, sollte man sie dennoch nicht vorschnell als abergläubischen »Kram« abtun (wie Luther es getan hatte): Die Beschäftigung mit Reliquien ermöglicht einen hochinteressanten Blick in unsere Kulturgeschichte.

    Natürlich: Mit aufklärerischer Logik allein kommt man auf diesem Feld nicht weit. Dass die »heilige Vorhaut« Christi im Mittelalter gleich mehrfach auftauchte und verehrt wurde und auch dessen vermeintliche Nabelschnur und seine Milchzähne in Kirchen zu sehen waren, löst verständlicherweise skeptisches Kopfschütteln aus – selbst der Vatikan erklärte solche »Reliquien« für unseriös und unecht. Auf eine plausible Erklärung kam es aber gar nicht an, ihre Bedeutung erwuchs vielmehr einzig und allein aus dem Glauben. In einer Welt, in der man sich von Krieg und Hunger, Krankheiten, Überschwemmungen und nicht zuletzt vom stets präsenten Teufel bedroht sah, suchte man Trost und Hoffnung, und alles, was einen die Gegenwart Gottes spüren ließ, war höchst willkommen. Heiliggesprochene Männer und Frauen, so die mittelalterliche Denkart, waren zu ihren Lebzeiten gleichsam Werkzeuge Gottes gewesen. Die körperliche Nähe zu Heiligen brachte die Gläubigen somit ebenfalls näher an Gott heran, und selbst deren Überreste schufen noch eine sichtbare, »begreifbare« Verbindung zur himmlischen Sphäre. Jedes noch so kleine Fingerknöchelchen hatte das Potenzial, zur Kraftquelle der Lebenden zu werden.

    Besonders hoch im Kurs stand naturgemäß alles, was einst in direkten Kontakt zu Jesus Christus gekommen war (oder gekommen sein soll): So werden etwa in Aachen seine Windeln aufbewahrt, in Paris die Dornenkrone, in Prüm seine Sandalen und in Wien die weltberühmte Heilige Lanze. Solche Objekte stellten einen enormen Wert dar, sowohl in spirituellem als auch in ganz profanem Sinn. Die immer aufwendiger und kostbarer gestalteten Reliquiare aus Gold, Silber, Kristall, häufig über und über mit Edelsteinen besetzt, standen in Kontrast zu ihrem Inhalt, oft kleinen, wenig ansehnlichen Knochen oder auch nur Knochensplittern.

    Für Fürsten und Monarchen des Mittelalters steigerte der Besitz einer möglichst großen Zahl an Reliquien ihr Prestige und verlieh ihnen, den Herrschern »von Gottes Gnaden«, zusätzliche Legitimität. Neben dem eingangs erwähnten Philipp II. von Spanien gab es auch in Österreich berühmte Reliquiensammler, wie etwa Herzog Rudolf IV. (»der Stifter«). Nicht zuletzt war der Handel mit Reliquien ein einträgliches Geschäft. Streng genommen verbot die Kirche zwar deren Verkauf (nur das Verschenken war offiziell gestattet), dennoch verdienten spezialisierte Händler hervorragend damit. Oft waren es schlicht Grabräuber, die in Grüfte einbrachen, um Knochen zu plündern. Besonders nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 überschwemmten die aus den dortigen Kirchen geraubten Reliquien Europa. Wer so etwas verwerflich fand, bekam von den Dieben eine schlichte Antwort: Hätten die toten Heiligen etwas dagegen gehabt, ihren Gräbern entrissen zu werden, dann hätten sie sich schon bemerkbar gemacht.

    Während die Reliquiensammlung der österreichischen Herzöge in der Burgkapelle (später in der Schatzkammer der Hofburg) aufbewahrt wurde, verfügte auch St. Stephan über eine ansehnliche Zahl an »Heiltümern«. Diese bildeten gemeinsam mit wertvollen Monstranzen, Kelchen und goldbestickten liturgischen Gewändern den Kirchenschatz. Dieser sollte freilich nicht versteckt von der Öffentlichkeit existieren, im Gegenteil: So wie es in vielen anderen Städten des Heiligen Römischen Reiches üblich war, beschloss man, einmal im Jahr sämtliche Reliquien den frommen Schaulustigen zu präsentieren. Während man anderswo mit hölzernen Tribünen vorliebnahm, die man bald wieder abbauen konnte, verfügte Wien sogar über ein eigenes, gemauertes Gebäude, das einzig zu diesem Zweck errichtet wurde. Zwischen 1483 und 1485 erbaute man diesen »Heiltumstuhl« ungefähr dort, wo die Rotenturmstraße in den Stephansplatz mündet. Auf zeitgenössischen Abbildungen ist er gut zu erkennen: ein großer Torbogen mit aufgesetztem ersten Stock und einer Reihe offener, spitzbögiger Arkaden. Hier fand nun alljährlich die »Heiltumsweisung« statt, eingebunden in ein großes Volksfest.

    Der große Tag war mit dem ersten Sonntag nach Ostern festgelegt: In der Stephanskirche, die erst kurz zuvor (1469) zum Dom des Wiener Bistums geworden war, zelebrierte man zunächst eine Festmesse in Anwesenheit des Landesherrn, des Adels, des Bischofs und vieler anderer geistlicher und weltlicher Würdenträger. Anschließend trug man die im Dom aufbewahrten Reliquien in feierlicher Prozession durch das Riesentor hinaus zum Heiltumstuhl. Vor diesem wartete bereits die Menschenmenge. Abertausende kamen an einem solchen Tag zusammen, viele waren eigens von weit her angereist, um die Präsentation der Reliquien miterleben zu können – immerhin versprach die Kirche dafür den Ablass von Sünden. Jetzt trat ein Priester an eines der offenen Fenster und hielt jedes einzelne Objekt gut sichtbar in die Höhe. Neben ihm stand ein weiterer, der über eine besonders laute Stimme verfügen musste, der sogenannte Vocalissimus. Seine Aufgabe war es, die Zuschauer darüber zu informieren, welche Reliquie sie gerade zu sehen bekamen. Unter dem Absingen geistlicher Lieder brachte man danach alles wieder in den Dom, um es sicher für das kommende Jahr zu verwahren.

    Auch zu Weihnachten spielte der Heiltumstuhl eine Rolle, genauer gesagt, frühmorgens nach der Christmette. Da wurde der »Wolfssegen« erteilt, indem der Priester den Anfang des Matthäus-Evangeliums sang (»Stammbaum Christi«). Diesen Worten schrieb man eine abschreckende Wirkung auf Wölfe zu, die in harten Wintern bis an den Rand der Stadt vordrangen und die Menschen in Unruhe versetzten.

    Der Heiltumstuhl, von dessen Fenstern alljährlich der Reliquienschatz von St. Stephan öffentlich präsentiert wurde

    Bis in die 1520er-Jahre hielt die große Bedeutung des Heiltumstuhls an, so lange, bis ein großer Teil des Domschatzes während der Türkenkriege eingeschmolzen wurde. Mit den Tausenden Goldgulden, die man dadurch lukrierte, finanzierte man die Bevorratung der Stadt während der Ersten Türkenbelagerung sowie die Verstärkung der Stadtmauern. Gleichzeitig begann das Zeitalter der Reformation, die auch in Wien auf fruchtbaren Boden fiel und den einst blühenden Reliquienkult zurückdrängte. Den Heiltumstuhl verwendete man nun für andere Zwecke, bis er als überflüssig gewordenes Verkehrshindernis vermutlich im Jahr 1699 abgerissen wurde.

    So wie die Geistliche Schatzkammer der Hofburg verfügt auch der Stephansdom heute noch über eine große Zahl sehenswerter Reliquien. Seit über 100 Jahren werden sie in der einstigen Valentinskapelle aufbewahrt, darunter ein Teil des Tischtuchs vom Letzten Abendmahl – sofern man daran glaubt.

    4Straßennamen der Innenstadt als Fenster in die Vergangenheit

    1., Bäckerstraße u. a.

    Keine Straße, kein Platz, keine noch so kleine Gasse des Mittelalters ist unverändert erhalten geblieben. Die meisten Häuser wurden im Laufe der Jahrhunderte abgerissen, brannten nieder, wichen Neubauten aus Renaissance, Barock oder Gründerzeit, und mit ihnen verschwanden auch Stadttore, Kirchen und Klöster, die einst das Bild der Stadt prägten. Die Namen jener Straßen sind aber erhalten geblieben. Durch sie wird an das Vergangene erinnert, an Häuser, die nicht mehr stehen, an Menschen, die darin wohnten, an Berufe, die längst ausgestorben sind. Sie konservieren somit ein Stückchen der Wiener Kulturgeschichte und fungieren gewissermaßen als Fenster in die Vergangenheit.

    Verkehrsflächen zu benennen war spätestens seit dem Hochmittelalter üblich. Noch waren es keine offiziellen, amtlichen Bezeichnungen, sondern sie spiegelten bloß den alltäglichen Sprachgebrauch der Bevölkerung wider. Dementsprechend bezogen sie sich meist auf markante Gebäude oder spezielle Berufsgruppen, die es eben nur (oder hauptsächlich) dort gab. Bei einem Spaziergang durch die Innere Stadt lässt sich also unschwer herausfinden, wo Bäcker, Goldschmiede, Bogner, Riemer, Färber, Seiler, Hafner und Essighändler ihre Betriebe hatten, gaben sie doch alle den entsprechenden Adressen ihren Namen. Diese Liste ließe sich noch länger fortsetzen, und in früheren Jahrhunderten gab es sogar noch viel mehr Berufe, nach denen Verkehrsflächen benannt waren. Manchmal muss man allerdings die Fantasie anstrengen, um sie zu identifizieren, denn manche Begriffe wurden im Laufe der Zeit stark verballhornt. Die Wipplingerstraße etwa hieß ursprünglich Wildwerkerstraße, nach den hier ansässigen Kürschnern, die Schultergasse nach den Schiltern (den Schildermalern, s. Kapitel 25) und im Haarhof boten die Händler von Flachs (Haar genannt) ihre Ware an.

    Dass zahlreiche Gassen und Plätze nach den heute noch dort stehenden Kirchen und Klöstern benannt sind, überrascht nicht, doch verbergen sich hinter manchen Adressen auch solche, die es längst nicht mehr gibt. Die Reformen Kaiser Josephs II. gingen an Wien nicht spurlos vorüber, zahlreiche Klöster wurden damals aufgelöst. Namen wie Laurenzerberg, Dorotheergasse, Jakobergasse oder Nikolaigasse blieben jedoch erhalten und verweisen bis heute auf sie, beziehungsweise auf jene Heiligen, denen sie geweiht waren. An dieser Stelle sei die Himmelpfortgasse

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