Dramatisch lesen: Wie über neue Dramatik sprechen?
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Über dieses E-Book
Sie sprechen über verschiedene Leseweisen von Texten, über das Verhältnis von Text und Theater, von Schreibenden und Lesenden im Spannungsverhältnis zwischen eigenständiger literarischer Gattung und Gebrauchstext. So gerät der Theatertext als eine Schule des dialogischen Denkens in den Blick, frei von dem Anspruch unmittelbarer Verwertbarkeit für die Bühne – (eine) Poetik des Dramas.
Mit Beiträgen von Charlotte Bomy, Karin Cerny, Teresa Dopler, Natascha Gangl, Andrea Glauser, Thomas Köck, Teresa Kovacs, Christoph Leibold, Wolfram Lotz, Sascha Michel, Fiston Mwanza Mujila, Katrin Pahl, Ewald Palmetshofer, Martin Schäfer, Ferdinand Schmalz, Brigitte Schwens-Harrant, Gerhild Steinbuch, Miroslava Svolikova, Christine Wahl und Ivna Zic.
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Buchvorschau
Dramatisch lesen - Verlag Theater der Zeit
Ferdinand Schmalz
Einleitung
Der Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Zäsur, die der erste coronabedingte Lockdown gesetzt hat. Man war auf sich selbst zurückgeworfen; die Theater waren vorerst geschlossen und auch der Probenbetrieb wurde fürs Erste eingestellt. Das Theater im künstlichen Tiefschlaf. Irgendwann kam dann das Gefühl auf, dass man diese Zwangspause auch nutzen könnte, um zu rekapitulieren, was in den letzten Jahren passiert ist. Wo steht die neue Dramatik heute? Um vielleicht auch Schlüsse zu ziehen, wie es weitergehen könnte. Daraus ist ein Dialogprojekt zwischen Dramatiker:innen und Wissenschaftler:innen entstanden. Gespräche, die der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis Text und Theater, Schreibende und Lesende zueinander stehen. Wie über Dramatik sprechen? Welches analytische Instrumentarium brauchen wir? Kann man den Theatertext vielleicht als eine Schule des dialogischen Denkens begreifen?
Als Erstes also in die Archive. Wie bildet sich das dramatische Schaffen in den wissenschaftlichen Diskursen ab? Die Recherche in den Bibliotheken ist allerdings eher ernüchternd, man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich in den letzten fünfzehn Jahre wenig in der Gegenwartsdramatik getan hat. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, selten gab es ein so breites Spektrum an ästhetischen Positionen, an unterschiedlichen Arbeitsweisen, an verschiedenen Textformen im Theater. Und auch die gegen Ende der nuller Jahre etwas lauter gewordene Kritik, die diversen Autor:innenförderprogramme brächten viel zu viele, aber wenig nachhaltige Theaterautor:innen hervor, ist schnell verstummt, nachdem sich aus den vielen auch viele beständige Karrieren entwickelt hatten, nachdem die Texte immer wieder die Ästhetiken und die Diskurse im Theater mitbestimmt hatten, nachdem auch Autor:innen Verantwortung in den Theaterstrukturen übernommen hatten, nachdem sich vielerorts ein wachsendes Publikum gefunden hatte, das ein neues Stück einem kanonisierten Klassiker vorzog.
Aus diesem Gefühl des Reflexionsrückstandes heraus haben wir, das heißt Edith Draxl, Eva-Maria Voigtländer und ich, uns überlegt, wie wir in einer Zeit, in der wir zwar nicht in die Theater gehen, doch über das Theater nachdenken können, oder besser, über den Text im Theater, in seiner ambivalenten Position als Teil dieses größeren Komplexes namens Theater, aber auch als eigenständige literarische Form. Denn aus der praktischen Erfahrung in den Leseproben, aber auch in den zahlreichen Textwerkstätten des Drama Forums Graz und Lektüreseminaren haben wir das Lesen von Theatertexten, ob mit verteilten Rollen oder allein, ob laut oder im Stillen, immer als große Bereicherung erfahren, während in der öffentlichen Wahrnehmung das Drama hinter den Gattungen der Prosa und Lyrik etwas zurücksteht. Was unterscheidet die Lektüre eines Theatertextes von den Leseerfahrungen in anderen Gattungen? Indem der Theatertext immer schon eine offene Form ist, die auf unterschiedliche Weise auf einen weiteren künstlerischen Produktionsprozess hin ausgerichtet ist, ist er immer auch eine Einladung zu einer anderen Art der ästhetischen Kommunikation. Fernab der Dialoge auf der Bühne eröffnen Theatertexte immer einen größeren Dialog, der sich über die Grenzen der an einer Aufführung beteiligten Kunstgattungen hinweg spannt. In diesem Sinn war es für uns nur konsequent, auch für unser Projekt eine dialogische Form zu suchen. Die von uns zusammengestellten Dialogpaare tauschten sich über diese Fragen aus, sei es in nachträglich transkribierten Gesprächen, in Mailkorrespondenzen oder in Essays und Gegenessays, um so eine Verortung des Theatertextes in der zeitgenössischen Theaterlandschaft zu skizzieren. Und so soll dieses Projekt von uniT Graz auch ein Anstoß sein, wieder mehr Stücke zu publizieren, zu lesen und zu diskutieren, denn am Theatertext in seiner genuin vielstimmigen Form lässt sich so etwas wie ein pluralistisches Denken schulen.
Wir haben also Dialogpaare aus Theaterautor:innen und Wissenschaftler:innen bzw. Kritiker:innen zu einem Austausch gebeten. Zuerst per Videokonferenz, Telefon und Mail. Dann auch in Graz beim Dramatiker:innenfestival wieder in voller Präsenz. Diese Dialoge sind in konkrete Texte eingeflossen, die nun hier abgedruckt sind und so auch zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik einladen sollen.
Teresa Dopler
Monte Rosa
Dichte Dunstwolken liegen in den Tälern, die Gletscher sind abgeschmolzen, und nur hoch oben in den Alpenmassiven sind noch Bergsteiger unterwegs. Gut trainiert und bestens ausgerüstet sind sie immer auf dem Weg zum nächsten Gipfel, dorthin, wo die Luft am saubersten ist. Drei von ihnen begegnen sich unterwegs, man scannt freimütig Gesundheit, Alter und Fitness, um den Wert des Gegenübers zu ermessen und eventuell eine vorübergehende Partnerschaft auszuhandeln. Schnell wird klar, dass hier fragwürdige Werte und eigenartige Umgangsformen gelten. Die Vergangenheit und alles abseits der Berge scheint vergessen, auch Gesichter merkt sich hier niemand mehr, und über den Tod des eigenen Partners im Steinschlag kommt man schnell hinweg.
Bbist du immer alleine unterwegs
Anein, für gewöhnlich nicht
Bes ist ungewöhnlich, dass ein Bergsteiger alleine unterwegs ist
Adas stimmt, vor einiger Zeit habe ich jemanden getroffen, am Anfang dachte ich, das könnte ein Partner für mich sein
Bwo habt ihr euch getroffen
Ain den Dolomiten
Bdie bleichen Berge, herrlich
Akennst du die Dolomiten gut
Bja, dort bin ich immer wieder mal unterwegs
Awir haben uns auf der Punta Penia getroffen und sind dann noch gemeinsam über den Westgrat-Klettersteig abgestiegen
Bwarum wurde er doch nicht dein Partner
Aer war etwas zu alt
BWie alt war er
Aich erinnere mich nicht genau, im Grunde war er noch jung, aber dann habe ich bemerkt, dass er vielleicht doch schon zu alt ist
Bam Anfang merkt man es manchmal nicht, man muss erst ein paar Touren miteinander gehen (lacht)
Awie wahr (lacht)
Bich hatte vor Kurzem einen Partner, leider war er nicht mehr besonders gut in Form
Awo habt ihr euch kennen gelernt
Bin den Berner Alpen
Adie Berner Alpen, herrlich
Bwie gesagt, er war nicht mehr besonders gut in Form, wir haben uns irgendwann verabschiedet
Adas kann passieren
Bja, das passiert immer wieder
Awenn, dann hätte ich lieber einen sehr jungen kräftigen Partner (lacht)
Bdu siehst noch relativ jung aus (lacht)
Adu auch (lacht)
Bwie lange lebst du schon
Afast 30 Jahre
Baußerdem war er noch nie am Matterhorn
Awer
Bder Andere, den ich in den Berner Alpen kennen gelernt habe
Aer war noch nie am Matterhorn?
Bnein, noch nie, er hat gesagt, das ist ihm zu steil
Awie absurd (lacht)
Baber ich wollte wieder aufs Matterhorn, dann haben wir uns verabschiedet (lacht)
Adas verstehe ich, ich würde auch niemals aufs Matterhorn verzichten
Bich bin ständig am Matterhorn
Aich auch, im Grunde die ganze Zeit
Berst letzte Woche war ich wieder am Matterhorn
Aich war erst gestern
Bkennst du das neue Refugium dort
Anatürlich, es ist das beste Refugium, das ich kenne
Bes ist jetzt das höchstgelegene Refugium in den Alpen
Aich weiß, ich war ja erst gestern dort
Bes wirkt ungewohnt von außen
Adas stimmt, sehr modern
B(bückt sich)
Bgerade habe ich mir überlegt, ob du mein Partner sein könntest
Adas habe ich mir auch gerade überlegt
Beinmal vorübergehend, zumindest bis zum nächsten Gipfel
Aja, das könnte vielleicht passen
Bes ist immer von Vorteil, einen Partner zu haben
Adas stimmt, vor allem in den Bergen
Bkannst du gut sichern an der Wand
Aja, ich bin sehr konzentriert
Bdeine Beinmuskulatur gefällt mir
Adanke, es freut mich, wenn sie dir gefällt
Bdein Plattsehnenmuskel ist besonders schön ausgeprägt
Adas kommt vom Bergsteigen (lacht)
Bich weiß, aber so schön ausgeprägt habe ich ihn selten gesehen
A(lacht)
Bgefalle ich dir auch
Aich mag deine Oberarme
Bjetzt spanne ich sie an
Aich dachte, sie wären schon angespannt (lacht)
Bnein, so sehen sie aus, wenn ich sie anspanne
A(lacht)
Bdeine Oberarme wirken auch sehr kräftig
Adanke
Bkann ich auch alles andere sehen
Awillst du es jetzt sofort sehen
Bja, wenn das in Ordnung für dich ist
Anein, es macht mir nichts aus
Bam besten ist es, wenn man es gleich zu Beginn sieht
Adas finde ich auch, es ist am besten, das gleich zu Beginn zu klären
Bes gefällt mir bestimmt (lacht)
A(lacht)
Balso wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich dich gerne jetzt sofort ansehen
Ain Ordnung, es macht mir nichts aus (zieht sich aus)
Bdu hast einen gut trainierten Oberkörper
Aja, darauf lege ich sehr viel Wert (lacht)
Bes sieht noch besser aus, als ich erwartet hatte
Adas freut mich
Bdu siehst sehr kräftig aus, du bewegst dich viel, habe ich Recht
Aja, natürlich, ich bin ein Bergsteiger, ich bewege mich die ganze Zeit
Bdein Hintern ist überdurchschnittlich groß
Aist das schlecht
Bnein, aber es wäre schlecht, wenn er noch größer werden würde
Anatürlich, das verstehe ich
Ber ist jetzt nicht zu groß, aber er könnte schnell zu groß werden
Adas wäre nicht gut, auch für das Bergsteigen
Bja, auch für das Bergsteigen
Awas ist mit dir
Bwillst du mich auch sehen
Aja, wenn das für dich in Ordnung ist
Bnein, es macht mir nichts aus (zieht sich aus)
Aich mag es, dass du groß bist
Bja, ich bin größer als die meisten (lacht)
Aaber deine Haltung ist nicht ganz aufrecht
Bdas liegt vielleicht an meinem Rucksack
Anein, es ist etwas anderes, es liegt nicht an deinem Rucksack
Bich kann in Zukunft darauf achten
Adas wäre gut, man sollte immer auf seine Körperhaltung achten, es spiegelt die innere Haltung wider
Bdu hast Recht, man sollte auf eine aufrechte Haltung achten
Adu musst die Schultern weiter zurückziehen, so (lacht)
Bdeine Schultern wirken nicht sehr breit
Asie sind nicht besonders breit, aber sehr kräftig
Bam besten finde ich es, wenn die Schultern sehr breit sind
Amanche haben breitere Schultern, aber niemand kann so viele Liegestütze wie ich (lacht)
Bwie viele Liegestütze kannst du
Awenn ich einmal damit anfange, kann ich nicht mehr damit aufhören (lacht)
B(lacht)
A(bückt sich)
Bseit wir nebeneinander gehen, bückst du dich immer wieder
Atut mir leid, das ist eine schlechte Angewohnheit (lacht)
Bwarum tust du das, hast du Rückenprobleme
Anein (bückt sich)
Bschon wieder (lacht)
Aich bücke mich nur manchmal, um Steine aufzuheben
BSteine
Auszüge aus: Teresa Dopler, Monte Rosa © 2020 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH
Christine Wahl
Vom Glück, überrascht zu werden
Zur Lektüre von Teresa Doplers Monte Rosa
Insgesamt werden im deutschsprachigen Theaterraum – also großflächig zwischen Wien, Bern und Berlin – pro Spielzeit ungefähr einhundertfünfzig neue Theatertexte uraufgeführt. Wenn man sie hauptberuflich alle liest, ist man – gemessen an der guten alten gewerkschaftlichen Vierzig-Stunden-Woche und bei entsprechend ordnungsgemäßem Abzug eines Urlaubsmonats – komplette sechs der 48 jährlichen Arbeitswochen allein mit dem dramatischen Lesen beschäftigt. Und wo ein ganzes Achtel der Jahreserwerbszeit in die Lektüre druckfrischer Theatertexte fließt – wobei das sogar eher noch tief gestapelt ist, weil es lediglich einen Durchschnittswert von neunzig Minuten pro Text einkalkuliert –, bleibt es naturgemäß nicht aus, dass man eine Menge aus ihnen erfährt: über die Kunst und über das Leben, über Gesellschaftstrends und Bühnenmoden, über die Debattenhits des Jahres und die Flops der Saison. Es gibt aufschlussreiche Recherchen, lohnende Analysen und gewitzte Figuren – alles in allem also: 225 Stunden quality working time.
Nur eine Sache passiert unter den genannten Umständen wirklich selten. Nämlich dass man ernsthaft überrascht wird. (Diesen singulären Nachteil bringt die wachsende Leseerfahrung wohl oder übel mit sich; da dürfte es den Dramatikerinnen und Dramatikern mit dem Verblüffungsquantum angesichts unserer Kritiken sehr ähnlich gehen.)
Teresa Doplers Monte Rosa war nun aber eine solche Überraschung.
Der Titel, der – wie Wikipedia zuverlässig erklärt – »ein ausgedehntes Gebirgsmassiv in den Walliser Alpen« bezeichnet, dessen Hauptspitze mit 4634 Metern »den höchsten Punkt der Schweiz und auch des gesamten deutschen Sprachraums« darstellt – deutet unmissverständlich auf ein Bergsportdrama hin: Man erwartet sehnige Ehrgeizlinge im Cast sowie einen gewissen symbolischen Überschuss im Gehalt – und wird auf den ersten Textseiten lückenlos bestätigt. Zwei Figuren, die man kontextuell als Bergsteiger verortet – A und B –, treffen unterwegs augenscheinlich zufällig aufeinander, und A steigt mit der Frage, über welchen »Zustieg« B gekommen sei, in einen kleinen Bergplateau-Plausch ein, der sich im nächsten Satz, was sonst, dem Wetter zuwendet. »Heute war es sehr dunstig, ich wollte so schnell wie möglich wieder an Höhe gewinnen«, erklärt also B, und A bestätigt: »Das stimmt, in den Tälern hängt heute überall der Dunst«. – »Ja, es ist noch dunstiger als sonst«, gibt B verstärkend zurück, was A nun wiederum zu einer kleinen Relativierung veranlasst: »Wobei, so dunstig ist es auch wieder nicht«. Darauf B, einlenkend: »Nein, es war auch schon manchmal noch dunstiger«. Das ist zwar einerseits besser als Loriot, andererseits aber eben auch ein durchaus wirklichkeitsnaher Gipfelbesteigungssmalltalk – als Gelegenheitsgebirgswanderin kennt man das.
Mit wachsender Stückdauer schleichen sich zunehmend kleine Übergriffigkeiten in den Dialog. »Du hast dir Zeit gelassen« rügt die Figur A etwa die Figur B, nachdem sie zuvor eigens (hinterhältig?) deren Aufstiegstempo erfragt hatte – was subtextuell natürlich nichts anderes bedeutet, als dass der oder die A den oder die B ganz schön fitnessdefizitär findet. Und B diagnostiziert umgekehrt bei A, der oder die unbemerkt ihres Schutzhelms verlustig gegangen ist, ein alarmierendes Aufmerksamkeitsmanko: »Ich habe mich schon gewundert, wer so nachlässig ist und seinen Helm verliert«. Das liest sich großartig und unglaublich gewitzt, aber ernsthafte Verunsicherungssymptome sind auf Leserinnen-Seite bis dato nicht zu spüren: Unverändert befinden wir uns im soliden Bergetappenplauderrahmen; Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die verbale Komfortzonengrenzen überschreiten, gibts schließlich – wie überall – auch in den Walliser Alpen.
Und dann, plötzlich – wir befinden uns jetzt etwa am Ende des ersten Text-Viertels – das: Mitten in den gesitteten Smalltalk, in den Plausch über Wetterlagen, Berghelme und andere Sicherheiten hinein, fragt A B unvermittelt: »Hast du ein gutes Gebiss?«, und im Gegenzug zollt B A maximale Anerkennung für ihren schön ausgeprägten »Plattsehnenmuskel«. Da ist sie also, die willkommene Irritation: Moment mal, denkt man am Leserinnen-Endgerät, haben wir das konkrete Schweizer Gebirgsmassiv hier gerade unversehens in Richtung Metaebene verlassen? Und sind, mit einem Satz, auf dem realkapitalistischen Umschlagplatz gelandet, auf dem Humangüter andere Humangüter auf ihre Partnerschaftseignung abklopfen? Beziehungsweise, mithin, in der neoliberalen Eigenvermarktungshölle, in der ein selbstoptimiertes Ego dem anderen sein geschöntes Profil auf dem Silbertablett zu servieren (und alles Unschönbare panisch über den Tellerrand zu schubsen) versucht?
Es gibt einiges, was für diese Lesehypothese spricht. Zum Beispiel, dass es nach dem »Plattsehnenmuskel«-Dialog gar nicht lange dauert, bis A und B – schließlich ist es »am besten, wenn man das gleich zu Beginn klärt« – sich voreinander ausziehen und en détail begutachten, wobei jede Minimalabweichung vom vermeintlichen BMI-Goldstandard verbal gnadenlos ans Licht gezerrt wird: »Dein Hintern ist überdurchschnittlich groß«, lässt Figur B Figur A etwa wissen, während A wiederum an B einen besorgniserregenden Haltungsschaden diagnostiziert: »Deine Haltung ist nicht ganz aufrecht …, man sollte immer auf seine Körperhaltung achten, es spiegelt die innere Haltung wider«.
Wenn dann im zweiten Teil des Stückes sogar eine dritte Figur – C – hinzukommt, namentlich »ein Teenager« auf Seilschaftssuche, der A generös eine Partnerschaft (auf Probe, versteht sich) in Aussicht stellt und damit das Duo A/B vorübergehend aufsprengt, scheint die Sache endgültig klar: Die Monte-Rosa-Tour ist ein Gleichnis für den realkapitalistischen Lebens- und Karriereweg, auf dem man bekanntlich am besten vorwärtskommt, wenn man über das Talent verfügt, sich zum richtigen Zeitpunkt einer »Seilschaft« anzuschließen – und über »kräftige Lungen«, um mit dieser dann auch bis zum Gipfel Schritt zu halten.
Aber stopp: Da ist ja schon wieder so eine wunderbare Irritation! Nach den 225 Lesestunden des aktuellen Jahres erwartet man an dieser Stelle zum Beispiel Neoliberalismuskritik; in vielen vergleichbaren Fällen hatten die dramatischen Zeichen an diesem Punkt fifty-fifty auf suizidaler Verzweiflung oder revolutionärer Erhebung gestanden. Und in Monte Rosa? Nimmt man den Entkleidungsimperativ – welche Überraschung – mit fast schon übereifriger Bereitwilligkeit entgegen, begegnet dem anschließenden Bodycheck mit einem Pragmatismus, den affirmativ zu nennen eine handfeste Untertreibung wäre, und akzeptiert schließlich klaglos das Resultat, das der jeweils Andere in Form eines Partnerschaftswilligkeits- und/oder Karriere-Urteils verkündet. Okay: Wem hier ein Negativbescheid ums Wanderkäppi flattert – zum Beispiel in Gestalt der Teenager-Worte: »Man merkt jetzt doch, dass du älter bist, sobald eine Seilschaft auftaucht, werde ich mich verabschieden« –, dem kann schon mal eine kleine Träne ins Auge treten. Aber mehr ist definitiv nicht drin – und falls doch, dann ist das definitiv der Wind.
Sind wir also – nächste Hypothese – mit Monte Rosa ins Gebirgsmassiv derjenigen geraten, die nur deshalb weder einknicken noch ausbrechen, weil ihnen beides längst nicht mal mehr als gedankliche Möglichkeit existiert und sie all das also derart verinnerlicht haben, dass es ihnen längst zur zweiten Natur geworden ist? Ja, so ist es wohl am ehesten. Aber selbst hier gilt: Vorsicht! Denn Teresa Doplers Personal geht in derartigen Mutmaßungen nie auf. Kaum versucht man, es festzuklopfen, ist es garantiert schon wieder auf die nächste (Berg-)Ebene entwischt. A, B und C beglücken die Leserin als Kippfiguren, die souverän zwischen Konkretion und Abstraktion hin und her hüpfen. Und als solche wiederum bewohnen sie ein unglaublich weites Feld.
Vielleicht sind diese Aufstiegswilligen, bei denen es durchaus passieren kann, dass sie einen wegen mangelnder Fitness außer Rufweite geratenen Partner ohne mit der Wimper zu zucken seinem Schicksal zum Tode überlassen, ja gar keine tagesaktuellen Neoliberalismusopfer? Es gibt auch Anzeichen dafür, dass es sich möglicherweise lohnen könnte, diese weitgehend individualkonturfreien, merkwürdig geschichtslosen Wesen – die im Übrigen auch verbal niemals das Monte Rosa-Gelände verlassen – nicht wie die letzten, sondern vielmehr wie die ersten Menschen zu betrachten. Die Inbrunst – und irgendwie auch, so glaubt man jedenfalls beim Lesen zu spüren, naiv-eifrige Freude –, mit der A und B in einer Textpassage darüber diskutieren, ob es sich bei dem Naturobjekt, das sie gerade gefunden haben, um einen Stein oder eine Muschel handelt, spräche jedenfalls eher für die primäre als für die finale Homo-sapiens-Generation. Tagesaktuelle Neoliberalismusopfer müssten für diese im besten Sinne naive Entdeckerfreude jedenfalls mindestens ein paar Therapiestunden hinter sich gebracht haben.
Aber, apropos Entdeckerinstinkte: Es kann natürlich – und genau das eben ist das Schöne – alles auch noch mal völlig anders sein. Teresa Doplers Figuren sind, wie gesagt, Erscheinungen, die – so restringiert ihr Bergsteiger-Code verbal auch sein mag – erstaunlicherweise ein ganzes Universum bewohnen. Denn auf sie trifft etwas zu, was sich leicht anhört und entsprechend gern für eine bestimmte Art von Dramatik behauptet wird, de facto aber extrem schwer ist und sich auch nur in den seltensten Fällen wirklich einlöst: dass das, was sie eigentlich ausmacht, konsequent jenseits des Gesagten liegt. Um solche Textoberflächen zu schaffen, in denen die Figuren nicht etwa – um Missverständnissen vorzubeugen – nichts sagen, sondern in denen sie sich vielmehr bewusst verschweigen, muss man extrem genau sein. (Andernfalls steht hinter den Buchstaben vielleicht eine leere Behauptung, entstehen allerdings wird definitiv nichts.)
Eine wesentliche Bedingung dafür, dass solche (Denk-)Räume entstehen können, liegt natürlich darin, dass Teresa Dopler ihre Schöpfungen in keiner Silbe bewertet: In Monte Rosa ist man nicht in erster Linie so oder so, sondern man ist einfach, Punkt. Der Rest obliegt dann der Leserin. Was für ein Glück!
Natascha Gangl
Das Spiel von der Einverleibung
Frei nach Unica Zürn
EIN TRAUM
Du stehst im Raum, es ist dunkel. Du hörst eine Türe sich öffnen, und kein Körper, aber eine Stimme tritt ein. Es ist die Stimme von Ingeborg Bachmann, die sich langsam Worte sucht:
»Die Bewusstseinslage in einer Zeit … das heißt doch nicht, dass man die Sätze nachspricht … die diese Gesellschaft spricht … sondern sie muss sich anders zeigen … radikal anders zeigen, sonst würden wir nie wissen … was diese Zeit war. Die Jugendjahre sind, ohne dass ein Schriftsteller das anfangs weiß, sein wirkliches Kapital, nur dass man erst in späteren Jahren zu begreifen anfängt, was man … mit dem ersten Blick gesehen hat … den man vielleicht niemals oder nur manchmal wieder geschenkt bekommt.«¹
Es wird still. Wieder öffnet sich etwas – eine Tür? Ein Fenster? Etwas geht auf und ein großer weiter Satz stellt Unica Zürn vor.
Der Satz sagt:
Ich bin ein altes Kind.
²
SEHEN SIE MIR IN DIE AUGEN
Du denkst zurück an deinen ersten Blick beim Augenarzt. Seine Sehtests waren Holztafeln mit Zahlen und Dias von Tieren. Besonders gefreut hast du dich, wenn er die Dias von den Pferden eingelegt hat. Eine Szene, die sich einmal pro Jahr eine Kindheit lang wiederholt hat:
CLICK!
»Was siehst du?«
»Ein Pferd.«
Später, viel später hat dir deine Mutter erzählt, dass es das Pferd nie gegeben hat. Dass das Vierbeinige ein Hund war, dass du unbedingt eine Brille gebraucht hättest mit den sieben Dioptrien, die du hast, und dass das ein höchst merkwürdiger Arzt war.
Dank dieses Arztes lebst du deine ersten sieben Jahre ein Wunder und eine unvorstellbar große Angst. Der Tannenbaum vor deinem Fenster ist deiner Ansicht nach ein Vampir in der schwarzen Nacht, aus den heiligen Bildern deiner Großmutter kommen keine Schafs- und Heilandskörper, sondern Totenköpfe und Teufelsfratzen. Aus dem Spiegel schaut dich das Gesicht einer Hundertjährigen an. Nie bist du ganz sicher, was vor dir steht, weißt dafür aber, dass es umso wichtiger ist, zu hören, diesen Stimmen zu folgen, die sagen:
»AUTO! ACHTUNG!«
PING!
³
Deinen Augen ist nicht über den Weg zu trauen. Dir geht der Blick ab. Du hast ein faules Auge, das sich ab und an rechts in eine Ecke wegrollt und dich in die Zweidimensionalität entlässt. Das Ablesen der Welt ist beständig verunsichert. Die Konturen sind nicht eingrenzbar: Ist es ein bekanntes Gesicht, dieser Fleck, aus dem die Farbe läuft? Wo ist das Zentrum dieses Fleckes da? Ein Gesicht als Ganzes zu sehen wurde zusehends unmöglich. Das Einzige, das du scharf bekommst, aus nächster Nähe: ein Auge.
Nach dem ersten, zögernden »Schwimmen« der Feder über dem weißen Papier entdeckt sie den Ort für das erste Auge. Erst wenn »man« sie von dem Papier her anblickt, beginnt sie sich zu orientieren, und mühelos fügt sich ein Motiv zum anderen. So zeichnet sie die »Familie«, die sie